„Alsterdorf - Evangelische Stiftung in einer multireligiösen Metropole“
07. Februar 2012
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist mir eine Freude, den heutigen Tag bei der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zu Gast zu sein. So waren wir vorhin ab 13.00 Uhr in der Heilandskirche zusammen, um einen Fachtag für ihre Mitarbeitenden und für Menschen im Stadtteil zu bestreiten. Das Thema hieß: „Lebensgeister – die Rolle von Spiritualität und Religion im Quartier“. Es ging lebendig zu, ich habe eine Menge gehört und gelernt und das alles hat mich bestärkt in der Meinung, dass wir auch hier als Kirche vor Ort groß von Kirche reden sollen: Pointiert also bezeugen in Wort und Tat die gute Botschaft von Jesus Christus! Allein an den Herrn der Kirche gebunden, sind wir frei, uns allen hier lebenden Menschen, all´ ihren Sehnsüchten, Hoffnungen und Problemen zuzuwenden – mit allen gemeinsam das anzupacken, was es anzupacken gilt, um ein gutes und friedliches Miteinander im Quartier zu gestalten. Was ich heute über die Bürger-Plattform in Hamburg-Hamm gehört habe und über das Engagement der Religionsgemeinschaften darin, bestärkt mich in der Überzeugung: wir tragen für das Miteinander der Verschiedenen eine herausragende Verantwortung, gerade als Christenmenschen, die als „Gemeinschaft in versöhnter Verschiedenheit“ unterwegs ist, tun wir das! Mit diesem Begriff hat schon die Lutherische Weltversammlung 1977 in Dar-es-Salam die Kirche weltweit bezeichnet.
Die Kirche, hier vor Ort lebende und arbeitende Christenmenschen, können und sollen auch hier sein eine mutige, offene und gesprächsfähige Schar von Menschen, die wissen, dass sie Bewohner sind einer unverwechselbaren „Provinz der Weltchristenheit“ – wie der Theologe Erst Lange das schon in den 70iger Jahren genannte hat. „Die Kirche der Zukunft wird eine ökumenische Kirche sein, oder sie wird gar nicht Kirche sein“, hatte Ernst Lange uns schon damals ins Stammbuch geschrieben. Recht hat er – und Ökumene bedeutet hier natürlich weit mehr als die Überwindung von Grenzen zwischen christlichen Konfessionen; sondern „Ökumene“ bedeutet: selbstbewusst und der eigenen Herkunft und Geschichte gewiss, sich zuwenden dem Anderen, dem Fremden, der zum Glück (!) anders ist als ich selbst. Eine Hamburger Stadtentwicklerin hat uns Kirchen einmal ins Stammbuch geschrieben: ihr seid die einzige Institution, die es in ihrem Auftrag hat, zu integrieren, zu inkludieren, Milieus miteinander ins Gespräch zu bringen, Räume zu öffnen für die Begegnung der Verschiedenen, Milieugrenzen zu überschreiten.
Und, in der Tat: Jesus selbst tut nichts anderes als dies. Das Neue Testament ist voller Integrations- und Inklusionsgeschichten; voller Geschichten, in denen Milieugrenzen aberwitzig überschritten und durchbrochen werden; Geschichten von Grenzüberschreitungen und Zaunüberstiegen: die Geschichte vom Zöllner Zachäus ist so eine Geschichte, die von der Ehebrecherin, die von der Begegnung Jesu mit der Blutflüssigen am Brunnen; die Begegnung des Samariters mit dem unter die Räuber Gefallenen; da sind Geschichten erzählt, wie Jesus zu Tische sitzt mit denen, die niemand in der Nähe haben will: mit Sündern und Zöllnern, Verrätern und Zwielichtigen.
Aber: Sinusstudien und Mitgliedererhebungen der EKD schreiben uns Kirchen noch etwas anderes ins Stammbuch: dass es uns nämlich nicht gelingt, unsere Milieus zu durchbrechen; dass es nicht ausreichend gelingt, zu integrieren; dass wir, mit anderen Worten, unseren Auftrag nicht oder nicht gut genug erfüllen. Da ist viel zu tun, bei uns selbst, da ist viel zu profilieren, zu vergewissern.
Die neue Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland immerhin hat eine Arbeitsstelle gegründet, die genau dies zum Ziel hat: Menschen zu erreichen und zu verstehen, sprachfähig selber zu werden für die, die ohne Konfession sind, ohne Glauben und Kirche aufgewachsen sind, in ganz anderen Milieus leben. Immerhin: ein Anfang, immerhin eine Erkenntnis der Bedürftigkeit bei uns!
