Auf der Suche nach Gerechtigkeit
22. März 2015
Sonntag Judika, Predigt zu Psalm 43 und Markus 10,35-45
Liebe Gemeinde!
I
Der heutige 5. Sonntag der Passionszeit hat einen starken Namen – Judika – einen herrlich unverschämt starken Namen mit dem Angriff auf Gott, der nach den Versen aus Psalm 43 so lautet:
„Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk
und errette mich von den falschen und bösen Leuten!
Denn du bist der Gott meiner Stärke: Warum hast du mich verstoßen?
Warum muss ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget?“
Ja, so scharf und direkt geht es zu in dem Psalmen, in dieser wunderbaren Schule des Gebets. Herrlich unverschämt!
II
„Nein, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden!“
Erregt und richtig empört klang die Stimme meiner alten Tante, als ich sie vor ein paar Wochen an ihrem 90. Geburtstag anrief, um ihr zu gratulieren. Was sie so empörte, war der Glückwunsch-Brief, den die Bischöfin von Hamburg und Lübeck ihr zu ihrem hohen Geburtstag geschrieben hatte. Genauer: die Verse aus dem 36. Psalm, die über dem Brief standen, machten sie zornig:
„Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen. Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes und dein Recht wie die große Tiefe. Herr, du hilfst Menschen und Tieren. Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass die Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben!“
Meine alte Tante dagegen: „Ich kann sie nicht sehen, diese Gerechtigkeit. Und wo ist die Güte, bitteschön? Welch ein Zynismus angesichts der Morde in Syrien und im Irak; angesichts der Flüchtlinge und deren Schicksal, das oft genug bereits in den Fluten des Mittelmeeres tödlich endet?! Nein, ich habe keine Zuflucht. Das ist eine Falle, Junge! Und überhaupt – es ist keine Gnade, so lange leben zu müssen. Warum lässt dein Gott das zu?“
Solange ich meine Tante kenne, hadert sie mit Gott, ist sie für mich eine weibliche Ausgabe des biblischen Hiob. Sie verflucht Gott regelmäßig, wenn wir uns treffen. Denn er ist für sie ein Ungerechter, ein Unfähiger. Verantwortlich für all die Gewalt, für all die Schande und den Hass, die diese Welt kennzeichnen. „Wäre er allmächtig, dein Gott: die Welt sähe anders aus!“ Manchmal ist sie sanfter, gütiger im Ton. Dann sagt sie etwa: „ Gott hat sich versehen, als er die Menschen machte und sie ausrüstete mit so viel Macht des Bösen.“
An sie, die wütende alte Dame, muss ich denken, wenn ich den Psalm dieses Sonntags bete:
„Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk
und errette mich von den falschen und bösen Leuten!“
Und am Ende dann:
„Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“
III
Ein weit reichender Satz ist dieser letzte Vers: Der Beter, die Beterin halten daran fest: Gott ist und bleibt meine Hilfe und mein Gott – obwohl es sie ja alle gibt um mich und um uns herum, die „falschen und bösen Leute“. Und auch das „unheilige Volk“ – die Leute also, denen völlig abgeht „Güte“ und „Treue“. Die also schlicht keine Ahnung haben vom Bund, den Gott mit seiner Erde geschlossen hat. Und die stattdessen mit dem Teufel im Bunde zu sein scheinen und auch so teuflisch handeln.
Ja, das ist ein hammerharter Satz. Einer, der aufräumt mit allen süßlichen Gottesbildern. Einer, der Gott ganz hinein rückt in die Welt. Einer, der Gott nicht aus der Verantwortung entlässt, aber auch nicht jene stärkt, die Gott allein verantwortlich machen für alles Elend, allen Hass und alle Gewalt. Einer, der auch anders kann. Einer, der will, dass wir anders können und anders können wollen. Einer, der sich nicht messen lässt mit unseren Maßstäben allein. Das Furchtbare und das Große: umfangen von ihm, von seiner Liebe. Und gegenwärtig auch sein Gericht! Denn, so der Psalm: Gott lässt seine Welt nicht, auch wenn sie ächzt und brennt unter Hass und Gewalt, Vertreibung und Flucht. Er richtet mit seiner Gottgegenwart stets neu das Gegenbild auf. Sendet immer wieder neu sein „Licht und seine Wahrheit“, wie der Psalm sagt. Er rechnet in aller Gottvergessenheit mit unserer Erinnerung – an Heil und Führung; an Fülle und Frieden. Diese Dialektik, diese Spannung beschreibt das Verhältnis zu Gott!
