Allein der Inhalt zählt
18. August 2013
Gottesdienst im Rahmen der Visitation des Kirchenkreises Altholstein; Predigt zu Mk 8, 22-26 Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten Jesus, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas? Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte. Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch!
Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht bei Markus im 8. Kapitel, Verse 22-26:
Und sie kamen nach Betsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten Jesus, dass er ihn anrühre. Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas? Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte. Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!
Liebe Schwestern und Brüder,
kann jeder sehen, der sehen kann? Was macht sehende Augen blind und blinde Augen sehend?
Wir sind Augentiere. Das Sehen bestimmt unser Leben, unser Welt-Bild, unsere Welt-Anschauung. Und doch wissen wir: die Sehkraft allein tut‘s nicht. Es braucht noch anderes, damit wir sehenden Auges durch die Welt gehen und nicht blind sind für das Wesentliche.
Das Neue Testament erzählt oft von Blinden, die durch die Begegnung mit Christus zu sehenden Menschen werden. Wodurch geschieht das?
In der Regel sind es schlichte Gesten. Christus wendet sich zu, er hört zu und weist Bitten nicht zurück. Er spricht mit ihnen, nimmt sie bei der Hand und scheut nicht vor der Berührung der erloschenen Augen zurück. Und das verändert. Das hilft.
Auch der Blinde aus Betsaida erlebt dies. Zunächst sucht Jesus mit ihm Abstand von der Menge, draußen vor dem Dorf, um die notwenige Ruhe zu finden. Wie ein Vater oder eine Mutter, die einen Kinderschmerz wegzaubern, nimmt Christus etwas Spucke, streicht zart über seine Augenlider wo der Schmerz seines Lebens liegt. Und er fragt ihn teilnehmend: "Siehst Du etwas?" Und der antwortet: „Ich sehe die Menschen als sähe ich Bäume umhergehen.“ Das Sehen und Verstehen braucht offenbar Zeit und so wiederholt er diese Geste, weil es nur „besser“, aber noch nicht „gut“ geht. Und dann ist das Wunder da. Das Licht des Lebens und der Welt strömt ein, der Horizont reißt auf, überwältigende Klarheit – sagen wir getrost: die Erleuchtung in Herz und Sinn ist da.
Ich bin überzeugt: Dieser Blinde aus Betsaida erlebt etwas, zu dem auch wir Sehende bestimmt sind. Oft genug laufen wir wie blind durchs Leben, gefangen in unseren Ängsten, begrenzt durch unsere engen Sichtweisen und blind für das Wesentliche. Aber wer Christus begegnet, wer von ihm und seinem Wort berührt und ergriffen wird – und das gilt potentiell für jede und jeden von uns, meine Schwestern und meine Brüder und Kinder des Höchsten – wer sich davon berühren lässt, dem geht eine neue Welt auf. Dann sehen wir besser, deutlicher, genauer, worauf es ankommt und worauf nicht.
Das ist ein Wunder – auch wenn es nicht immer so dramatisch daherkommt wie in Betsaida. Manchmal ist es eine stille Klärung vor dem inneren Auge, wenn mir ein Bibelwort einleuchtet, eine Predigt mich ergreift, eine Geste mich berührt. Aber wer diese Erfahrung gemacht hat – der geht verwandelt durchs Leben und staunt und freut sich wie der Blinde in Betsaida. „Ich sah die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Jetzt erkenne ich sie deutlich und sehe klar.“
Liebe Schwestern und Brüder, was macht sehende Augen blind und blinde Augen sehend?
Die Botschaft des Evangeliums ist eindeutig: Christus ist der Augenöffner. Wer mit dem inneren Menschen sich von ihm berühren und ergreifen lässt, dem geht die wirkliche Welt auf. Der Zauber der Oberflächen und des Oberflächlichen verfliegt, aus dem Nebel der verschwommenen Meinungen und Ansichten tritt das Eigentliche hervor. Plötzlich wird sonnenklar, was wir im Grunde unseres Herzens blind und dunkel ahnen: Dass nicht Verpackung zählt, sondern Inhalt. Dass nicht die Außenseite entscheidet, sondern der innere Wert. Das nicht Mehrheit zählt, sondern Wahrheit. Nicht das, was einer hat, sondern wer einer ist. Ein Kind des Höchsten, angesehen und unendlich wichtig.