Wenn ich das tue, dann werde ich ganz gewiss schnell merken, dass diese Vielfalt der Kulturen ein Reichtum ist und eben keine zu überwindende Schwäche. Und ich werde schnell merken, dass das dialogische Ringen um ein gutes Zusammenleben vor Ort nicht gehen wird, wenn wir die Religion der Menschen ausklammern und als angebliche Privatsache in die jeweils eigenen vier Wände einsperren. Im Gegenteil, jede mir bekannte Religion von Rang, jede Weltreligion, ist eine öffentliche Angelegenheit, weil Religion immer auch auf Erkennbarkeit und öffentlichen Ritus drängt.
Kurz: Religion kann man nicht nur irgendwie fühlen in seinem Inneren, sondern Religion ist immer auch zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken. Religion ist höchst emotional – sie ist gar explosiv! Gewiss, Religion trägt in sich Gewaltpotential – aber ebenso stark trägt sie in sich Friedenspotential! Davon gilt es zu reden. Religion als Kraft zum Schalom – als power für Frieden und Gerechtigkeit! Religion ist nicht nur Sinn – sondern Religion ist auch voll von Sinnlichkeit. Ein religiöser Mensch ist ganz bei Trost – und er ist fromm und frei mit allen Sinnen!
II
Damit, meine Damen und Herren, bin ich beim Thema: „Alsterdorf - Evangelische Stiftung in einer multireligiösen Metropole“. Das klingt fast wie ein Widerspruch, wie ein überlebtes Überbleibsel ferner Kultur, wie ein Fremdkörper. Und das sind wir als Gemeinschaft der Heiligen ja auch, sollen es auch sein! Zumal in einer gottvergessenen Welt und Gesellschaft: störendes, aufstörendes Element sind wir, wenn wir wirklich bei unserer Sache sind! Nicht inkludiert, störend anders, erkennbar quer. Das tut dieser Gesellschaft gut und das hat sie nötig! Das ist fast unser Auftrag: aus der Zeit zu fallen!
Denn auch die Evangelische Stiftung Alsterdorf könnte sich ja verstehen als so eine beschriebene „Provinz der Weltchristenheit“. Sie ist dann tatsächlich ein unverzichtbarer Teil einer erkennbaren Kirche in einer weltoffenen Stadt. Sie ist dann Kirche als Diakonie, also mit Kronenkreuz und allem drum und dran – an Schönem und an Beschwerlichem. Sie ist diakonische Kirche – also: lebensdienliche Kirche – in der Spannung von Kunst und Kommerz, will ich ruhig sagen. Sie ist dann ein kirchliches, diakonisches Unternehmen, das weiß um die Spannung zwischen unserem diakonischen Auftrag und allen ökonomischen Notwendigkeiten, die eben auch zur Realität der Welt gehören. Und da gilt es dann, diese „wirtschaftlichen Zwänge“ nicht als unabänderlich gegeben hinzunehmen, sondern sie vielmehr sinnvoll zu gestalten. Und es gilt ebenso, diese Zwänge nicht zu übertünchen durch im schlechten Sinne „frömmlerisches Gerede“, als sei ein Unternehmen unter dem Dach der Diakonie als solches schon ein gutes oder gar besseres Unternehmen als andere auf dem Markt.
Natürlich haben solche Einrichtungen wie die Ev. Stiftung Alsterdorf ihre hohe Bedeutung für die Gesellschaft – nicht nur und zuerst wegen des hohen Standards im Engagement für die Daseinsfürsorge der Menschen hier und seit neuestem übrigens auch in einer Art joint venture in Schleswig. Vor allem zeugt diese Einrichtung davon, dass es eine Geisteshaltung gibt, die das Engagement für die Gesellschaft und für die Stadt fordert und zur Grundlage hat – aus dem Glauben heraus an den, der uns sendet zu den Schwachen und Armseligen, dessen Kraft in den Schwachen mächtig ist, wie die Jahreslosung den Apostel Paulus zitiert. Für mich ist diese Stiftung zunächst einmal eine Gemeinschaft von Menschen, eine Gemeinde, kann man auch sagen. Von Menschen, die mit ihrem Engagement auch Zeugnis ablegen ihrer Überzeugung und ihres Glaubens, der eben nicht für sich bleibt, sondern in die Verantwortung treibt. Zeugnis des Glaubens an den, der sich den Elenden zuwendet, der herunter gekommen ist zu den Armseligsten und der sich nicht zufrieden gibt mit dem, was schon immer so war. Die Ev. Stiftung Alsterdorf steht für eine Solidarität, für Teilhabe, für Integration und zeitgemäße Ökonomie zugleich, für ein Wirtschaften, das dem Menschen dient, wo es sonst häufig umgekehrt zu sein scheint. Dazu hat die ESA sich wunderbar entwickelt – wenn ich noch denke an die „Alsterdorfer Anstalten“ hinter dem hohen Zaun, der mich als Kind fasziniert hat. Und wenn ich jetzt sehe den offenen Marktplatz, das Miteinander von Gesunden und Assistenz-Bedürftigen!
