Das Leben und die Welt sind nicht gottverlassen
02. Februar 2014
4. Sonntag nach Epiphanias, Predigt zur Sintflutgeschichte
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch! Amen
Liebe Gemeinde!
Wir schreiben das Jahr 1872. In seinem kleinen Zimmer im Britischen Museum in London sitzt der Hilfsangestellte George Smith. Er brütet über einem Haufen alter Tonscherben. Sie sind mit merkwürdigen keilförmigen Schriftzeichen bedeckt. In der Gegend von Mossul am Oberlauf des Tigris hat man sie gefunden.
George Smith soll sie entziffern. Er ist für diese Aufgabe gut gerüstet. Denn obwohl von Hause aus Stempelschneider, hat er sich in mühevoller Arbeit in seiner Freizeit in die Geheimnisse der Keilschrift vertieft und wichtige Beiträge zu ihrer Entzifferung geleistet. Jetzt soll er die neu gefundenen Tontafeln zum Sprechen bringen.
George Smith macht sich an die Arbeit. Er vergleicht, entziffert, übersetzt. Je mehr er liest, desto mehr fesselt ihn das Gelesene. Es ist eine lange und großartige Erzählung. Von dem Helden Gilgamesch ist die Rede, von seinen Taten und Kämpfen mit Göttern und Menschen. Am Ende macht er sich auf, um das Geheimnis der Unsterblichkeit zu finden. Er wandert zu Utnapischtim, dem Urahn des Menschengeschlechts. Der war mit seiner Familie als einziger der großen Flut entronnen, die von den Göttern einst über die Erde verhängt wurde. Utnapischtim erzählt Gilgamesch von seiner wunderbaren Rettung.
Dem Hilfsangestellten George Smith stockt der Atem, als er das liest. Seine Erregung verwandelt sich in immer stärkere Gewissheit. Das ist doch genau wie die Sintflutgeschichte der Bibel...
Zu seiner großen Enttäuschung wird der Text immer lückenhafter. Am Ende fehlen ganze Teile und Kapitel.
George Smiths Entdeckung versetzt das höchst bibelfeste viktorianische England in Aufruhr. Und das Unglaubliche geschieht. Eine Zeitung, der Daily Telegraph richtet eine zweite Expedition noch Mossul aus. Man durchkämmt ein zweites Mal die Ruinenhügel am Tigris. Es ist wie die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Aber die fehlenden Tontafeln werden tatsächlich entdeckt. Und nun kann George Smith und mit ihm die ganze Welt lesen, was auf den uralten Tontafeln eingegraben steht:
Alles, was ich hatte, nahm ich mit, den ganzen Ertrag meines Lebens lud ich in das Fahrzeug. Familie und all die Verwandten, die Tiere des Feldes, das Vieh von der Weide und Leute vom Handwerk, alles schiffte ich ein.
Sechs Tage und sechs Nächte lang schwollen Sturm und Flut, herrschte Orkan über dem Land.
Als der siebente Tag anbrach, legte sich der Sturm, es glättete sich die Flut, die wie ein Kriegsheer gewütet.
Bis zum Berge Nisir fuhr das Fahrzeug, am Berge Nisir fuhr es auf und stand wie verankert.
Als der siebente Tag anbrach, entsandt ich eine Taube, ich schickte sie aus. Sie flog davon und kehrte wieder, meine Taube, weil sie kein Ruheplätzchen fand kehrte sie zurück.
Ich sandte eine Schwalbe aus, ich ließ sie fliegen. Sie flog davon und kehrte wieder, meine Schwalbe, weil sie kein Ruheplätzchen fand kehrte sie zurück.
Ich sandte einen Raben aus, ich ließ ihn fliegen, er flog davon, der Rabe. Er sah, dass der Spiegel des Wassers sich senkte; er frisst, er fliegt umher, er krächzt und kehrt nicht mehr zurück.
Die Entdeckung des Hilfsangestellten George Smith löste einen Schock aus. Wie war zu erklären, dass im alten Zweistromland eine sehr alte Erzählung umlief, die bis in Einzelheiten hinein der biblischen Sintflutgeschichte entsprach?