Wir Sehende können kaum nachvollziehen, was es bedeutet, ohne Augenlicht zu leben. Für jemanden, der sich von Christus hat anrühren lasen, ist ein Leben ohne diese Erfahrung ebenso unbegreiflich. Aber was, wenn nicht die Trägheit des Herzens, steht dem im Weg und hindert uns, unser Herz für sein Wort zu öffnen?
Eine Woche lang, liebe Schwestern und Brüder, durfte ich bereits in Ihrem großen und schönen Kirchenkreis Altholstein unterwegs sein: zwischen Pries/Friedrichsort in Kiel und Neumünster und Henstedt-Rhen. Und in den kommenden drei Tagen werde ich meine Besuche noch fortsetzen. Ich konnte und durfte viel sehen und hören. Unzählige Eindrücke, Erlebnisse, Gespräche klingen nach: Gespräch mit denen, die sich in den Leitungsgremien engagieren, davon viele ehrenamtlich. Mit Kirchenmusikern und dem Konvent der Pastorinnen und Pastoren. Mit Landwirten in Kisdorf, mit Muslimen hier in Kiel angesichts des Endes des Fastenmonats. Mit denen, die in den Diensten und Werken, diesen besonderen Gemeinden des Kirchenkreises, Verantwortung tragen (z. B. in der Jugendarbeit, in den Kindertagesstätten, im Frauenwerk). Mit denen, die sich in Neumünster am runden Tisch für Demokratie und Toleranz engagieren und mit Bürgermeistern und Oberbürgermeistern.
Ich bin dankbar für diese Erfahrungen. Visitationen sind auch ganz wichtige „Augenöffner“. Sie gehören für mich zu den schönsten Aufgaben in dem „Besucheamt“, wie Martin Luther das Bischofsamt definiert hat.
Wann machen wir das sonst? Nicht auf Abstand bleiben. Sondern hinfahren, hingehen, nah herangehen, zuhören, das Gespräch suchen, die Augen und Ohren und das Gedächtnis weit aufmachen? Von dem erzählen, was uns bewegt und trägt und von unseren Fragen. Und manchmal lernen sich die Besuchten im Erzählen neu sehen.
Ich danke Gott, dass ich hören und sehen durfte, wie viel Leben da ist in Ihrem Kirchenkreis. Wie viele engagierte Herzen und wie viele wache Köpfe sich einbringen in die Kirche Jesu Christi.
Ich bin dankbar für viele gute Begegnungen und für die herzliche Gastfreundschaft, die ich erfahren durfte.
Dies geschah auch in den drei Gemeinden, die ich bespielhaft kennenlernen konnte: in Pries/Friedrichsort in einem engen Netzwerk mit vielen Initiativen und Einrichtungen im Stadtteil; in der Bonhoeffergemeinde in Neumünster, die vor allem durch ein Café ein offenes Haus für Flüchtlinge und Asylbewerber bietet, die zentral gegenüber untergebracht werden, bevor sie im Land verteilt werden. Und in Henstedt-Rhen eine Gemeinde, die bewusst missionarisch arbeitet durch mehrere Gottesdienstformen, Glaubenskurse und ein reiches Gemeindeleben.
Ich freue mich, so viele Menschen getroffen zu haben, die sich einbringen mit ihrer Fantasie, ihren Fragen und ihrer Tatkraft. Das ist ein ungeheurer Reichtum, ein ganz großer Schatz. Der Kirchenkreis Altholstein mit seinen Menschen und Gemeinden, so habe ich es erlebt, ist ein wacher, aufgeweckter Kirchenkreis, der nicht blind ist für die Aufgaben der Gegenwart und sie mutig in Angriff nimmt.