Ich sprach von „erkennbarer Kirche in einer weltoffenen Stadt“: Was das bedeuten kann, darum bemüht sich in vorbildlicher Weise seit über 20 Jahren z. B. die Arbeitsstelle „Kirche und Stadt“, die am Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Hamburg angesiedelt ist, und deren Arbeit zu einem Teil finanziert wird von der Nordelbischen Kirche. Ich greife also bei meinen Überlegungen auch auf einige Ergebnisse zurück, die aus dieser mir sehr wichtig gewordenen Arbeit hervorgegangen sind (vgl. z. B. Hamburg als Chance der Kirche. Zur Zukunft der Großstadtkirche, Hamburg 1997).
III
Ich denke an ein Stadtbild aus Kinderhand: Kinder einer 6. Klasse in Hamburg-Eimsbüttel haben ein Plakat gegen Ausländerfeindlichkeit entworfen. Es zeigt ein großes grünes Rund, gesäumt von 34 Kindern, die sich an den Händen festhalten, Kinder aller Hautfarben, Jungen und Mädchen. In der Mitte des grünen Runds steht ein großer Fernsehturm. In seiner Nähe zwei weitere Gebäude mit Türmen. Eines davon ist eine Kirche. Sie sticht hervor durch ihre bunten schönen Fenster. Sie spiegeln die unterschiedlichen Hautfarben der Kinder. Das zweite Gebäude ist vermutlich eine Moschee, vielleicht aber auch eine Schule. Zwischen Kirche und Fernsehturm ist ein Karussell zu sehen und die großen Buchstaben „DOM“.
Dieses Bild, so meine ich, symbolisiert die Stadt Hamburg und die Hoffnungen der Kinder: Die Stadt ist eine grüne Stadt. Fernsehturm, Kirche und Moschee, aber auch die Schule und der „DOM“ stehen für ein buntes und mehrdimensionales Leben in dieser Stadt, und der äußere Kreis der sich an den Händen festhaltenden Kinder mag eine Botschaft sein: Wir gehören zusammen! Wir lassen niemanden aus unserem Kreis herausfallen!
Die Kirche im Bild dieser Schulkinder ist ein Gotteshaus für die Menschen, bunt, ein Ort des Unterstellens, Heimstatt, Asyl vielleicht.
Ich frage: Wäre es denkbar, dass mit Kinderaugen gesehen auch die ESA so eine Stadt in der Stadt ist oder aber sein will? Wie würden die Menschen, die in den Einrichtungen der ESA leben und arbeiten, handeln, wenn so ein Leitbild ihr Tun tatsächlich anleitet?
Die ESA als Haus, in dem Gott wohnt, gebaut für die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, gebaut aber auch für die Menschen, die hier arbeiten. Die ESA bunt wie das Leben selbst, als Ort des Unterstellens im weitesten Sinne, eine Heimstatt auf Zeit oder auch bis zum Lebensende, Asyl vielleicht für Menschen, die sonst nirgends ein Zuhause haben können oder dürfen? Und gar Vorbild für einen Sozialraum, wie diese Metropole ihn braucht – die Entwicklung schon dieses Ortes zeigt das doch: kein unüberwindlicher Zaun mehr, sondern Marktplatz: Inklusion erlebbar – ein entwickeltes Quartier!
