„Anerkennen, aufarbeiten, Zukunft gestalten“
13. März 2024
Rede anlässlich der Veranstaltung „Leid und Unrecht“ von Landtag und Landesregierung von Schleswig-Holstein über die Verantwortung der Evangelischen Kirche
Sehr geehrte Betroffenenvertreter*innen,
sehr geehrte Frau Rathje-Hoffmann,
sehr geehrte Frau Nies,
sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte Ihnen sehr dafür danken, dass Sie mich als Vertreterin der Evangelischen Kirche zu diesem Tag eingeladen haben. Mit großer Aufmerksamkeit habe ich Ihnen allen im bisherigen Verlauf zugehört.
Nach diesem Zuhören möchte ich nun zu Ihnen sprechen.
Viel zu lange und viel zu hartnäckig hat auch die Evangelische Kirche auf die Betroffenen nicht angemessen gehört, hat sie nicht ernst genommen. Zu lange hat sich auch die Evangelische Kirche der Aufarbeitung nicht konsequent gestellt, hat verschwiegen oder Vorgebrachtes als Einzelfälle abgetan. Zu lange war das Gefälle zwischen der großen und machtvoll empfundenen Kirche einerseits und den einzelnen Betroffenen andererseits viel zu groß.
Und wir müssen uns selbst ernsthaft fragen: Ist das Gefälle tatsächlich kleiner geworden?
Ich will zuerst Danke sagen. Ich habe allergrößten Respekt vor dem Engagement der Betroffenenvertreter*innen, weil sie uns immer wieder darauf stoßen, was noch passieren muss – auch heute wieder mit unmissverständlichen Worten.
Danke, dass ich als Bischöfin in den vergangenen 1,5 Jahren mehrfach persönlich mit Einzelnen von Ihnen sprechen konnte, dass Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben. Diese Begegnungen haben mich sehr bewegt. Und sie haben mich deutlich hören lassen, zuletzt in der vergangenen Woche, wo wir immer noch klarer als bislang Ihre Perspektive berücksichtigen müssen. Danke, dass viele von Ihnen ebenso innerhalb der Evangelischen Kirche daran mitwirken, dass es mehr und mehr zu einem Wandel in unserer kirchlichen Kultur kommt. Sie wirken daran mit, dass wir zu einer noch umfassenderen Betroffenenorientierung kommen. Sie wirken außerdem daran mit, dass wir genauer hinsehen, wie bei uns Macht ausgeübt wird – und dass wir darüber reden und reflektieren. Dass wir eine also eine machtsensiblere Kirche werden.
Ich möchte diesen Tag nutzen, um unmissverständlich zu sagen:
Auch wir als Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland sind in der Vergangenheit unserer Verantwortung für die uns anvertrauten Menschen nicht gerecht geworden. Bei uns und schon in den Vorgängerkirchen in Schleswig-Holstein sowie in diakonischen Einrichtungen sind Menschen an Leib und Seele verletzt worden. Bis weit in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein gab es in kirchlichen Einrichtungen und Heimen körperliche und seelische Misshandlungen unter dem Deckmantel erzieherischer Züchtigung und auch sexualisierte Gewalt. Dafür übernehmen wir heute Verantwortung.
Wir haben erkannt, dass es uns nicht gelungen ist, Betroffene vor Missbrauch zu schützen.
Wir haben Täter geschützt, indem wir die Institution bewahren wollten. Kirche ist für vulnerable Menschen kein sicherer Ort gewesen.
Ich habe es schon eingangs betont: Das Bewusstsein, dass die Geschehnisse Unrecht waren, ist in der Kirche und Diakonie erst langsam gewachsen. Ich möchte allen Betroffenen, die heute hierhergekommen sind, und all denen, die seit vielen Jahren immer wieder in die Öffentlichkeit mit ihren Schilderungen getreten sind, sagen: Ohne Sie und ohne Ihren Kampf um Anerkennung wären wir nicht so weit.
Mir ist bewusst, dass der zögerliche Umgang mit unserer Verantwortung wiederum die Not der Betroffenen vergrößert und deren Vertrauen in Kirche und Diakonie verringert hat. Das macht es im Miteinander heute vielfach nicht leichter.
