Aus dem Gleichgewicht gefallen
15. Dezember 2013
Predigt am 3. Advent zu Evangelisches Gesangbuch Nr. 7 und Matthäus 11, 2-10
Liebe Gemeinde!
Adventszeit: Zeit der Lichtermeere, des Glühweinduftes; nicht nur Zeit der Besinnung, der schönen Geschichten.
Ich mag die Lichtermeere in unseren Städten, mag es, dass das Licht fließt und überströmt, mag diese üppige, verschwenderische Lichtwellen, die herab stürzen auf die Menschen, sie einhüllen und mittragen hin zu dem Tag der Sehnsucht, wenn es heißt: Fürchtet euch nicht! Ich mag den Überschwang, die Verschwendung, die da sichtbar wird – in ihr zeichnet sich etwas ab von dem verschwenderischen Geist dessen, der da kommt, zu helfen, zu retten; zur Erlösung! Da sehen wir, spüren wir: Leben kommt in die Kälte, Licht ins Dunkel. Nichts bleibt, wie es ist.
In der letzten Woche habe ich meine kleine Enkelin, Paula, über einen Weihnachtsmarkt geführt – ihr erstes Erlebnis dieser Art mit ihren noch nicht einmal zwei Jahren. Und ich habe es genossen, wie dieses Kind staunte, wie ihr Kopf im Nacken saß, damit die Augen ganz und gar auf das Licht in den Bäumen, an den Fassaden, an den Buden und – in den Augen der Menschen aufnehmen konnten. Vergessen die Angst, zu stolpern. Das ganze Kind schien erleuchtet, mitgenommen vom Licht – die kleine Paula und ihr Opi mit. „Da, Opi: Himmel“, sagte Paula. Ja: Advent kommen Himmel und Erde zusammen. Ein harter Kontrast.
Adventszeit: Zeit der Vorfreude. Zeit der Erwartung und der Sehnsucht nach Freiheit. Da ist die Vorfreude auf das Weihnachtsfest, wenn alles hell und licht ist; wenn zu spüren ist, dass wir Beschenkte sind, Überschüttete mit Gutem.
Und da ist eine ganz andere Vorfreude, die sich Ausdruck verschafft in den Worten des kraftvollen, mir so lieben Adventsliedes: O Heiland, reiß die Himmel auf!
II
Das ist die Vorfreude auf einen Gott, eine Kraft und eine Macht, die dazwischenfährt, die aufräumt, die Schluss macht mit Elend und Verfolgung und Vertreibung. Starke Bilder von Befreiungssehnsucht: „O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für!“
Das wird womöglich das Bild des Jahres: der verzweifelt weinende philippinische Delegierte beim Klimagipfel in Warschau. Nachdem der Taifun weite Teile seines Landes verwüstet hatte und gleichzeitig der Klimagipfel an der Hartleibigkeit und Ignoranz der Industrieländer und der „Schwellenländer“ wieder einmal ergebnislos zu verlaufen drohte, fragte, verweisend auf die ungezählten Toten: Wie lange wollen wir noch untätig zusehen, wie viele Menschen müssen ihr Leben noch lassen, bis wir zu der Verantwortung stehen für die Schöpfung!?
Wir wissen es – nicht nur das Klima ist aus dem Gleichgewicht gefallen! Die Balance zwischen Mensch und Natur stimmt nicht mehr; allzu viel muten wir zu Feld und Wald, Pflanze und Tier. Bei aller Freude und bei aller Dankbarkeit über die Fülle und den Reichtum von Gottes guter Schöpfung – heißt Advent eben auch: Was mache ich? Nicht die anderen! Was ist mit mir? Wo lebe ich denn so, dass ich übermäßig viel Schaden anrichte oder Müll produziere? Wir wissen es alle – es ist genug für alle da an natürlichen Ressourcen, an Nahrungsmitteln, an Brot für die Welt. Aber leider: Wenige haben viel – Viele haben nichts! Darum auch die Flucht übers Meer, hin zu uns in das reiche Europa, aus purer Not und Verzweiflung. Grund auch aller Sehnsucht nach Rettung, nach Heil!
Es ist offenbar, dass ein "Weiter so" diese Erde nicht retten und erhalten kann. Umkehr ist nötig, offenbar muss werden, was denn rettet! Und wer da derjenige ist, von dem allein wir wahre Rettung erwarten dürfen:
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal.“
Ja, o Heiland, du musst kommen, allein werden wir nicht in der Lage sein, wieder gut zu machen, was verdorben ist; allein werden wir nicht in der Lage sein, ein Ende zu setzen mit Hass und Gewalt, Flucht und Angst. Wir haben keine andere Hoffnung, keinen anderen Trost. Reiß ab!