Das ganze als „Evangelische Stiftung“ also – und zwar mitten in der Metropole Hamburg, in der die Welt ja nun tatsächlich zu Hause ist in aller Vielfalt, Buntheit und Fremdheit, multikulturell und multireligiös zugleich. Erkennbar – und weltoffen zugleich diese ESA. Und ist es nicht so, dass Sie alle mit Ihrer Arbeit, mit Ihrer Förderung und Hilfe verschiedenster Art, auf je eigene Weise schon dafür sorgen, dass ein Vorschein dieser Hoffnung, ein Aspekt dieses Leitbildes, schon tatsächlich in den Häusern und Einrichtungen der ESA spürbare und erlebbare Wirklichkeit ist? Dafür jedenfalls sage ich Dank und drücke meinen Respekt aus – vor einer Haltung, die die Welt nicht nur mit den eigenen Augen wahrnimmt, sondern mit den Augen der anderen, der Fremden, der Schwachen, der Armen wahrzunehmen sucht.
IV
Ich nenne ein paar Stichworte:
1. Profilierung des Besonderen statt Standardisierung: Was ist das besondere Profil der ESA? Historisch gewachsen – und immer wieder neu auf die speziellen Bedürfnisse der Gegenwart „angepasst“? Welche diakonischen Arbeitsbereiche haben sich neu herausgebildet? Wo liegen „Bedarfe“, weil die Gesellschaft sich verändert? Ich weise nur hin auf den demografischen Wandel in unserem Land: Wir werden bunter; wir werden älter; wir leben mit weniger Kindern… Erkennbar „evangelisch“ kann die ESA sich profilieren, nicht konfessionalistisch eng, sondern ökumenisch weit aus der Bindung an das Evangelium gleichsam „überfließend“. Denn die Vielfalt der Formen ist eine Stärke des Protestantismus – nicht eine zu überwindende Schwäche!
2. Innerhalb der Stadt sich einbringen, um das soziale Klima in der Stadt wohnlich zu halten – um den „Stadtgeist“ zu kultivieren. Aus dem sozialen Versorgungsnetz der Stadt Hamburg ist doch die Diakonie, und in ihr die ESA, gar nicht wegzudenken. Dabei wird für eine „evangelische Diakonie“ die entscheidende Aufgabe auch weiterhin die sein, dass wir mit dafür sorgen, dass niemand aus dem Kreis herausgestoßen wird, weil die andern ihn nicht haben wollen. Oder auch, dass niemand aus dem Kreis herausfällt, weil er zu schwach ist, um von sich aus aufrecht und mit ausgestreckten Händen neben den anderen im Kreis stehen zu können. Es geht dabei auch um das, was man „Toleranz“ nennt, übersetzt „Duldung“. Den anderen dulden, aushalten. Klar. „Wir sind tolerant“. Das klingt oft nach Selbstgerechtigkeit, Selbstgenügsamkeit. Natürlich geht es auch um Grenzen, die jeder von uns hat und braucht; geht es um die Wahrheit, die wir erkannt haben und bekennen. Und ohne die ich mich nicht öffnen kann dem anderen, dem Fremden. Inklusion heißt nicht: gleich machen alle. Sondern: Raum erkennen und schaffen für die Verschiedenen, die Fremden. Aber es gibt noch eine andere Seite der Toleranz: sie ist eine Haltung, die rechnet mit der Ergänzungsbedürftigkeit, rechnet mit der eigenen Unfertigkeit; sie rechnet damit, dass in dem Anderen, dem Fremden, die eigene notwendige Ergänzung zu finden sein könnte. Solche Toleranz rechnet damit, dass Gottes Spielräume allemal größer sind als meine Möglichkeiten zu denken und zu handeln. Dazu gehört auch dies: wir haben uns sehr gut darin trainiert (auch in der Kirche), einander und unsere Umgebung danach zu beurteilen, was alles fehlt, was besser sein könnte, was wir nicht gesagt, getan, gekonnt haben. Wir beurteilen uns und andere gern nach den Defizit-Befunden! Toleranz aber führt in eine andere Haltung: sie fragt nach dem, was gelingt, was ist, was gesagt, gefragt, gekonnt ist; fragt nicht zuerst nach dem, was uns trennt, sondern benennt, was uns gemeinsam ist oder werden könnte. Dann, liebe Schwestern und Brüder, wenn wir so herangehen an unser Leben und unser Quartier, werden wir einen guten, konstruktiven Umgang finden mit dem, was noch nicht so gut, verbesserungsfähig sein könnte.
