12. November 2021 | Hauptkirche St. Petri Hamburg

Corona-Gedenkgottesdienst "Woher kommt mir Hilfe?"

12. November 2021 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Psalm 121,1

Wie wichtig und richtig ist das, liebe Gedenkgemeinde heute hier in St. Petri, gemeinsam Worte zu finden für das, was unaussprechlich schmerzhaft ist und wie ein mächtiger Stein auf der Seele liegt. Gemeinsam der Trauer eine Sprache zu geben und einen Namen. Gemeinsam Trost zu suchen und Licht. Aufs Leben zu hoffen, wenn der Tod sein unbarmherziges Schlusswort gesprochen hat. Wie wichtig und gut ist das alles jetzt, so habe ich es eben empfunden, als Sie Fünf[1] in so zu Herzen gehender Weise Ihre Klagen vorgetragen haben. So beeindruckend klar, anrührend und aufrüttelnd, ich danke Ihnen dafür.

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Und dann – der Beter in dem uralten Psalm könnte aktueller nicht fragen: Woher kommt mir Hilfe? Mir, ganz persönlich. Wie bekomme ich wieder Boden unter die Füße? Wie finde ich Kraft und ins Leben zurück, wenn ich einen über alles geliebten Menschen hergeben musste? Oder wenn der Kampf gegen das Virus mich über alle Grenzen hinweg erschöpft und ausgelaugt hat?

Ich hebe meine Augen auf. Gott im Himmel, wo ist der Sinn dahinter? Ich hebe meine Augen auf – und suche Antwort. Denn das große Versprechen der Religion ist ja, dass sie über alle Grenzen hinweg trägt. Dass sie Antworten hat, wo das Leben nur Fragen stellt. Ja, dass sie Hoffnung und Zuversicht weckt – trotz allem. Trost, wo nichts mehr hält. Darum geht es. Um Hoffnung und Trost, die mehr werden, wenn man sie teilt. Und so sind wir hier und heute eine Trost- und Hoffnungsgemeinschaft. Denn wenn ich mit meiner Kraft und meiner Zuversicht ans Ende komme, dann sind da andere, die für mich hoffen und für mich glauben. Und wenn mein Leben an die Grenze, auch die letzte Grenze kommt, dann gibt es Menschen, die an mich denken und für mich beten. So wichtig und gut also, dass Sie jetzt hier sind! Sie werden gebraucht.

Zu den ersten Corona-Toten im Frühjahr 2020 gehörte ein sehr lieber Freund von mir. Im Februar noch feierten wir gemeinsam seinen 70. Geburtstag – charmant und witzig war er wie immer. Vier Wochen später starb er. Nur die Ehefrau, der Sohn und einige Angehörige konnten ihn beerdigen. Mich hat es so berührt, dass die vielen Freunde und Freundinnen, Verwandten und Kollegen nicht anreisen und dabei sein konnten, um sich zu verabschieden und um zu trösten. Dass jede Umarmung erstickt war in Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen.

So kostbar ist das Leben in seiner Blüte und so stechend der Schmerz, wenn das Band gerissen ist. Gestorben mit, durch, wegen, unter den Bedingungen von Corona – jeder Tod ist wie ein Riss im Leben. Und braucht gerade das Band der Gemeinschaft, um Halt zu geben.

Noch immer ist die Pandemie nicht vorbei und gerade erleben wir, wie die Situation wieder angespannter wird. Und es ist in alldem nicht allein der Tod, der traurig macht. Ich sehe auch die junge Frau, der – mitten in der Chemotherapie – die Angst ständig im Nacken sitzt und die schon seit mehr als einem Jahr in vollkommener Isolation lebt. Oder die 13-Jährige, die in der Flüchtlingsunterkunft immer noch kein WLAN und keinen Schreibtisch hat. Überhaupt die Not so vieler Kinder und Jugendliche, die ihre Lebensfreude verloren haben und Zukunftsideen. Ich sehe die Kita-Leiterin und den Altenpfleger, die beide vor Erschöpfung nicht mehr schlafen können. Die Tochter, die dieses Schuldgefühl nicht loswird, weil sie ihren Vater im Sterben nicht begleiten konnte wie sie es versprochen hatte. Ich glaube, wir alle haben Menschen vor Augen, deren Perspektiven zerstört sind und die schwere, persönliche Krisen durchleben.