Dreimal reißen, einmal laufen – er soll sich beeilen, dieser Heiland. Es genügt nicht, dass er sich zur üblichen Stunde einstellt, die wir da in der Heiligen Nacht auf der ganzen Welt in den Gottesdiensten gleichsam als „Performance“ vergegenwärtigen; er soll sich beeilen, gleich jetzt soll er kommen. Er soll überwinden, was ihn zurückhält, fortreißen soll er das Schloss und den Riegel an der Tür, hinter der er sich noch verborgen hält, den Himmel soll er aufreißen, der unseren Blick nach oben abprallen lässt an einer scharfen Grenze und uns auf uns selbst zurückwirft. Aufreißen soll er – endlich! – der verschlossene Himmel, unter dem man trübsinnig wird und verzweifeln kann. Gut biblisch geschult, der Dichter dieses Liedes, ein Schüler des Propheten Jesaja, der da auch zu seiner Zeit Gott mächtig in den Ohren lag mit seinem Schrei: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen…“ (Jesaja 63,19).
Die Realität der Welt lässt uns ausstrecken über diese Welt hinaus, lässt unsere Sehnsucht wachsen über uns selbst hinaus. Dabei kommt in den klaren Formulierungen auch jene aggressive, wütende, gar nicht sanfte Empfindung zum Ausdruck, die uns zu erfassen vermag angesichts manch Elends und angesichts des Unfassbaren, das sich z. B. spiegelt in den ungezählten Gesichtern derer, die in verzweifelter Hoffnung auf ein gutes Leben in Frieden ihre Heimat verlassen und sich Schleppern anvertraut hatten; Flüchtlinge, die sich aufs Mittelmeer begeben, sich dabei lieber der Lebensgefahr aussetzen und dubiosen Schleppern anvertrauen als in der Heimat zu bleiben, wo Diktatoren sie mit Gift besprühen, verfolgen, metzeln; wo sie nicht wissen, wie sie sich und die Ihren ernähren; wo sie verfolgt und bedroht sind an Leib und Seele wegen ihrs Glaubens. Und dann kommen sie, wenn sie Glück haben und nicht zuvor in den Fluten ertrinken, an ein Land ihrer Sehnsucht, nach Europa – und finden die Türen versperrt! Europa, das freie, reiche Europa: Eine Festung mit Stacheldraht und nun auch mit einem feinen Hightech-Programm, das Flüchtlinge rechtzeitig aufspürt: Wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor wir aufwachen, bevor wir eingreifen und die Ursachen beseitigen von Flucht und Hunger?
„Hier leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ewig Tod. Ach komm, führ uns mit starker Hand, vom Elend zu dem Vaterland.“
III
Großartige Bilder für die Dynamis Gottes, für die Power der Gnade Gottes: „O klare Sonn, du schöner Schein, dich wollten wir anschauen gern; o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein, in Finsternis wir alle sein.“
Das Adventslied aus dem 17. Jahrhundert ist stark von diesem O und Ach geprägt. Der Dichter des Liedes, der Jesuit Friedrich Spee von Langenfeld, hat schon viel gesehen von seiner Welt, von einer Welt des Grauens um ihn herum. Darum der Satz: „Hier leiden wir die größte Not“ – die Erde als Ort der Bedrängnis, als Ort, der verloren ist, wenn Gott sich aus ihm zurückzieht. Um Gottes und der Menschen willen – „ihr Wolken, brecht und regnet aus, den König über Jakobs Haus! – dies wiederum das für mich schönste Bild in diesem Wechsel von starken, kraftvollen und zarten, nicht minder kraftvollen Bildern: der König regnet aus! Seine Liebe, sein Schalom, seine Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit: Wie ein warmer Regen, der hervorbringt Leben aus abgestorbener Erde, der Wasser fließen lässt in dürrem Lande, in Wüsten grün alles werden lässt!
Ohne IHN ist es nicht auszuhalten! Die Bewegung von oben nach unten – sie muss kommen – damit möglich wird die Bewegung von unten nach oben: „O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, dass Berg und Tal grün alles werd“. Ja, fürwahr: Grün ist Leben! Grau ist Tod!
Das Grauen – das der Jesuitenpater und Priester Friedrich Spee nur zu genau kannte: Als Beichtvater in den Dörfern um Würzburg hatte er viel erfahren vom Hexenwahn, von Folter und Mord, dem viele Tausend Frauen und Mädchen ausgeliefert waren – Scheiterhaufen allüberall – eine Volksseuche wie die Pest!