3. Vermittlung der Vielfalt. Die multinationale, multikulturelle und multireligiöse Stadt ist Realität in Hamburg. Die Anderen, die Fremden haben nicht nur angeklopft am Tor zur Welt – nein, inzwischen leben viele von ihnen dauerhaft hier, sind in der zweiten und dritten Generation Mitbewohner, Hausgenossen, mit festen Wurzeln in ihrer Heimatstadt Hamburg. Da gibt es natürlich nicht nur den vermeintlichen Chic von „Multikulti“, da gibt es auch handfeste Interessensgegensätze und Verteilungskämpfe um politische Partizipation und Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern wie Bildung etwa. Aber: Eine Stadt lebt davon, dass es in ihr nicht nur Machtstrukturen und Konfrontation von Interessen gibt, die äußerlich die Ordnung herstellen oder bewahren, sondern dass es in ihr auch Gruppen und Mentalitäten übergreifende Dolmetscher gibt, die Brücken bauen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten, Sprachen, Kulturen und Religionen. Die Kirche kann natürlich nur in Teilen diese Dolmetscheraufgabe übernehmen – aber sie kann sehr wohl in einem hohen Grade Leute zusammenbringen etwa um „Runde Tische“, an denen ortsnah, konkret und lösungsorientiert die Probleme des Quartiers angepackt werden. Eine offene Kirche in einer weltoffenen Stadt kann ganz elementar Stadtteilarbeit im Sinne von Nachbarschaftshilfe fördern. Bei aller drohenden Spaltung innerhalb einer Stadtbevölkerung wird das immer dringlicher: Je mehr die Einzelnen die Mauern zwischen den Häusern erhöhen und die Türschlösser doppelt sichern, desto mehr werden ganz einfache Formen des nachbarschaftlichen Umgangs nötig sein – und ersehnt. Ich kann nur fragen, ob da für die ESA nicht auch noch die eine oder andere Aufgabe gleichsam vor der Haustür liegt?
V
Ich will etwas sagen zur Rolle der Religion in der Zivilgesellschaft. Dazu nehme ich eine Anleihe auf bei meinem bayerischen Kollegen Landesbischof Prof. Dr. Bedford-Strohm, bei dem ich einige der folgenden Gedanken in Übereinstimmung mit meinen eigenen finde.Religion ist eben nicht Privates. Sie ist öffentliche Haltung. Es gibt keine unpolitische Theologie; z. B. Als Vorbilder werden wir gebraucht – angesichts aller Pluralität will man doch wissen, was uns ausmacht, trägt und prägt. Die Zivilgesellschaft braucht die Religion und die Religionen, meine ich, sehr dringend.
Die Kirchen haben nicht nur längst ihre skeptische Haltung gegenüber der Demokratie überwunden, sie sind zu treibenden Kräften einer beständigen Fortentwicklung von Demokratie und Zivilgesellschaft geworden. Sie mischen sich in die öffentlichen Debatten ein und melden sich in den öffentlich diskutierten Themen zu Wort, hinter denen in ihren Tiefendimensionen Fragen ethischer Grundorientierung stehen. So ist z. B. das Wort zur sozialen Lage der Gesellschaft entstanden von Protestanten und Katholiken gemeinsam.
Ich habe selten zu einem Thema so viele Anfragen von außerhalb der Kirche erhalten, wie zur Frage der Wirtschaftsethik. Hier ist Kirche gefragt als Werte-Bewahrerin. Hier wird Orientierung vermutet und erwartet. Dieser Erwartung sollten wir nachkommen – in Vorträgen und, vor allem, mit dem eigenen, selbst verantworteten ökonomischen Handeln!
Ein anderes Thema ist das Gebot des Schutzes der Schwachen – die „biblische Option für die Armen“ - mahnt zur Einfühlung in den Anderen mit dem Hinweis auf die historische Erfahrung des Volkes Israel als Traditionsgemeinschaft, die ihrer eigenen Unterdrückung gedenkt. Eine Gesellschaft ist immer nur so stark, wie sie sich stark macht für die Schwachen!
„Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid“ (Ex 23,9). Dass Fremde mit Achtung und Respekt behandelt werden sollen, gewinnt seine Plausibilität durch die Einsehbarkeit und die Einfühlbarkeit ihrer besonderen Situation der Verletzlichkeit.
Für diese innere Aneignung sind religiöse Traditionen nach wie vor von zentraler Bedeutung. Deswegen behaupte ich: Weil der Zusammenhang zwischen äußeren Werten oder Geboten und innerer Aneignung so entscheidend für eine Gesellschaft ist, deswegen braucht die Zivilgesellschaft die Kirche. Und wo andere Religionsgemeinschaften von ihren Quellen her einen ähnlichen Zusammenhang aufweisen, gilt das auch für sie.