Drohte mit der Entdeckung des Gilgamesch-Epos, wie wir es heute nennen, nicht das gesamte kirchliche Lehrgebäude einzustürzen?
Unzählige Bücher sind über diese Frage geschrieben worden, und der Streit tobte noch heftiger, als weitere Versionen der Geschichte von der großen Flut zu Tage gefördert wurden. Und in den letzten Tagen wurde berichtet, dass weitere Zeilen der Keilschrift entziffert werden konnten.
Heute sind wir in der Lage, die Dinge ruhiger zu betrachten. Wir nehmen unbefangen zur Kenntnis, dass die Geschichte von der großen Flut und der Arche nicht nur in Israel, sondern auch sonst im alten Orient erzählt wurde. Ihrer Wahrheit tut das keinen Abbruch. Die liegt auf einer ganz anderen Ebene als die Frage, ob nun Noah oder Utnapischtim die Arche baute: Oder ob es eine Taube oder eine Schwalbe oder ein Rabe war, die er hinausfliegen ließ.
Aber was ist die Wahrheit dieser Erzählung?
Ich sehe sie in dem Sinnbild, das uns vor Augen gestellt wird. Die Elemente sind in Aufruhr, alle Naturgewalten toben wie in einem Hexenkessel - der brüllende Orkan in der Luft, das aufgepeitschte Meer, die unwiderstehliche, alles verschlingende Flutwelle, das Beben der Erde. Alles Feste, Stabile, alle Form und Ordnung zerbricht, löst sich auf ihm Strudel der Wassermassen. Wo eben noch Schöpfung war, Regel, Maß, Sicherheit, Frieden - da herrscht nur noch Chaos, Auflösung und Zerstörung.
Und dennoch gibt es Rettung in diesem Inferno. Bewahrung, Schutz, neues Leben. Da ist das große Schiff. Da sind die mächtigen Balken, die starken Planken.
Die festgefügte Arche trotzt den Elementen und schützt und behütet in ihrem Bauch das Leben. Am Ende wird sie sicher landen und aus sich heraus einen neuen Anfang, neues Leben und ein neues Geschlecht entlassen.
„Gott gedachte an Noah und an alles wilde Getier und an alles Vieh, das mit ihm in der Arche war, und ließ Wind auf Erden kommen, und die Wasser fielen.“
Die Sintflut ist ein Bild, ein Ur- und Sinn-Bild, das tief verwurzelte Menschheitsängste und Menschheitserfahrungen ausspricht. Auch wir Heutigen können das gut nachfühlen: Der Orkan Christian, die erwartete große Flut am 5. Dezember und die Bilder vom Donau- und Elbehochwasser oder von Tsunamis in Asien. Das weckt uralte Todes- und Chaos-Ängste, Ängste vor dem Versinken - und zugleich die Hoffnungen auf Rettung, Bewahrung, Erneuerung.
Natürlich sind nicht nur die äußeren Ängste und Hoffnungen angesprochen, die äußeren Fluten und Überschwemmungen, vor denen wir uns und unsere Häuser durch Dämme und Deiche und Unwetterwarnungen schützen können. Es geht auch um das, was uns von Innen, aus unserer eigenen Tiefe heraus überschwemmen und in den Untergang reißen will. Der Strudel der Gefühle und Leidenschaften, die Abgründe am Boden unseres Herzens. Diese inneren Mächte und Gewalten, die das Maß, die Sicherheit und den Frieden unseres Menschseins bedrohen.
Tiefenpsychologen sagen nicht zu Unrecht, Wasser sei das einzige Naturelement, in dem wir uns selbst spiegeln können. Der Spiegel der See ist ein Spiegel der Seele. Unser deutsches Wort "Seele" ist wahrscheinlich eine Ableitung von dem Wort See: die zum See gehörende.
Doch wenn es auch die inneren Fluten sind, innere Bedrohungen, von denen unsere Erzählung im Sinnbild spricht - wo und was ist das Schiff, das vor diesen Elementarkräften rettet?
