9. November 2014 - Dom zu Schleswig

9. November 2014 - Festgottesdienst zu 25 Jahre Mauerfall

07. November 2014 von Andreas von Maltzahn

Predigt zu 2.Tim 1,6ff

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herr Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

der 9. November ist ein Tag, der zeigt, wozu Menschen fähig sind:

-         9. November 1918: Ausrufung der Republik

-         9. November 1938: Pogromnacht

-         9. November 1989: das Ende der Mauer.

Alles andere als ein triumphales Datum, sondern ein Tag, der zeigt, wozu wir fähig sind – zum Guten, wie zum Furchtbaren.

In den letzten Wochen gab es viele Veranstaltungen und Sendungen, die an die friedliche Revolution vor 25 Jahren erinnerten. Manchen war das schon zu viel. In der Tat, manches wirkte schon ritualisiert. Und ich frage mich: Wie kann das Erinnern lebendig bleiben und wahr und so, dass es uns orientiert und stärkt auf unserem Weg in die Zeit?

Vielleicht hilft uns da der Predigttext – zwei Verse aus dem 2.Timotheusbrief. Der Verfasser erinnert Timotheus zunächst an den Glauben seiner Mutter und seiner Großmutter, um dann fortzufahren:

„Aus diesem Grund erinnere ich dich daran, dass du erweckst die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände. Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2.Tim 1,6f)

Wenn ich Pfingsten für mich buchstabiere, ist dieser Text mein wichtigster Zugang. Nicht die Begeisterungstexte, sondern dieser norddeutsch-nüchtern anmutende Satz lässt mich Pfingsten als ein Geschehen verstehen, an dem auch ich teilhabe: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Und dazu diese verheißungsvolle Aufgabe: „…dass du erweckst die Gabe Gottes, die in dir ist“ das bringt für mich zum Klingen, was sich vor einem Vierteljahrhundert ereignet hat: Menschen, die geübt und niedergehalten waren in Anpassung – diese Menschen entdecken etwas in sich. Sie richten sich auf und leben den Traum der Befreiung. Die einen füllen westliche Botschaften, die anderen die Kirchen. In einem Land, in dem alles „seinen sozialistischen Gang ging“, in dem das geflügelte Wort galt „Lieber zehn Fehler mitmachen, als einen allein“ – in diesem Land nahmen Menschen ihr Herz in beide Hände, übernahmen Verantwortung und zeigten der allmächtigen Partei: „Wir wollen nicht mehr so weiter leben!“ 

„Erwecke die Gabe Gottes in dir!“

Eine Zeit aufblühender Träume war das damals – zum Beispiel, einen dritten Weg entwickeln zu können jenseits der ausgetretenen Pfade von Sozialismus und Kapitalismus. Und es war eine Zeit der Hoffnung auf nicht weniger als die Verwandlung des Lebens.

Nein, ohne Angst waren wir nicht. Wir wussten nicht, wie alles ausgehen würde. Der Beifall der Politbürokraten für das Massaker auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ hallte in uns nach. Und so erinnere ich, als wäre es heute, mein Bangen am 9.Oktober um die Leipziger Demonstranten. Meine Schwester war unter ihnen. Betriebe in der Innenstadt hatten Order, ihre Angestellten früher nach Haus zu schicken. Kampfgruppen und Bereitschaftspolizei waren zusammengezogen worden. Gerüchte machten die Runde von Vorbereitungen in den Krankenhäusern, den erwarteten Strom der Verwundeten aufzunehmen. Welch eine Erleichterung, dann im Radio zu hören: 70.000 Menschen ziehen um den Ring, und alles ist friedlich!  Gott sei Dank! Was für eine Erfahrung: Der Geist der Bergpredigt war übergesprungen auf eine Bewegung, die sich selbst und anderen zurief: „Keine Gewalt!“ Die Furcht überwunden – durch den Geist der Besonnenheit!

Und dann fiel die Mauer. Ich entsinne den Morgen danach, im Radio die überglücklichen Menschen hüben wie drüben, Menschen, die sich zumindest für eine Nacht als Brüder und Schwestern erlebten. Meine Tränen flossen an diesem Morgen, denn mir war, als würde ein unsichtbares, bleiernes Kleid von mir genommen, eine Last, die ich oft nicht mehr bewusst wahrgenommen, aber ein Leben lang mitgeschleppt hatte. In der Erleichterung dieses Morgens spürte ich:

·        Es würde vorbei sein damit, dass Lehrer Kinder in der 2.Klasse aufstehen ließen, um sie wegen ihres Glaubens an Gott von den Mitschülern auslachen zu lassen.

·        Es würde ein Ende haben mit der Schizophrenie der Erziehung, dass Eltern ihren Kindern beibrachten: „Wir denken so, aber in der Schule musst du so und so sagen.“

·        Echte Wehrdienstverweigerung würde möglich werden und nicht länger mit zwei Jahren Knast bestraft.

·        Niemand würde mehr Angst haben müssen, als Flüchtling erschossen zu werden oder in jahrelanger Haft Schaden an Leib und Seele zu nehmen.