Deswegen würde sich die Zivilgesellschaft einer ihrer wichtigsten Regenerationsquellen berauben, würde sie Religion ins Privatleben verbannen wollen. Und auch aus dem Selbstverständnis des Glaubens selbst heraus, kann das in keinem Falle eine Option sein. Frömmigkeit und gesellschaftliches und politisches Engagement gehören zusammen. Wo uns die Not anderer Menschen in Innersten berührt, da können wir gar nicht anders als auf allen Ebenen – einschließlich der politischen – mitzuhelfen, diese Not zu überwinden.
Darum darf diese klare Stimme nicht fehlen in eine multikulturellen, pluralen Gesellschaft und Stadt wie Hamburg z. B. Diese Wohnung wird gebraucht in dem Haus der Religionen und in dem „Haus, das die Träume verwaltet“, wie Fulbert Steffensky liebevoll die Kirche umschreibt. Und dies ist Grundlage allen Handelns und Redens, der Verkündigung in Wort und Tat also.
VI
Meine Damen und Herren, ich will auf einige Punkte eingehen, die mir von Prof. Haas genannt wurden als dringlich für die ESA in diesem Fragehorizont: Multikulturalität und Multireligiosität prägen Hamburg nicht nur im Allgemeinen, sondern immer stärker auch das unternehmerisches Handeln der Stiftung. Von den jetzt 6-18 Jährigen in HH stammen 60% aus Familien mit Migrationshintergrund, nur etwa 14% unserer SchülerInnen sind evangelisch getauft. Die ACK-Klausel für die Mitarbeiterschaft werde damit von einer ursprünglichen Öffnungsklausel zu einem möglichen Hindernis bei einer sinnvollen Personalgewinnung. Wie kann die Stiftung angemessen reagieren?
Wie kann es gelingen, dass wir um die Vielfalt der Religionen (und die Zahl der „religiös unmusikalischen“ Menschen, also der so genannten „Konfessionslosen“) wissen, und das auch positiv für die Unternehmensentwicklung zu nutzen suchen?
Prof. Haas schlägt vor, von Konfessionsbindung und Religionspluralismus als den Brennpunkten einer Ellipse zu sprechen, die wir gleichermaßen einbeziehen müssen. Wir müssten die Konfessionsbindung als einen Überzeugungskanon bestimmen und leben, der vor Beliebigkeit bewahrt, aber den Glauben anderer nicht nur toleriert, sondern ihn aktiv einzubeziehen erlaubt.
Ja, so kann es gut gehen, meiner Meinung nach, das liegt ganz auf der Linie dessen, was ich oben gesagt habe von der selbstbewussten evangelischen „Provinz“. Wie können wir der Vielfalt Raum geben, Sprachräume schaffen, ohne die Spannungen und Differenzen zu nivellieren?Wir sind als Kirche mit ihren Einrichtungen natürlich das, was man einen „Tendenzbetrieb“ nennt. Wir haben, wie die Stiftung selbst ja auch, klare Ziele. Wir haben ein unverwechselbares Fundament. Wir glauben, dass wir gesandt sind in die Welt, das Heil zu verkünden, wie es uns verheißen ist von Gott, dem Schöpfer und seinem Sohn Jesus Christus, dem Herrn der Kirche. In einer pluralen Gesellschaft dürfen klare Zielformulierungen und klare Bekenntnisse nicht verschwinden. Im Gegenteil: sie werden gebraucht. Vielfalt kann nur leben und sich entfalten auf der klaren Erkennbarkeit der Verschiedenen. Ich glaube, wenn es gelingt, wenn also Selbst-Bewusstsein der Kirche und ihrer Einrichtungen im Sinne des Wortes (sich seines Selbst bewusst sein) gefestigt ist; wenn klar ist, worauf wir gründen und bauen, dann kann auch so etwas wie die ACK-Klausel geöffnet werden hin zu neuer Realität; dann können wir nach innen und nach außen jenen Respekt leben, den der Herr seiner Kirche uns verheißt.
