Das rechte Wort zur rechten Zeit macht froh
31. Januar 2016
Sonntag Sexagesimae, Predigt zu Hebräer 4, 12-13
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei in uns lebendig. Amen.
Ich lese den Predigttext aus dem Hebräerbrief:
Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen. (Hebräer 4, 12f.)
Genauigkeit, liebe Domgemeinde zu Berlin, auf die Genauigkeit kommt es heute an. Denn nur dieses genaue, das richtige, um nicht zu sagen: trennscharfe Wort – nur dies wird dem Leben in seiner Tiefe gerecht, holt es heraus aus dem Dunkel und der Diffusität, zeigt, wie es in uns pulsiert. Und genau dieses Finden des rechten Wortes ist es, was auch eine Predigt, allzumal hier im Berliner Dom, zu einer Herausforderung macht – ich freue mich, bei Ihnen zu sein!
Dieses manchmal nur eine Wort, das genau erfasst, was da lebt und webt – dies zu finden ist immer wie ein kleines Wunder. Wer wüsste es besser als die Poeten aller Zeiten? Sei es eben jener unbekannte Verfasser des Hebräerbriefs um ca. 90 nach Christus (der übrigens das gepflegteste Griechisch des gesamten Neuen Testamentes schrieb), oder sei es der Berliner Kurt Tucholsky, der 1929 in der Wochenzeitschrift "Die Weltbühne" schrieb: „Mir fehlt ein Wort“ – und weiter: „Ich werde ins Grab sinken, ohne zu wissen, was die Birken tun. Ich weiß es, aber ich kann es nicht sagen. Der Wind weht durch die jungen Birken; ihre Blätter zittern so schnell hin und her, dass sie ... was? Flirren? Nein, auf ihnen flirrt das Licht; man kann vielleicht allenfalls sagen: die Blätter flimmern ... aber es ist nicht das. Es ist eine nervöse Bewegung, aber was ist es? Wie sagt man das? Was man nicht sagen kann, bleibt unerlöst."
Ein fehlendes Wort lässt unerlöst. Ein fehlendes Wort, und wir können die Wirklichkeit nicht beschreiben, ja vielleicht nicht einmal erkennen. Und schon gar nicht verändern. Darum ist es so dringend, das rechte Wort zu finden. In der öffentlichen Rede sowieso. Was wäre gewesen, wenn Kennedy gesagt hätte: "Ich versichere Ihnen aufrichtig, dass mir Berlin sehr wichtig ist und dass ich Ihrer Stadt immer verbunden bleiben werde"? Anstatt: "Ich bin ein Berliner…" ?
Das rechte Wort zur rechten Zeit - es erreicht die Herzen. Und es wird nicht wieder vergessen. Auch weil es oft hinlänglich kurz ist. Das Prägnante ist das Eindringlichste. So wie übrigens die meisten wichtigen Texte der Welt: Das Vaterunser etwa hat ganze 56 Worte und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung genau 300. Dagegen hat die angeblich unverzichtbare Verordnung der Brüsseler Kommission für den Import von Karamell-Erzeugnissen 26.911 Worte….
Nein, lebendig wird das Wort, wenn es genau ist. Wenn es genau das ist, was das Herz rührt, und deshalb stark ist, echt stark!, kein Larifari, sondern überaus wahr und klar, nicht diese Meinungsmehrheit oder Verlautbarungsflut, eben nicht laut, sondern dir so gerecht, zärtlich, suchend, flüsternd, schweigend auch. Das richtige Wort zur richtigen Zeit macht lebendig, was zwischen uns ist. „Ich liebe dich, was immer kommt.“ Das kann so ein Wort sein. „Nun bind dir doch um Himmels willen mal den Schal um!“ Auch das erreicht. Und erst recht: „Bleib bei mir, denn es will Abend werden.“
Aufs Wort kommt‘s an, sagt der Hebräerbrief. Sein Wort. Das genau uns meint. Zärtlich, suchend, flüsternd, schweigend – das Wort Gottes trägt uns ebenso wie es uns verändert. Von Anfang an. Wir sind eine Wortreligion: Allein durch sein Wort erschafft Gott die Welt. Er sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht. Er rief alles ins Leben, buchstäblich. Auch gab er dem Volk Israel kein Bild von sich, keine Götterstatue. Sondern zwei Tafeln mit Wörtern - die Zehn Gebote. Und so geht es weiter: all die Propheten mit ihren wirkmächtigen Worten, wie Jesaja bis heute! Und dann Jesus Christus. Er IST das Wort, das Fleisch geworden ist. Der Logos, wie es im Griechischen heißt, was sowohl "Wort" bedeutet als auch "Verstand". Erfassen wir doch die Welt denkend nur mit dem Wort.
