31. August 2014 | Mahnmal St. Nikolai Hamburg

Das Leben duldet keinen Schlussstrich

31. August 2014 von Gerhard Ulrich

Ökumenische Gedenkandacht, Ansprache zu Römer 3,23-24: Es ist hier kein Unterschied: 3,23 wir sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten, 3,24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.

I

Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

Ein Ort wie dieser erfüllt mich immer wieder mit der Scham und der Last, ein Deutscher zu sein, wie Ralph Giordano das vor Jahren auf den Punkt gebracht hat. Und ich weiß, diese Scham werde ich nicht verlieren – und: ich will sie auch gar nicht verlieren. Denn ich lebe als einer, der 1951 im kriegszerschundenen Hamburg geboren wurde, nicht nur meine eigene persönliche Lebensgeschichte – sondern ich lebe immer auch verwoben in die Geschichte meines Mutterlandes oder meiner Vaterstadt. Das Mahnmal St. Nikolai ist so verstanden eben auch ein Teil meiner Geschichte.

So ist der Tag heute ein Tag gegen das Vergessen! Weil die Erinnerung das Geheimnis der Erlösung ist, wie es der jüdische Talmud sagt und der Glaube von Juden und Christen weiß.

Geschichte, unsere Geschichte, können wir nicht vergessen. Und wenn wir sie vergessen, indem wir das Erinnern verweigern: Sie, die Gequälten, werden sich unserer erinnern – immer. Man kann viel Kluges über das Erinnern sagen – die Erinnerung ist aber vor allem auch eine biographische, also persönliche Aufgabe. Denn auch mein Vater und mein Großvater waren auf besondere Weise verstrickt in die Schuldgeschichte meines Landes.

II

Zum Glück hat sich in der Bundesrepublik Deutschland seit den 60iger Jahren mühsam eine Erinnerungskultur ausgebildet, die sich an besonderen Daten festmacht: So auch heute hier, da wir – Deutsche und Polen zusammen (welch ein Segen!) gedenken des Warschauer Aufstands vor 70 Jahren und des Überfalls auf Polen am 1. September 1939. Nicht nur der Überfall auf Polen steht da als Verbrechen, da ist das brutale Besatzungsregime, das menschenverachtend mordet, in Zwangsarbeit verschleppt. Und dennoch ist da Widerstand, Aufstand. Da bewahren Menschen in aller Entwürdigung ihre Würde. Sie ergeben sich nicht – trotz aller Angst nicht. Wir erinnern uns auch an den Aufstand der Untergrundarmee, an die Hoffnungen, die sich damit verbanden. Und an die Brutalität, mit der die Hoffnungen zerschlagen wurden. Ich bin gewiss: all der Widerstand, all der Mut, aufzustehen, nicht hinzunehmen, wächst auch aus der Erinnerung an den, der uns Menschen unsere Würde zuspricht. Daraus lebt das Volk Israel, daraus leben die, die mit dem Volk und gleich ihm unterwegs sind als Exodus-Gemeinde, dass sie sich erinnern an den Gott, der aus der Sklaverei befreit und herausführt aus Wüste und Elend. An Gott, der nicht hinnimmt Hass und Gewalt: „Es soll nicht geschehen durch Heer und Kraft, sondern durch meinen Geist, spricht Gott“. So heißt es in der Hebräischen Bibel beim Propheten Sacharja.

Das ist ein Gottes-Wort, dass gerade heute, da wir nicht nur des Aufstands der Untergrundarmee in Warschau gedenken, sondern auch des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs, der mit dem Überfall auf Polen begann. Eine Schande für uns Deutsche, ein unbeschreibliches Verbrechen der Krieg, die Ausrottung des europäischen Judentums, die Millionen Toten, Angst, Vertreibung, Flucht.

Das eindeutige, Frieden mahnende Wort Gottes gilt auch uns heute angesichts der Kriegsherde in dieser Welt, gilt auch im Blick auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine: „Es soll nicht geschehen durch Heer und Kraft, spricht Gott…“ Es gibt keinen Heiligen Krieg! Krieg soll um Gottes Willen überhaupt nicht sein. Gott hat uns nicht gesandt, unsere Waffen in alle Welt, auch noch in die entlegensten Ecken dieser Erde zu exportieren. Er will, dass wir den Frieden teilen, den er uns geschenkt hat auf wunderbare Weise, trotz der Schuld und der Zertrennung, trotz des Terrors. Er will, dass wir die erfahrene Versöhnung zwischen Polen und Deutschen, dieses Gottesgeschenk, nutzen, teilen und exportieren.

Aus der Verheißung und aus dem Gebot Gottes wächst Kraft zu widerstehen dem Bösen.

Das geht nicht ohne Erinnerung, ohne Vergewisserung auch der Schuld und dessen, was trennt von Gott und seinem Wort – damals wie heute! „Wir mangeln des Ruhms“, sagt der Apostel. Und wir bleiben angewiesen darauf, dass da einer ist, der sich uns zuwendet – trotz aller Schuld. Gnade nennt das das Neue Testament. Nur in der Liebe dessen, der alles ins Leben ruft, ist Erinnern und Neuanfangen möglich. Weil da einer ist, der sich unser rühmt. Die Erinnerung ist nicht nur eine Kraft, die zurückweist, sondern ist die Grundlage für jede Zukunft in Freiheit und Frieden. Gerade heute, da wir schauen auf eine Welt, die in Flammen steht an so vielen Orten, ist diese Erinnerung von entscheidender, Frieden stiftender Bedeutung.