Ich möchte nicht missverstanden werden: zu dem Sinn der ACK-Klausel stehe ich sehr wohl: wer bei uns oder in unseren Einrichtungen bezahlter Arbeit nachgeht, muss sich positiv verhalten zu unseren Zielen, zu unserem Fundament. Aber die ACK-Klausur beschreibt eben nicht nur einen organisatorischen Pflichtkatalog, sondern eine innere Haltung ist gemeint! Taufe geschieht aufgrund eines Bekenntnisses, nicht aufgrund vertraglicher Vereinbarungen! „Was hindert’s, dass ich mich taufen lasse“, fragt der Äthiopier den Philippus, nachdem der ihn eingewiesen hatte in die Geschichte Gottes mit den Menschen. Darum muss es gehen also: dass wir Räume bereit stellen, Bildungs-Räume, in denen wir in einer Art „Mission nach innen“ erzählen von dem, was uns trägt und unverzichtbar ist, in denen wir handeln, wie Christenmenschen tun: weitergeben, was sie empfangen haben. Dann, in einer so geöffneten Organisation, werden jene Heimat finden auch innerlich, auch inhaltlich, auch geistlich, die bei uns Arbeit suchen und finden! Dann werden sie auch ja sagen können und wollen zur Organisation. Wir müssen das Gespräch über die ACK-Klausel eröffnen, weiten – selbst-bewusst!
Eine andere „Klausel“ scheint mir momentan wichtiger: das ist die der tariflichen Einbindung der Mitarbeitenden. In unserer Gesellschaft ist Bezahlung eine Ausdrucksform von Wertschätzung. Gute Arbeit erfordert gutes Geld. Wir haben hier ein Problem, das seine Ursache nicht zuerst bei uns und unseren Einrichtungen hat, sondern in der Unterfinanzierung der sozialen Dienste und Assistenzen begründet ist. Der ökonomische Druck lässt vielen Einrichtungen und Unternehmen keine Wahl: sie suchen nach Auswegen in Haustarife.
Wir müssen hier gegensteuern. Wir müssen das tun mit den Gewerkschaften zusammen – ehrlich und offen und im Sinne der Mitarbeitenden.
Es ist gegen unser Menschenbild, wenn wir nicht angemessen entlohnen! Wir müssen uns mit der Qualität unserer Arbeit nicht verstecken – sie ist ihr Geld wert! Auch dazu braucht es ein freies Bekenntnis.
Bekenntnis und Offenheit schließen sich nicht aus. Bekenntnis grenzt Freiheit nicht ein, sondern ist geradezu der Grund, auf dem Freiheit sich entwickeln kann. Freiheit gibt es nicht ohne Bindung. Freiheit gibt es auch nicht ohne Verantwortung. Martin Luther hat das wunderbar zusammen gebracht in seiner Flugschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“: Der Christenmensch ist ein freier Herr und niemand untertan; der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan“. Freiheit wächst aus dem Glauben, aus der Bindung also an Jesus Christus als Freiheit von den Mächten der Welt und als Freiheit zur Liebe an den Menschen. „Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott“ – sagt Martin Luther - „und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn so wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum sollen wir so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat, durch den Leib und seine Werke nichts anderes tun als dem Nächsten helfen.“
Luther spricht hier ein Element christlicher Ethik an, das für die Gesellschaftinsgesamt und ihre politische Kultur von zentraler Bedeutung ist.
Voraussetzung für plurales Handeln ist solche Vergewisserung, solche Erkennbarkeit, solche Motivation.
Multireligiosität setzt nicht zuerst ein gemeinsames Haus voraus, sondern die Erkennbarkeit und Kenntnis der unterschiedlichen Häuser und Wohnungen, der Geschichte und Geschichten. Multireligiosität fordert nicht den Verzicht auf die Betonung der Identitäten – im Gegenteil. Wir können heute konstatieren, dass nur wenige Menschen noch – auch von denen, die getauft sind – wissen, was der Glaube bedeutet. Es gibt eine erhebliche Zahl von religiösen Analphabeten. Manche sagen deshalb: die alten Geschichten kann man nicht mehr erzählen, die versteht keiner mehr. Ich komme angesichts der Situation zur gegenteiligen Konsequenz: gerade darum müssen wir erzählen, weitergeben, was wir empfangen haben, woraus wir schöpfen. Denn in den Geschichten steckt Lebenskraft, Orientierung. Und nur wer die eigenen Geschichten kennt, kann auch die Geschichten anderer hören und verstehen! Was wir brauchen ist eine Bildungsinitiative mit dem Ziel der Vergewisserung und Erkennbarkeit. Und da sind wir gefragt als Kirche, die wesentlich auch eine Bildungs-Institution ist. Eine Gemeinschaft, die davon lebt, dass sie erzählt von dem, was sie trägt und was die Welt tragen kann.