·        Es würde vorbei sein mit der Bespitzelung eines ganzen Volkes und dem Verbiegen von Menschen.

Was für eine Erleichterung, das bleierne Kleid der Unfreiheit nicht mehr tragen zu müssen!

Dafür werde ich mein Leben lang dankbar sein – für die Bewahrungen, aber auch für die Erfahrung: Die Verhältnisse müssen nicht bleiben, wie sie sind! Veränderungen – scheinbar aussichtslos – sind möglich! Das gilt, auch wenn Enttäuschungen nicht ausgeblieben sind. Damit meine ich nicht die ‚blühenden Landschaften‘, sondern das Unvollendete dieser Revolution und auch die Enttäuschungen über uns selbst. Reiner Kunze hat das 1992(?) in seinem Gedicht „Die Mauer“ so formuliert:

„Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht,

wie hoch sie ist

in uns

wir hatten uns gewöhnt,

an ihren horizont

und die windstille

in ihrem schatten warfen

alle keinen schatten

Nun stehen wir entblößt

jeder Entschuldigung“

Ja, auch diese Wirklichkeit – beiderseits der Mauer! – gehört zur Erinnerung dieses Tages, auch wenn sich die Horizonte mittlerweile geweitet haben, wir sogar so viel Vertrauen zueinander fassten, eine gemeinsame Kirche zu gründen. Es bleibt eine Aufgabe, sich zu erzählen von dem Leben, das uns geprägt hat in so unterschiedlichen Verhältnissen, nicht zu meinen, wir kennten die anderen schon. Auch das eine Übung an der schönen Aufgabe, Gottes Gaben in uns zu entdecken – je für sich, aber auch miteinander!

Schwestern und Brüder, was aber heißt es, uns auf den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit angesichts der Herausforderungen unserer Zeit zu besinnen? Worin sehen wir überhaupt die Herausforderungen?

Neulich sagte mir ein Kommunalpolitiker, der durch die friedliche Revolution in Verantwortung gekommen war und sie bis heute in einer mecklenburgischen Kleinstadt wahrnimmt:

„Es bewegt sich nichts mehr. Wir verwalten den Status quo, oft genug auch den Mangel. Die Kirchen müssten mal wieder voll werden und den Geist der Veränderung anfachen.“

Das ist wohl so, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen Stillstand eingetreten ist. Angesichts einer sich rasant wandelnden Welt voller Konflikte sind viele ja auch heilfroh, wenn sich wenigstens bei uns nicht allzu viel ändert. So verständlich das auch ist – Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Dieser Geist steht uns bei in den wichtigen Veränderungen, die vor uns liegen:

-         Dazu zähle ich z. B. die Energiewende. Lassen wir uns dieses wichtige Projekt nicht aufweichen und kaputtmachen, denn von seinem Gelingen hängt so viel für das Klima ab – über Deutschland hinaus! Entdecken wir die Gabe Gottes, die in uns ist!

-         Ich bin überzeugt: Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit will uns auch zu einem anderen Umgang mit Flüchtlingen bewegen: Es ist in keiner Weise eine Lösung, Europa zur Festung auszubauen – mit Stacheldrahtzäunen und Grenzüberwachungsprogrammen! Als Mensch, der mehr als die Hälfte seines Lebens hinter einer Mauer verbracht hat, weiß ich: Die Sehnsucht nach einem lebenswerten Leben lässt sich durch Stacheldraht und Mauern nicht aufhalten. Verstärken wir darum unsere Anstrengungen für bessere Lebenschancen in Afrika und dem Nahen Osten! Öffnen wir legale Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa und auch in unser Land, damit nicht noch mehr Menschen auf der Flucht ihr Leben verlieren. Unsere Gesellschaft kann durch Einwanderung gewinnen.

-         Gottes Geist wappnet uns auch, den Radikalisierungen unserer Zeit zu begegnen. Simone Weil hat einmal gesagt:

„Die Entwurzelung ist bei weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft.

Wer entwurzelt ist, entwurzelt.

Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht.

Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele.“

Vieles, was sich heute an Radikalisierung vollzieht, verbunden mit unsäglicher Feindschaft und Aggressivität gegen Ausländer, gegen Menschen anderen Glaubens, leider auch nach wie vor gegen jüdische Menschen, ist auch eine Folge von Entwurzelung. Darum ist es gut, sich der eigenen Wurzeln zu vergewissern, den eigenen Glauben zu vertiefen – frei von allen Absolutheitsansprüchen. Denn wer gut verwurzelt ist, ist sich seiner selbst gewiss. Welch eine lohnende Aufgabe darum, auch Kindern und Heranwachsenden zu helfen, den festen Grund zu finden, in dem sie für ihr Leben tief verwurzelt sind!    

Entdecken wir Gottes Gaben in uns! Die Ereignisse vor 25 Jahren geben uns die Gewähr: Die Verhältnisse müssen nicht bleiben, wie sie sind! Was heute schwer bis unmöglich erscheint – es kann Wirklichkeit werden!

Amen.

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