Für mich persönlich war und ist in diesem Zusammenhang von herausragender Bedeutung der so genannte „Kniefall“ unseres damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt im Dezember 1970 in Warschau am Ehrenmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto. Brandt hat mehrfach beschrieben, wie ihn in jenem Moment die Gefühle von Schmerz und Scham überwältigten, so dass er spontan in die Knie sinkt. Eine Geste der Demut, von der die Bilder um die Welt gingen und die sich auch in mein Hirn einbrannten. Aufgeweckt wurde ich da – und vielen in den damaligen zwei deutschen Staaten ging es so! Die so genannte „Neue Ostpolitik“ mit „mehr Demokratie wagen!“ und mit dem mühsamen „Wandel durch Annäherung“ – waren das nicht ermutigende Zeichen für die bewundernswerten Bürger und Bürgerinnen in Polen, die dann etwas später unter dem Leitgedanken von „Solidarnosc“ die real-sozialistische Ordnung so durcheinander wirbelten, dass die Freiheit sich nicht mehr einsperren ließ – auch nicht durch Generäle an der Macht?

III

Es hat sich im besten Sinne herumgesprochen, dass die Erinnerung an das, was war, an das, was geschehen ist, eine zentrale Aufgabe für das kulturelle Gedächtnis eines Volkes und eines Landes ist: Ohne Erinnerung – keine Zukunft. Wer sich nicht erinnert, droht gleichsam zu ersticken in Gegenwart, ihm oder ihr droht akute Atemnot, weil die Kurzatmigkeit des Jetzt lebensgefährlich werden kann. Das Leben duldet keinen Schlussstrich – keinen reinen Tisch… Das Leben braucht vielmehr Vergebung – und die ist nicht zu haben ohne die Erinnerung an das, was war und an das, was geschehen ist – und immer wieder geschieht. Auf Dauer ist der Mensch nicht dazu fähig, in Verdrängungsmechanismen zu existieren! Und der Mensch tut es doch, leider! Immer noch und immer wieder ist ein Ergebnis von Verdrängung die Ausgrenzung und Verfolgung von Menschen, von Volksgruppen, von Kulturen… Gerade die Kriege und Auseinandersetzungen dieser Tage sind ein Ergebnis auch des Vergessens und Verdrängens. Und brauchen die Erinnerung an den, der das Leben will.

In der Sprache der Hebräischen Bibel ist das Verb „zachar“, sich erinnern, ein Zentralwort. Es kommt in den verschiedensten Zusammenhängen vor – durchweg ist es positiv besetzt: Sich erinnern bedeutet: Veränderung ist möglich! Befreiung und Gerechtigkeit gründen darin, dass die Menschen sich erinnern.

Gott gibt nichts und niemanden verloren. Gott selbst ist Gedächtnis. Er sieht das Glück seiner Geschöpfe – er sieht aber ebenso an die Verfehlungen, die Schuld, die Sünde seiner Menschen. Und in Jesu Leben, Sterben und Auferstehen ist geschehen Gottes Versöhnung mit der zerrissenen Welt und damit möglich ein neuer Anfang Gottes mit uns. Die Schuldverstrickung ist durch Gottes Erbarmen zu einem Ende gekommen – Neues hat begonnen. Das nennen wir Christenmenschen „Rechtfertigung“ um Christi willen – nicht am Bekenntnis der Schuld vorbei, sondern vielmehr mit einem klaren und darum freimachenden Bekenntnis von Schuld: Und so sagt es der Apostel Paulus in unserem Text:

Denn es ist hier kein Unterschied: 3,23 wir sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten, 3,24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.

IV

Dieser Abschnitt aus dem dritten Kapitel des Römerbriefs ist der biblische Rahmen für die Versöhnungsliturgie aus Coventry, die seit Jahren im Mittelpunkt der Gedenkgottesdienste hier bei Ihnen steht.

In  Coventry ist die Ruine der Kathedrale einerseits, die erinnert an die Bombardierung durch Nazi-Truppen im Jahr 1940. Man hat sie so gelassen, wie sie nach der Zerstörung der Stadt dalag. Man hat ein Nagelkreuz errichtet, zusammengesetzt aus im Feuer erhalten gebliebenen Zimmermannsnägeln – bis heute das Symbol von Zerstörung wie für Versöhnung zugleich. Und man hat eine Inschrift angebracht unter dem Altar: „Father forgive“. Nicht: Father forgive them!

An diesem Ort, wird täglich die Versöhnungslitanei gebetet. Und diese Litanei erinnert nicht an die Feinde von einst, sondern an das Sünder-Sein aller und an ihre Verführbarkeit.

Neben der Ruine steht seit 1992 eine neue Kathedrale. Sie ist durch ein „schwebendes Dach“ mit der Ruine verbunden. Die Wände im Innern sind dunkel. Über dem Alter erhebt sich eine riesige Darstellung des Christus als auferstandener Regent. Er hat das Böse besiegt. Die Apokalyptischen Kräfte (Offb. 4) erliegen seiner Power.

Das ist das gottesdienstliche Programm: aus der Schuld der Gewalt und des Hasses führt der Weg zu Christus. Und dann, wenn man von der Eucharistie oder vom Gebet zurück will zu seinem Platz oder zum Ausgang, sieht man auf eine riesige Glaswand, die den Blick frei gibt wiederum auf die Ruine, die nun aber im eintretenden Licht liegt.

Ja: Wenn Du Dich umkehrst, siehst Du das Licht. Und mit dem Licht im Blick gehst Du hinaus in den Alltag. Du siehst: die Ruine ist Ruine immer noch; Gewalt ist ruinös nach wie vor. Die Schuld ist sichtbar immer noch. Aber Du gehst und siehst all das in einem anderen Licht.

„Go, serve the Lord!“ – heißt es deshalb am Schluss der Messe. Ja, liebe Schwestern und Brüder, darum geht´s, dort in Coventry und hier in Hamburg: „Go, serve the Lord!“ Amen.

Datum
31.08.2014
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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