Andacht im schleswig-holsteinischen Landtag
13. September 2010
Liebe Schwestern und Brüder, Ausgang und Eingang. Anfang und Ende. Gestern und Morgen. Ein schmaler Grat nur dazwischen. Ein kurzer Moment auf der Schwelle. Zwischen dem Gewohnten, das eben noch da war - und dem unbekannten Neuen, das nun kommen wird. Ich sehe den Psalmisten hoch oben auf dem Berg Zion, auf der höchsten Stelle der heiligen Stadt. Auf der Schwelle des Tempels steht er. Das Gotteshaus, dieser wunderbare Himmel auf Erde, die Fülle der Geborgenheit im Angesicht des Ewigen - das liegt jetzt hinter ihm. Es gibt kein Zurück. Das Tor hat sich hinter ihm geschlossen. Unwiderruflich geht sein Blick nach vorn. Hinab in die Stadt, hinab in das unbekannte, unheimliche Land vor ihm.
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?“ Was wird der Weg hinab in die Mühen und Niederungen des so irdischen Alltags in Stadt und Land bringen? Was wird er nehmen von der Himmelsluft, die ihn jetzt noch umgibt? Erwartungen und Zweifel, Hoffnung und Sorgen mischen sich in seiner Brust.
Übergänge, Schwellensituationen beanspruchen uns besonders. Denn einerseits möchten wir uns zuversichtlich auf den Weg durch den Tag machen. Einen Neuanfang wagen, eine neue Seite aufschlagen. Etwas mehr Himmel ergreifen schon hier auf Erden. Klarer werden, geduldiger, wahrhaftiger – und mehr Zeit finden für das, was wirklich zählt.
Doch gleichzeitig spüren wir Unsicherheiten: Manchmal fällt der erste Schritt besonders schwer. Was wird der nächste Schritt tatsächlich bringen? Ist es wirklich ein Schritt nach vorn? Oder doch nur der Beginn neuer Schwierigkeiten? Wird das Leben, auch das politische, nun besser, leichter? Oder lauern nur neue Schatten hinter dem Horizont? Bekommen wir festen Boden unter die Füße? Oder ist es ein glitschiger Schlick, der uns ausgleiten und einsinken lässt?
„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?" – „Meine Hilfe kommt vom HERRN, der Himmel und Erde gemacht hat!" Die Antwort ein fest persönliches Bekenntnis. Fast trotzig beschwört er die Hoffnung des Glaubens, den er von seinen Müttern und Väter geerbt hat. Meint er so, die Zweifel in seiner eigenen Brust überwinden zu können?
Aber dann ist ihm, als würde sich eine neue Stimme zu Wort melden, mitten hinein in das Gewirr von Befürchtungen und Hoffnungen in seinem Inneren. Leise spricht diese Stimme, ganz zart, und doch warm und eindringlich. Stark und wahr und tröstlich sind ihre Worte:
„Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
und der dich behütet, schläft nicht.
Siehe, der Hüter Israels
schläft und schlummert nicht."
Und dann noch weiter, liebevoll wie zu einer verängstigten Kinderseele:
„Der HERR behütet dich;
der HERR ist dein Schatten über deiner rechten Hand,
dass dich des Tages die Sonne nicht steche
noch der Mond des Nachts.
Der HERR behüte dich vor allem Übel,
er behüte deine Seele.
Der HERR behüte deinen Ausgang und Eingang
von nun an bis in Ewigkeit!"
Ist das die ferne Stimme eines Tempelsängers, der im Gotteshaus hinter ihm der Gemeinde den Segen zuspricht? Hört sein Herz jetzt den Ewigen selbst, der seine Bitte erhört hat?
Unser Psalmbeter schenkt dieser fernen Stimme Ohr und Herz. Er vertraut ihr, schenkt ihren Worten Glauben - und wagt den Schritt über die Schwelle. Aufrecht und getrost geht er los. Er weiß, dass auch morgen Kämpfe, Schwierigkeiten, Schmerzen auf ihn warten. Dass sich nicht alle Hoffnungen und Erwartungen erfüllen werden.
Dennoch geht er voran. Voran und hinab in den so irdischen, so profanen, so menschlich-allzumenschlichen Alltag des Lebens. Ihn trägt und hält eine Gewissheit, die alles verstandesmäßige Begreifen weit übersteigt: Da ist einer, der schläft und schlummert nicht. Der lässt deinen Fuß nicht gleiten und lässt dich nicht fallen. Er trägt dich, geht mit, trägt mit. Behütet dich in allem, was kommen mag. So hat er es Dir gesagt und zugesagt. "Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht!"
Liebe Schwestern und Brüder,
Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie heute ebenso getrost und zuversichtlich über die Schwelle in den Alltag des parlamentarischen Lebens hinein gehen können. An diesem Übergang, der für Sie alle plötzlich neue Überlegungen, Planungen und Perspektiven notwendig macht. An diesem Übergang, an den Sie durch Entscheidungen anderer gestellt sind. Vielleicht dringt gelegentlich diese zarte Stimme an Ihr inneres Ohr. Sie hat nicht nur zu dem Psalmisten auf der Schwelle des Tempels gesprochen. Sie spricht auch zu uns. Diese Worte sind das Himmelsbrot, das uns stärken will auf den Schwellen des Lebens für unseren Weg in und durch die Niederungen unseres irdischen Alltags. Amen.