In einer bewegenden Gedenkfeier haben wir bereits im Frühjahr auf dem Ohlsdorfer Friedhof an all diese Betroffenen der Pandemie gedacht. Und dies interreligiös – mit Musliminnen, Juden, Buddhistinnen gemeinsam. Denn nur eine Gesellschaft, liebe Geschwister, die ehrlich miteinander trauert, kann glaubwürdig von Hoffnung reden. Nur wenn wir das Leid jedes und jeder einzelnen ernst nehmen und erinnern, gelingt Zukunft, nur dann kommen wir gemeinsam ans Ziel. Nicht stumm werden, sondern aussprechen – in allen Sprachen – dass die Liebe bleibt, ja dass die Liebe stärker ist als der Tod. Nicht wegschauen, sondern aufmerksame, berührbare Mitmenschen bleiben, die dem Tod und der Krise nicht das letzte Wort überlassen.

So wie wir es hier und heute tun, und dabei besonders der Corona-Verstorbenen gedenken. Mehr als 1.800 sind es in Hamburg. Sie sind in unseren Herzen und Gedanken – genau wie sie, die die Schwerkranken mit höchster Anstrengung versorgt und gepflegt haben, manchmal mit dem Mut der Verzweiflung. Die Seelsorger*innen, die an den Sterbebetten saßen. Und die Angehörigen und Freunde natürlich, die zurückbleiben: traurig, allein vielleicht, mit der großen, schmerzlichen Lücke im Leben. Wir hören gleich viele Namen. Mit diesen Namen verbinden Sie Gesichter und Geschichten oder eine ganze Wegstrecke, die Sie gemeinsam gegangen sind. Und mit jedem Namen hören wir auch: Von guten Mächten bist du wunderbar geborgen.

Der Tod hat nicht das letzte Wort, heißt das. Im Gegenteil: Jede Lebensgeschichte bleibt hineingezeichnet in das Bild vom ungetrübten, niemals endenden Leben jenseits dieser Welt. Jeder Mensch mit seinem Namen eine einzige Kostbarkeit. Unser Glaube ist darin so tröstlich. Schmerz und Tränen werden vorübergehen, heißt es in der Bibel, und ja: Das glaube ich. Dass es ein Leben nach dem Tod gibt und wir einst getragen werden von dieser in jene Welt, ganz leicht wie eine Feder, das glaube ich. Dass wir auch mitten im Leben zu neuer Kraft finden und uns zu neuer Haltung aufrichten können, das glaube ich gewiss.

Diese ja fast trotzige Zuversicht, die dem Tod nicht das letzte Wort überlässt, muss und soll ankommen, in allen Straßen und Häusern der coronaverwundeten Welt. Auch bei jenen, die in ihrer Trauer untröstlich sind. Ich wünsche es so sehr, dass sie echten Trost fühlen, nicht Vertröstung. Menschen an ihrer Seite, die das Leid teilen – und es damit auch lindern. Und dass sie spüren: Es gibt mehr als deine Trauer, mehr als deine Erschöpfung. Da ist mehr als das Ende. Sie bleibt nicht ohne Antwort, die Frage: Woher kommt mir Hilfe?

Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Das heißt doch: Ich bin und bleibe verbunden mit dem Urgrund des Lebens. Die Lebens- und Schaffenskraft Gottes, die diese wunderschöne, faszinierend vielfältige Welt hat werden lassen – diese Kraft trägt auch mich. Durchs Leben und darüber hinaus. Sie lässt mich aufstehen, jeden Morgen. Sie lässt mich aufsehen, zum Himmel, hinauf zu den Bergen, damit ich nicht mit gesenktem Blick in meiner Trauer oder Erschöpfung verharre. Wie freundlich lockendes Morgenlicht aus den Bergen kommt sie, die Hilfe, und verspricht neues Leben. Licht und Leben – es ist schon unterwegs.
Amen.

[1] Klageworte zum Kyrie vorgetragen haben der Leiter eines Alten- und Pflegeheims, ein Pflegedienstleiter, ein Angehöriger, dessen Mutter im Pflegeheim verstarb, eine Seelsorgerin und eine jugendliche Genesene.

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