Nicht zuletzt die vor mehr als einem Jahr veröffentlichte ForuM-Studie hat uns zudem klar offengelegt, es gibt spezifische evangelische, systemische Risikofaktoren in unserer Kirche – ich nenne das evangelische Pfarrhaus, ich nenne die vielfach zitierte „Verantwortungsdiffusion“.
Es geht nun also um weit mehr als um das Zuhören. Es geht um mehr als Worte.
Es geht zentral um konsequentes und glaubwürdiges Handeln unserer Evangelischen Kirche.
Es geht um transparente Prozesse und klare Richtlinien. Es geht um die Partizipation derer, die aus leidvoller Erfahrung heraus wissen, was nun nötig ist.
Es geht um ein davon geprägtes Anerkennen und Aufarbeiten. Und: Es geht um weiter verbesserte Schutzkonzepte für die Gegenwart und Zukunft.
Ich weiß, dass im Bereich der Diakonie darüber hinaus ganz konkrete und lebenspraktische Fragestellungen vor uns liegen, auf die wir Antworten entwickeln und weiterhin entwickeln müssen. Ich nenne nur ein Beispiel:
Immer wieder haben Betroffene ihre Befürchtungen geäußert, dass eine drohende Pflegesituation, vielleicht auch die Aufnahme in stationäre Einrichtungen der Pflege, alte seelische Wunden aufbrechen lassen. Um die Folgen von Traumatisierungen erkennen und gut darauf reagieren zu können, ist eine Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Hintergrund und eine Sensibilisierung nötig. Das Diakonische Werk bildet dazu Pflegekräfte weiter, damit sie traumasensibel auf diese Situation eingehen und Betroffene angemessen begleiten können. Ich höre allerdings, diakonische Einrichtungen erleben, wie schwer es in der Zeit des Fachkräfte- und Zeitmangels ist, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für solche umfangreichen Schulungen überhaupt freizustellen. Daneben versuchen unsere diakonischen Träger mit großem Engagement insbesondere für die Bewohnerinnen und Bewohner in psychiatrischen Einrichtungen ein modernes zeitgemäßes Wohnumfeld zu schaffen und so weit wie möglich die Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner zu berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, wir sind als Evangelische Kirche und Diakonie in den letzten Jahren schon wichtige Wege der Prävention und Aufarbeitung gegangen, und wir haben noch weitere, entscheidende Schritte bei der Aufarbeitung und der Verbesserung von Schutzkonzepten und des schon angesprochenen Kulturwandels vor uns.
Im Blick auf die gesamte Nordkirche halte ich es daher nun für wichtig, dass zur weiter notwendigen Aufarbeitung am 30. März 2025 die Unabhängige Regionale Aufarbeitungskommission (URAK) im Verbund Nord-Ost ihre Arbeit aufnehmen wird. In dieser Kommission, die in der Mehrheit von kirchenunabhängigen Vertreter*innen und Betroffenenvertrer*innen besetzt sein wird, soll künftig unabhängig von nordkirchlichen Gremien über Projekte der Aufarbeitung entschieden werden.
Darüber hinaus arbeitet in der Nordkirche die Anerkennungskommission. Hier werden Betroffene mit ihrer Geschichte gehört, das erlittene Unrecht erkannt und die Verantwortung der Institution benannt. Auch Hilfeleistungen bzw. Anerkennungsleistungen für die betroffenen Menschen werden hier gemeinsam vereinbart. Die Kommission handelt unabhängig von der Leitung der Nordkirche. Dass auch hier die gebotene Transparenz und Schnelligkeit noch ausbaufähig ist, habe ich sehr deutlich gehört und gebe das so weiter.
Schließlich wird es für die Nordkirche vor dem Hintergrund der Einsichten der ForuM-Studie und der Arbeit im EKD-Beteiligungsforum auch darum gehen, die vorhandenen gesetzlichen Grundlagen und die Maßnahmen zur Prävention, Intervention und Aufarbeitung weiterzuentwickeln.
Wir tragen als evangelische Kirche Verantwortung. Dies tun wir auch weiterhin und lernen dabei. Wir sind auf dem Weg hin zu einer machtsensiblen Kirche, die für alle Menschen, der sichere Ort ist, der ihrer Würde entspricht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.