Hier liegt eine Stärke gerade der Ev. Stiftung Alsterdorf. Sie ist Teil einer Bildungsinitiative, eine Lerngemeinschaft. Damit meine ich nicht nur die Schulen, die die Stiftung trägt. Damit meine ich ihr Beispiel sozialen Handelns und auch ökonomischen Handelns in der Stadt.
Die Zivilgesellschaft braucht die Religionen. Die Zivilgesellschaft braucht Juden, Christen und Muslime, die die Schätze ihrer Religion in den demokratischen Diskurs einbringen und dabei zur Kraft des Friedens werden. Da, wo religiöse Orientierungen gleich welcher Herkunft Gewalt gebären und damit die Menschenwürde missachten, pervertieren sie die Rede von Gott. Denn Gott ist der Schöpfer der Welt und er will das Leben, nicht den Tod.
In Häusern der ESA werden Menschen gepflegt – wie kann da auf religiöse und kulturelle Eigenheiten von Gläubigen, die eben nicht Christen sind, eingegangen werden? Wie ist es mit der Sterbebegleitung und den Sterberitualen bei Menschen anderer Religionen? Wie ist es mit einer unterschiedlichen Gebetspraxis – etwa auch während eines Arbeitstages?
Ist, wenn wir das pflegen, die eigene Identität in Frage gestellt? Oder gehört zum nicht sichtbaren Teil der Gemeinschaft der Heiligen womöglich solche Offenheit dazu?
Professor Haas hat mir erzählt von der niederländischen Partnereinrichtung, die bereits eine religionsplurale spirituelle Praxis anbietet, in einem Gotteshaus, das auch für andere religiöse Symbole und Zeichen Raum lässt. Ist das auch ein Weg für uns? Nun, warum nicht, meine ich! Aber: Mit Bedacht und vor allem zusammen mit den betroffenen Menschen, mit denen dann so ein Raum zu gestalten und mit gottesdienstlichem Leben zu füllen wäre. Das hielte ich allemal für ein anzupackendes Integrationsprojekt. „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“, zitiert das Johannesevangelium die Weite des Glaubens, in die das Bekenntnis führt. In der bilateralen Ökumene zwischen Katholischer und Ev. Luth Kirche hat sich solches ja schon bewährt: es gibt Räume, die den Unterschieden Lebensraum geben. Aber das kann nur gehen, wenn Klarheit über die jeweils handelnden und bestimmenden Identitäten herrscht. Das kann nur gehen, wenn wir uns jeweils unseres Selbst bewusst und klar sind!
Also nur Mut!
Zur Warnung aber will ich nur daran erinnern, wie es auf dem Trainingsgelände des FC Bayern München vor einigen Jahren zuging, als Jürgen Klinsmann dort Cheftrainer wurde: Um für den sportlichen Erfolg alle verfügbaren spirituellen Ressourcen zu nutzen, wurde auf dem Gelände auch die eine oder andere Buddha-Figur aufgestellt. Der sportliche Erfolg aber ließ sich nicht herbeizwingen; er wanderte aus München aus in die Stadien anderer Bundesligavereine. Die Folge: Jürgen Klinsmann und seine Buddha-Figuren mussten gehen…
Zu lernen ist daraus, dass die Wahrheit der Religion auf einer anderen Ebene liegt als die Ideologie des Erfolgs im Sport oder in einem Unternehmen. Eine durchaus anzustoßende „religionsplurale spirituelle Praxis“ hätte also noch einmal tiefer oder auch höher anzusetzen. Um die Richtung anzudeuten, zitiere ich gerne zum Abschluss meinen Hamburger theologischen Lehrer Peter Cornehl: Die fundamentale Aufgabe der Christenheit und aller lebensdienlichen Religionen ist diese eine – nämlich erzählen und leben Bilder des Lebens – mitten hinein in eine bedrohte Welt.
Ein allumfassendes Bild des Lebens ist dieses: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein…“ Es findet sich im letzen Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes. Und wer weiß, ob nicht auch das Stadtbild der Hamburger Schüler inspiriert ist von diesem Bild des Lebens? Weil es solche Verheißungsbilder braucht in einer Stadt wie dieser, in unserer unerfüllten Welt, darum braucht es die Ev. Stiftung Alsterdorf mit ihren Menschen. Denn hier wird das Wort Fleisch immer neu!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.