Visitationen sind in meinen Augen unverzichtbar. Warum? Zunächst geht es wie bei jedem Besuch um Begegnung und gelebte Gemeinschaft. Um ein bewusstes Zuhören und Hinschauen, um das, was uns wichtig ist und motiviert und das, was schwer ist. Wir müssen uns immer wieder die Augen öffnen lassen füreinander. Gerade weil der Kirchenkreis so groß geworden ist und auch unsere Landeskirche als Nordkirche.
Zum anderen: Geistliche Leitung geschieht in der Kirche der Reformation durch das Wort und das „Besucheamt“. Sine vi, sed verbo, wie es im Augsburgischen Bekenntnis heißt. Das gilt in der Gemeinde, im Kirchenkreis, im Sprengel und in der Gesamtkirche. Geistliche Leitung besteht in der Verkündigung des Evangeliums und im Dialog – in den Kirchenvorständen, den Synoden und nicht zuletzt auch in der Begegnung und im Gespräch bei Visitationen.
Der Blinde von Betsaida kommt leer zu Christus, mit leeren Händen und leerem Blick, vielleicht könnte man sagen ausgebrannt. Es reicht nicht, dass Christus einmal seine Augen berührt. Geduldig wiederholt er ein zweites Mal seine Bewegung. Dann erst kann gesagt werden: Da sah der Blinde deutlich und wurde wieder zurechtgebracht.
Dass die Heilung schrittweise erfolgt, ist für mich ein Hinweis darauf, dass auch der Glaube schrittweise gelernt wird. Was das Leben, das Sterben und Auferstehen Jesu betrifft ist es ein längerer Weg, dass uns die Augen geöffnet werden. Vielleicht war unsere Taufe ein erster wichtiger Schritt, eine Begegnung mit der Zusage Jesu: Ich bin bei Dir, was immer kommen mag. Aber dann braucht es weitere Schritte, dass wir mit Gott groß werden: vielleicht im Alltag der Familie beim Beten vor dem Einschlafen, in der Kindertagesstätte, im Religionsunterricht. Es braucht Erwachsene, die vom Glauben erzählen und die Erfahrung, dass der Glaube Menschen zusammenführt wie uns heute Morgen hier in St. Nikolai und dass aus dem, was wir nach und nach verstehen, Taten folgen: Für viele ehrenamtlich, für manche hauptamtlich. Für mich ist es immer bewegend, wenn in einem Kirchengemeinderat, in einer Initiative deutlich wird, warum Menschen sich engagieren. Denn das hat oft damit zu tun, dass ein Wort Jesu eine besondere Bedeutung bekommen hat.
Wie ich es auch in dieser Gemeinde erlebt habe: Wir wollen, dass diese Nikolai-Kirche über alle Tage ein Ort des Gebets, des Lobes Gottes, der Begegnung und der Gastfreundschaft ist – und das für alle Menschen: Die hier wohnen oder kein Obdach haben, die hier ein Stück Heimat finden oder auf der Durchreise sind.
Ja, wir sind Gottes Mitarbeiter und bauen mit an seinem unsichtbaren Reich. Das ist Freude und Aufgabe. Dabei sind wir Gefäße für seine Initiative, für sein Wort und seinen Geist. Wenn wir davon weitergeben dürfen, dann nur deshalb, weil wir zuvor davon empfangen haben. Wir selbst sind es nicht, die Kirche und Welt aus Blindheit und Dunkel herausführen. Er selbst tut es, wenn er uns die Augen öffnet und einen Platz zuweist.
Darauf dürfen wir uns verlassen und dann gelassen, frei und mutig ans Werk gehen.
Mein Besuch in Ihrem Kirchenkreis, liebe Schwestern und Brüder,
neigt sich dem Ende zu. Nun brauche ich auch etwas Abstand, um all die Eindrücke besser sortieren zu können. Was lasse ich Ihnen zurück? Diese Sätze aus dem Evangelium, mehr nicht und weniger nicht:
Der Blinde sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen. Da legte Christus abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht.
Amen.