Gott also: nicht nur der Überwinder des Bösen, nicht nur Schöpfer des prallen, vollen Lebens. Gott: auch verborgen in dem Furchtbaren, in den Dingen, die uns das Fürchten lehren. Gott nicht außerhalb dessen, was das Leben in Frage stellt. Mitten drin. Dessen sollen wir uns rühmen. Das ist die eigentliche Zumutung des Glaubens, wie sie in der Schule des Gebets provozierend gelehrt wird.
IV
Liebe Gemeinde, ich denke auch an die Erzählung aus dem Markus-Evangelium, die wir vorhin gehört haben: Der menschlich, allzumenschliche Streit unter den Jüngern, wer denn nun den besten Platz im Himmel haben wird. Oder auch schon vorher: Wer denn nun am nächsten dran ist an Jesus, am meisten Liebe und Anerkennung abbekommt von ihm, dem Meister.
Und dagegen die scharfe Zurechtweisung der Jünger durch Jesus: Wer groß sein will, soll dienen; wer Herr sein will, soll Knecht sein! So wie Jesus selbst seine Macht, seine Gaben und Fähigkeiten, später auch sein Leben einsetzt, damit alle gut leben können und hineingerettet werden in die Gerechtigkeit und den Frieden der Gottesherrschaft. Alle unseren menschlichen Werte werden da umgewertet – unserem menschlichen Kleingeist wird da von Jesus der Kopf gewaschen. Gott selbst überwindet den Kampf um Anerkennung, um Macht. In Jesus Christus.
Nie hat meine Tante Zugang zu diesem Sohn Gottes gefunden. Der Vater war das alles Überragende, Verdeckende. Wohl, weil auch ihr leiblicher Vater alles überragte, verdeckte. Jedenfalls: dass Gott Mensch geworden ist, hält sie eigentlich für den göttlichen Kardinalfehler.
Aber indem Gott Mensch wird in diesem Jesus, ist er die Quelle der Güte und der Gnade und der Überwindung. Aber eben nicht, wie wir Menschen wünschen und uns vorstellen. Da kommt einer, der ernst macht mit der Thora, mit dem Gebot Gottes. Da geht einer durch die Lande, der die Geknickten aufrichtet und die Erloschenen neu anfacht. Der Licht bringt ins Dunkel. Und: der auf sich nimmt die Schuld, selber hindurch geht durch das Furchtbare, Bedrängende. Die Augen nicht verschließt, sondern hinsieht. Nicht der Welt entflieht, sondern sich ihr stellt. Stirbt. – Und aufsteht! Das ist Jesu Passion, liebe Gemeinde, sein Leiden – aber eben auch seine Leidenschaft der Liebe! Und darum, liebe Gemeinde, ist es auch gut und richtig, dass wir in der Nordkirche am heutigen Sonntag Judika in über 15 Gottesdiensten unseres Kirchengebiets zusammen mit einigen unserer Partner aus der weltweiten Ökumene diesen Gott der Leidenschaft und der Gerechtigkeit feiern! „Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk
und errette mich von den falschen und bösen Leuten!“ – das ist eben auch ein Klageschrei an Gott, den wir als weltweit vernetzte Kirche der Ökumene wach halten und auf die Agenda bringen müssen. Es geht auch um unsere Verantwortung als Christenmenschen in einem reichen Land – es geht auch um eine „Globalisierung der Solidarität“ und um unseren Beitrag, den Reichtum der Welt anders zu verteilen.
Meine Tante hat viel gesehen. Musste viel erleben. 1924 geboren, war sie eine Jugendliche, die neugierig nach dem Leben fragte, als der Krieg begann, als die Verbrechen der Nazis viele zum Wegschauen brachten und mehr noch zum Mitlaufen. Furchtbares haben ihre Augen gesehen: brennende Menschen im Feuersturm nach Bombenhagel in Hamburg. Fliehende Menschen, deren Wohnungen in Schutt und Asche lagen. Sie hat gewusst von den Konzentrationslagern und was darin geschah. Und sie konnte nichts tun. Und Gott? Sie hat es – leider Gottes – in ihrer Jugendzeit mit Gottesmännern zu tun gehabt, die nicht davon ablassen wollten, dass im Führer Jesus Christus wieder erschienen sei. Sie hat erlebt, wie „Deutsche Christen“ Gott missbrauchten.