Friedrich Spee hasste das alles wie die Pest, daher hat er nicht nur gelitten unter dem, was ihm vor die Augen und zu Ohren kam, sondern er hat gekämpft gegen den Hexenwahn. Er schwieg dazu nicht in seinen Vorlesungen an der Universität Paderborn – und er nutzte die Freiheit von Forschung und Lehre, um ein Buch zu schreiben gegen die Hexenprozesse, sachkundig wie kritisch. Nur – leider – mit der Freiheit von Forschung und Lehre war es nicht weit her – sein eigener Orden distanzierte sich nach der Veröffentlichung seiner Klageschrift von ihm und schickte ihn in den „Dreißigjährigen Krieg“: Ins Kriegsgebiet nach Trier, wo er bei der Pflege der Kranken und Verletzten an einer Seuche starb. Das war 1635 – mit 44 Jahren.
Umgeben also von Hexenwahn und Scheiterhaufen, mitten im verheerten Land, umgeben vom Grau des Grauens der unbändige Schrei nach Freiheit und Rettung: „O klare Sonn, du schöner Stern, dich wollten wir anschauen gern, o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein!“
Wann? Wann ist er da, der Advent? Wann ist es da – das Kommen Gottes?
IV
Liebe Gemeinde, der Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium, den wir als Evangelium für diesen dritten Advent gehört haben, nimmt diese Fragen auf, und fügt die eine entscheidende Frage hinzu – die Frage des Johannes an Jesus, den Christus:
„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“
Das ist die entscheidende Frage im Advent – die Frage, die nicht gleich neue Aktion hervorruft, sondern die ein "Stop!" markiert, ein "Halt inne!", ein "Warte!".
Rettung wird kommen, der Retter wird kommen, ja – aber der Retter bin nicht ich. Nicht von mir und meinem Tun hängt das Wehe und das Heil der Welt ab! Gottes Sache ist es, uns Menschen zu bewahren vor dem Allmachtswahn!
Und die, die nicht mehr hinsehen mögen, die kaum aushalten können das Dunkel in der Welt, die sich sehnen nach Licht und Hoffnung: denen sind geschenkt die Bilder von der neuen Welt, von der Welt, wie Gott sie meint:
"Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen." 35,5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 35,6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. … - so der Prophet Jesaja in Kapitel 35.
Da ist tatsächlich von Rache die Rede – und von Furchtlosigkeit zugleich! Aber was für eine Rache wird da angekündigt: Gott begegnet der Zerstörung und Verirrung, dem Lug und dem Trug mit – Leben, mit Fülle! Nein: Was ihr seht, ist nicht alles, da ist mehr als alles! Wasser in der Wüste, Bewegung in den Lahmen, Hoffnung in den Hoffnungslosen! Ein neuer Blick auf die Welt.
Wir bekommen ein Bild davon, wie Gott sich diese Welt denkt, wie sie sein kann. Und wir bilden genau das ab, wenn wir das Lichtermeer brausen lassen und die Klänge der Bläserinnen und Bläser, der Sängerinnen und Sänger in den Kirchen und auch in den Wohnzimmern: wenn wir singen und klingen lassen die Gewissheit, dass nichts bleiben muss, wie es ist, dass nichts im Dunkel bleiben muss; dass Frieden werden kann; dass niemand sich fürchten muss. Advent heißt: Mit Gott rechnen. Sein Kommen auf dem Zettel zu haben! Ihm also Raum und Zeit zu lassen, damit er hineinfallen kann in unser Denken und Tun! Advent heißt: Da kommt einer, der frei macht, der aufsperrt, der den Himmel aufreißt.
Liebe Schwestern und Brüder, überall da, wo wir aufnehmen den Fremdling; überall da, wo wir sorgen für die, die verzweifelt sind. Ja: wo wir Gastfreundschaft wagen, überall da, wo wir teilen miteinander, was wir zum Leben haben – überall da tut sich Verschlossenes auf.
Das ist die wunderbare Botschaft im Advent: Was verschlossen scheint, muss verschlossen nicht bleiben. Gott lässt uns dahinter schauen. Er lässt uns sehen, was offenbar ist: Seinen Frieden, seine Gerechtigkeit, seine Menschlichkeit. Lässt uns all das sehen in dem Kind im Stall, dessen Eltern ebenfalls vor verschlossenen Türen erst stehen mussten, bevor ihnen aufgetan wurde.
Gott ist im Kommen. Er sieht, was hier geschieht. Er will nicht hinnehmen Leid und Elend, Blut und Mord und Flucht und Hass und Machtgier. Er kehrt sich nicht ab, sondern kehrt um – zu uns.
„Da wollen wir all danken dir, unserm Erlöser, für und für; da wollen wir all loben dich / zu aller Zeit und ewiglich!“
Amen.