Brot für die Welt: "Es gibt einen dramatischen Anstieg hungernder Menschen"
15. Oktober 2021
Am 16. Oktober ist Welternährungstag. An ihm wird daran erinnert, was für die meisten Nordeuropäer undenkbar ist: Jeden Tag sterben Menschen auf unserer Erde an Hunger. Im Interview mit nordkirche.de spricht Stig Tanzmann, Referent für Landwirtschaft beim kirchlichen Hilfswerk Brot für die Welt, über die Katastrophe und die Suche nach Auswegen.
Die Zahlen sind unvorstellbar. Doch das Grauen ist eigentlich nur in Statistiken auszuhalten, die das persönliche Leid jedes Kindes, jeder Mutter, jedes Vaters verschweigen: 770 Millionen Menschen auf der Erde hungern. Chronisch.
Menschenrechte ausgehebelt
Weitere 2,4 Milliarden Menschen leiden zeitweise Hunger, etwa weil ihre Ernten aufgebraucht sind. Die Corona-Pandemie hat die Situation weltweit noch verschlimmert. Doch auch ohne die Pandemie würde ein Drittel der Menschheit nicht ausreichend zu essen haben – und das, obwohl sich die UN-Staaten dazu verpflichtet haben, das Hungerproblem endlich und dauerhaft zu lösen.
nordkirche.de: Bis 2030 wollten die Vereinten Nationen den globalen Hunger in den Griff bekommen haben. Doch die Statistik zeigt eine Verschärfung des Problems. Können wir durch unser persönliches Verhalten noch eine Kehrtwende einläuten?
Stig Tanzmann, Brot für die Welt: Ja, es gibt einen dramatischen Anstieg hungernder Menschen. Und man muss sagen, dass es inzwischen extrem unwahrscheinlich ist, dieses Ziel bis 2030 zu erreichen. Das bedeutet, auch in zehn Jahren wird wahrscheinlich noch mehreren hundert Millionen das Menschenrecht auf Nahrung verwehrt sein. Eine fürchterliche Vorstellung.
Natürlich kann man versuchen, individuell Einfluss zu nehmen, etwa indem man seinen persönlichen CO2-Abdruck verringert und sich für einen früheren Kohleausstieg einsetzt. Denn der Klimawandel ist ganz klar ein Treiber von Ernteausfällen.
Wir haben es bei der Bekämpfung des Hungers mit einem politischen Versagen zu tun.
Ebenso kann man sich in Friedensgruppen engagieren. Denn Konflikte, Krieg und Vertreibung verschärfen das Hungerproblem drastisch. Äthiopien ist dafür ein extremes Beispiel, wo es dringend darum gehen muss, Versöhnung zu schaffen.
Grundsätzlich haben wir es bei der Bekämpfung des globalen Hungers aber mit einem politischen Versagen zu tun: Es fließt zwar in Deutschland relativ viel Geld in der Hungerbekämpfung. Weltweit sieht es aber anders aus und auch der Einsatz der Bundesregierung muss sich weiter erhöhen. Den Einsatz gegen Hunger noch weiter zu erhöhen ist eine wichtige Forderung, die wir an die neue Bundesregierung haben. Zusätzlich gelangen zur Zeit viele Summen nicht unbedingt an die richtigen Stellen. Es geht also nicht nur um Quantität, sondern ganz zentral auch um Qualität.
Geld fließt an die Falschen
Das heißt?
Um es ganz plastisch zu machen: Das Geld der Entwicklungsbanken fließt zu einem Großteil in agrarindustrielle Projekte, also großflächige Landwirtschaft. Es erreicht nicht Betriebe der Menschen, die hungern. Denn das sind Menschen, die haben 1 Hektar Land und nicht 100-1000 Hektar, die für eine Plantage reichen.
Also fokussiert Brot für die Welt eine Förderung von Kleinstbetrieben?
Ja. Das ist aus unserer Sicht der richtige Weg. Das sind die, die mit am meisten leiden. Und gleichzeitig diejenigen, die für die lokale Gemeinschaft produzieren, wenn auch nicht genug, weil sie nicht genügend Unterstützung erhalten – und nicht für den Export.
70 Prozent der Lebensmittel für die Welternährung werden immer noch von Kleinstbetrieben produziert, die Finanzierung aber geht an die anderen 30 Prozent.
Während der Pandemie haben wir erlebt, dass die globalen Wertschöpfungsketten offen geblieben sind. Wir hier im Norden haben weiter Mangos bekommen, aber vor Ort haben diese Lebensmittel den Leuten wirklich gefehlt.
70 Prozent der Lebensmittel für die Welternährung werden immer noch von Kleinstbetrieben produziert, die Finanzierung aber geht an die anderen 30 Prozent. Und das ist das Paradox, mit dem wir zu tun haben. Es ist eine politische Verpflichtung, dies zu ändern.
Monopole verschlimmern Armut
Brot für die Welt setzt sich dafür ein, dass diese Kleinstbetriebe nicht von den Saatgutkonzernen abhängig sind, also eigene Saaten wiederverwenden und verteilen dürfen. Hat dieses Modell geholfen, die negativen Pandemiefolgen zu verringern?
Grundsätzlich ist und war man gut aufgestellt, wenn man eigenes Saatgut wiederverwenden konnte. Aber die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür sind eben nicht überall gegeben. Vielerorts werden Bäuerinnen und Bauern verklagt, wenn sie ihr eigenes Saatgut wiederverwenden oder untereinander tauschen. Große Probleme hatten all jene, die Hybrid-Saatgut verwendet haben. Denn das verliert die Qualität nach der ersten Aussaat. Sie konnten also nicht noch einmal darauf zurückgreifen, haben aber in der Pandemie durch die Unterbrechung der globalen und nationalen Lieferketten aber auch kein neues bekommen. Das Modell von Brot für die Welt hat sich da als deutlich krisenfester gezeigt.
Sie haben eingangs Äthiopien als Krisenherd benannt. Daneben zeigt sich laut Brot für die Welt auch eine Verschlechterung der Ernährungssituation in Brasilien und Indien. Neben schnellen Soforthilfen, was kann man noch tun?
Neben schneller Soforthilfe die unabdingbar ist, setzen wir auf langfristige Zusammenarbeit mit unseren lokalen Partnerorganisationen. Damit sie genauso wie wir, als Brot für die Welt in politischen Dialog mit ihren Regierungen treten können. Nur über den weltweiten politischen Dialog zusammen mit den von Hunger und Mangelernährung betroffenen, wie er zum Beispiel im Komitee für Welternährung (CFS) erfolgt können wir zu nachhaltigen Veränderungen kommen.
Genau für diesen Ansatz erhoffen uns da auch noch stärkere Unterstützung durch die neue Bundesregierung. Sie muss viel mehr auf die Betroffenen eingehen und zusammen mit ihnen Lösungen erarbeiten anstelle einfach Entscheidungen umzusetzen, die wir hier im Norden getroffen haben.