Das Furchtbare in ihrer Seele ist so mächtig geblieben, so groß, dass es den Blick verstellt auf das Große des Lebens. Auf die Kraft Gottes, die das Leben will. Nicht, dass sie nicht auch ein schönes Leben in den letzten fast 70 Jahren gehabt hätte: Familie, Wohlstand, Anerkennung. Aber dies alles „schützt“ sie geradezu vor dem Zugriff Gottes, das hat mit ihm nichts zu tun. Und doch: im Verborgenen, im Gegenteil wird das Lob laut. Im Kreuz wird sichtbar das Leben. Die Klage hat ungeheure Vitalität! Die Gottabgewandtheit ist eine starke Form der Hinwendung zu Gott, kann es sein jedenfalls. Gottesleugnung ist eine Bejahung „sub contrario“ sozusagen, unter dem Gegenteil. Statt Gott den Rücken zuzukehren, ihn zu vergessen, zeigt meine Tante ihm ihr Gesicht, stellt sich ihm.
Indem sie mit Gott hadert, redet, ihm flucht: rechnet sie da nicht eigentlich mit seiner Existenz, seinem Hier-Sein? Seit Jahrzehnten sucht und fragt sie nach dem Wohnsitz der Gnade und Güte. Sie liest, was sie bekommen kann: Meditationen, historische Bücher, Glaubenszeugnisse. Ich muss ihr immer wieder erzählen, wie es kommen konnte, dass ich an Christus glaube und Pastor geworden bin: „Wie konnte das nur passieren, Junge?!“
Ich kenne kaum einen Menschen, der sich derart intensiv auseinandersetzt mit Gott. Sie leugnet nicht, dass es ihn gibt. Aber er ist für sie die Ursache des Bösen. Und so hat sie ihr Leben gelebt, ohne einen Zugang zu finden zur großen Güte Gottes. Und alles, was sie erfreut und erfüllt, bringt sie nicht zusammen mit dem Gott des Lebens. Oder doch: Das ist die Güte, dass Gottes Ohr wach bleibt für sie. Manchmal denke ich, sie findet die Güte Gottes darin, dass sie ihn anklagen kann. Dass sie loswerden kann, was sie belastet und drückt. Wie im Psalm: „Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten!“
V
Als ich noch in Schleswig war, bat sie mich, sie in den Schleswiger Dom zu begleiten, in eine Seitenkapelle. Als Kind war sie da oft gewesen mit ihrem Vater. Dort hängt ein dreiteiliger Altar, gemalt von dem Norddeutschen Maler Max Kahlke. Einer, dessen künstlerisches Werk geprägt ist von den Schrecken des Ersten Krieges. Anti-Kriegsmalerei hat er geschaffen, wurde deshalb von den Nazis und einigen den Nazis folgenden Kirchenmännern als entarteter Künstler verbannt, seine Bilder verschwanden weitgehend, nur wenige konnten gerettet werden. Und nun zeigt Kahlke auf einem Bild, wie die Gewalt, das Sterben, die Zerstörung Antwort erhält durch die Geburt Jesu von Nazareth.
Hier habe ich meine Tante versöhnt gesehen. Sie fühlte sich bestätigt – aber nur für die Weile der Betrachtung: Gott kann das nicht gewollt haben.
Wie oft wünschte ich, ich könnte sie erreichen mit meinem Glauben: „Auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“
Da öffnet Jesus den Blick auf Gott, der hindurch will durch alles Furchtbare. Er ist anders als die Menschen. Er ist der, der anfängt aufzuhören mit der Herrschaft der Gewalt. Er ist der, der anfängt auszusteigen aus dem Teufelskreis eines Lebens auf Kosten anderer. Hier bei uns in Deutschland und auch überall dort, wo wir mit unseren Geschwistern in der Ökumene zusammen unterwegs sind.
Passion – der leidenschaftliche Gott, er ist „meines Angesichts Hilfe und mein Gott“. Der, der sich klein macht, herunter kommt zu den Heruntergekommenen; der mit der Schwäche für die Schwachen; der, der mit den Kranken und Aussätzigen isst; der, der uns Gott vor Augen führt als den Vater, der den Verlorenen Sohn mit offenen Armen empfängt.
Gott hat uns zu seinen Ebenbildern geschaffen: Recht zu schaffen der Waise und der Witwe und dem Fremdling ein Willkommen. Denn mit ihm heißen wir willkommen Gott selbst. Bei uns. Dafür wollen wir arbeiten und beten, herrlich unverschämt Gott in den Ohren liegen: „Gott, schaffe mir Recht! – Judika!“ Darin ist auch meine alte Tante ein wunderbares Ebenbild Gottes. Amen.