Noah oder sein assyrischer Verwandter bauen die Arche nicht von sich aus. Sie haben ihre Augen, Ohren und Herzen nicht verklebt und verhärtet. Sie hören – nicht nur den Lärm der Welt und der Reklame. Sie hören auch die leise, kaum hörbare Stimme der Wahrheit und schenken ihr Glauben. Diese Warnung, diesen Auftrag: Du musst Dein Leben ändern! So kann, so wird es nicht weitergehen. Nicht mit Dir, nicht mit den Menschen, nicht mit dieser Erde. Du musst Dein Leben ändern! Baue die Arche!
Die leise Stimme des Gewissens weckt aus dem Schlaf der Sicherheit. Nicht das eigene Ego und seine Welt – nein: die Bindung an Gott, das Hören und das Sich-Etwas-Sagen-Lassen von dem, der größer ist als unser Herz, - das rettet ihn und seine Leute vor dem Untergang im Chaos.
Können wir vor diesem Hintergrund das heutige Evangelium als Fortsetzung der alten Flutgeschichte hören?
Sie ließen die Menge zurück und fuhren übers Meer. Plötzlich erhob sich ein großer Windsturm, und die Wellen schlugen über das Boot, sodass es volllief. Und Jesus lag hinten im Boot, sein Haupt auf einem Kissen. Er schlief.
Hier in Schleswig gibt es das Jesusboot beim Bibelzentrum zu sehen, einen Nachbau der Fischboote vom See Genezareth. Und wenn man damit unterwegs ist, wird es schon bereits bei 6 Windstärken kritisch. Schwere See also, Sturmböen und ringsum nirgends Land in Sicht. Und du merkst, wie sich dein Horizont verfinstert, und kein Stern ist mehr zu sehen, und du spürst den Abgrund vor deinen Augen. Du spürst den Sog der Tiefe, und stemmst dich mit aller Macht dagegen. Du willst schreien:
„Wo bist du nun, du Sonne, du Licht der Welt? Wo bist du nun, du Gott, mein Gott, wo wir dich so dringend brauchen? Fragst du gar nicht danach, wie wir versinken?“
Anfechtung nannten das die Alten, Zweifel, Verzweiflung. Wir heute sagen lieber Krise, manchmal auch: Depression.
Auch Christen kennen das. Der Glaube ist kein Zaubermittel und kein Patentrezept. Auch er muss immer wieder die Finsternis aushalten und den Aufruhr der Elemente drinnen und draußen und das Schweigen Gottes. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Kümmert es dich gar nicht, wie wir untergehen?
Die Jünger weckten ihn: Rabbi, schert es dich nicht, dass wir umkommen? Jesus wurde wach und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig still und verstumme! Und sogleich legte sich der Wind, und das Meer wurde wieder still.
Liebe Gemeinde, in Jesus war offenbar eine Kraft, die ihn trug. Und die Seelenweisheit könnte lauten: Die Tiefen des Lebens bleiben dir nicht erspart. Aber gib auch in der Sonnenfinsternis deiner Seele dein Schiff nicht verloren.
Es gibt Leuchtfeuer mit ihren tröstlichen Lichtpunkten am Horizont. Menschen, Freunde, gute Worte, die dir den Weg weisen, und manchmal vielleicht auch Tauben und Raben. Öffne deine Augen, deine Ohren, dein Herz. Lass dich von deiner Angst nicht in die Tiefe reißen. Das Leben und die Welt ist nicht so gottverlassen, wie du meinst, und du selbst bist es auch nicht.
Dann kannst du deinen Weg gehen, auch wenn Wind und Wellen dich immer wieder schrecken wollen. Und sei gewiss: mit ihm, Christus, an deiner Seite: Kein Wasser der Welt, keine Tiefe und kein Abgrund können dich jetzt noch verschlingen.
Sage ihm das, was dir Not macht – bringe es vor – auch wenn du vielleicht nicht beten kannst, nur stammeln oder schweigen. Wecke ihn auf und vielleicht wirst du merken: da wächst Gelassenheit und Ruhe in dir. Amen.