Ich glaube, dass es wichtig ist, gerade heute wieder an den Vorrang des Wortes zu erinnern. Denn unsere Kommunikation ist zunehmend bestimmt von Bildern. Sie sind die Sprache der Welt geworden. Allein auf Facebook werden jährlich 100 Milliarden Fotos neu hochgeladen. Für uns Protestanten als „Kirche des Wortes“ eine echte Herausforderung. Denn ein Bild sagt mehr als 1000 Worte, und es lügt auch mehr als 1000 Worte. Bilder argumentieren nicht. Sie überwältigen. Im wahrsten Sinne – so viel Gewalt sehen wir täglich. Bilder haben dabei den Anspruch der Realität und sind doch oft nur eine Inszenierung der Wirklichkeit. Das Wort hinkt hinterher. Eine wilde Menge auf der Domplatte von Köln, zuckendes Feuerwerk, dunkle Gestalten. Wer will angesichts dessen differenziert über Integration diskutieren? Die schlimmste Vision für mich ist, das Menschen sich nur noch in YouTube-Clips über das Weltgeschehen informieren: Ein emotionales Filmchen, und darunter eine Kommentarspalte voller Pöbeleien, Halbsätze und Halbwahrheiten.
Der Ton ist schärfer geworden in unserem Land. Schärfer. Aber nicht lebendiger. Im Gegenteil. Vor zwei Wochen hat die Hamburger Bürgerschaftspräsidentin öffentlich gegen die immer zahlreicher werdenden Hassmails protestiert, denen Abgeordnete aller Parteien inzwischen ausgesetzt sind. Etwa: "Wenn wir Dich kriegen, wirst Du aufgehängt, Du Volksverräter!!" "Man sollte Dir in die Fresse schießen!" "Gut wäre ... Erlösung durch Genickschuss für diese Frau." Verbalradikalismus pur – per Posts rasend schnell in der Welt. Das sind keine Worte mehr, liebe Gemeinde, das ist Anspucken.
Es ist Zeit gegenzuhalten! Denn es sind eben nicht nur die Pegidas und Legidas, in denen das Gebrüll zunimmt und die Vereinfachung, das Anschwärzen und Niedermachen. Es ist vielfach auch in den sozialen Netzwerken üblich geworden. Und viel wichtiger als eine Debatte, wie wir Hass-Postings aus Facebook entfernen können, ist doch die Aufgabe, das Entstehen solcher Einträge zu verhindern. Leicht gesagt, gewiss. Aber wenigstens bei Kindern und Jugendlichen können wir vielleicht noch etwas beeinflussen - durch Begleitung, Vorbild sein, Unterricht.
Es ist Zeit für die Genauigkeit. Dafür, die Sinne zu schärfen für die Individualität, das Gewissen, den feinen Ton. Das ist Gottesdienst in dieser Welt. Wir dürfen das Lesen, das Argumentieren, das Hören und Zuhören nicht verlernen. Und dazu brauchen wir das lebendige, das kräftige, das scharfe Wort. Schärfer als jedes zweischneidige Schwert, sagt der Hebräerbrief, ist das Wort Gottes.“
Was hier so martialisch klingt und wie ein invasiver Eingriff – es ist in Wahrheit lebensrettend. Denn hier geht es um die Kunst des Unterscheidens, das „Entzweischneiden“ - Unterscheidung oder lateinisch gedeutet: Diskretion. Sie ist die Voraussetzung für Denken und Diskurs, für Veränderung im Dialog.
Das Wort Gottes scheidet, Mark und Bein, Seele und Geist, am Anfang schon Licht von der Finsternis. Und es scheidet Liebe von Hass. Ich möchte Ihnen an dieser Stelle aus einem Brief vorlesen mit den für mich eindringlichsten Worten seit langem, rechte Worte für diese Zeit. Geschrieben hat sie Antoine Leiris, Journalist aus Paris. Er hat bei den Anschlägen vom 13. November seine Frau Hélène verloren. In diesem Brief hält er den Attentätern entgegen: "Am Freitagabend habt ihr mir … die Liebe meines Lebens geraubt, aber meinen Hass, den bekommt ihr nicht. ... Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger mit Argwohn betrachte und meine Freiheit für meine Sicherheit opfere. Vergesst es. Ich bin und bleibe der, der ich war. … Wir sind nun zu zweit, mein kleiner Sohn und ich. Aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt. Er wird jetzt gleich eine Kleinigkeit essen … und dann werden wir miteinander spielen, wie jeden Tag, und dieser kleine Junge wird für euch sein Leben lang ein Affront sein, weil er glücklich sein wird und frei. Denn auch seinen Hass werdet ihr nie bekommen.“
Hunderttausende haben binnen weniger Stunden via facebook diesen Brief geteilt. Und verteilt. So berührend und ermutigend war diese Botschaft, weil sie deutlich machte, wieviel Kraft in der Liebe steckt, die nicht aufhört. Nicht der Schrecken, nicht die Angst, nicht der Hass auf die Gewalttäter – das letzte Wort im Tod hat die Liebe behalten. Das erlebte Glück. Und das kommende.
Für mich hat Antoine Leiris auf den Punkt gebracht, was das meint: Das heilsame Wort, lebendig und kräftiger und schärfer als Angst und Hass. Habt keine Angst. Ihr, die ihr das Lieben dem Hass entgegenstellen wollt, habt keine Angst. Lasst euch nicht einschüchtern durch Terror und Gewaltwort. Wir haben den Einschüchterungen unserer Zeit viel entgegenzusetzen! So wie Antoine Leiris es zeigt. Bleiben wir getrost, was und wer wir sind, liebe Gemeinde: Freiheitsliebend. Geradlinig. Geschwisterlich. Aufmerksam für die Kleinen, gleich woher sie kommen.
Lasst uns achtsame Worte finden, um unsere Werte zu bewahren. In aller Diskretion. Diskretion ist so heilsam. Auch für uns, von Mensch zu Mensch, hier im Berliner Dom. Schauen wir uns um und schauen wir einander an – kann man da nicht wirklich sagen: es lebe der Unterschied?! Meine Gaben und Fehler sind nicht die Ihrigen, wie schön. Mein Glaube ist nicht sein oder ihr Glaube nebenan in der Synagoge oder Moschee - und gerade so achte ich sie. Manche halten es ja für einen Fortschritt im Dialog, auch im Dialog der Religionen, wenn sie die Unterschiede nicht thematisieren, sondern vor allem die Gemeinsamkeiten herausstellen. Doch ich bin sicher und erlebe es direkt im interreligiösen Forum Hamburg, dass erst der Dialog über die Verschiedenheit uns voranbringt. An solchen Punkten scharf zu unterscheiden, macht letztlich frei. Es macht mich frei von den Verzerrungen, von den Bildern, die andere von mir haben. Und es macht mich frei von der Ungenauigkeit.
Das Wort Gottes als zweischneidiges Schwert ist also keine Waffe, sondern ein Rettungsring. Eine Anleitung zum Menschsein, mit allem, was einen umtreiben mag. Differenziert und diskret:
Es ist Zeit für das Wort,
lieber Bruder, liebe Schwester,
das dich sieht, wie du bist
von allem Anfang an,
das dich trifft, erkennt, liebt, versteht
all dein Sehnen, Ziehen, all dein Fragen.
Gerades Wort – es ist Zeit,
gegen dumpfe, dumm-machende Parolen,
ermutigt euch!
Friedensleis und Lebenslaut -
liebt das Leben!
Das ist Gottes Wort in dieser Welt.
Sein Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.