Den Geist des Weihnachtsfestes tatkräftig weitergeben
24. Dezember 2015
Christvesper am Heiligen Abend mit einer Predigt zu Lukas 2, 1-20
Liebe Gemeinde,
ihre Gesichter sind von Wind und Wetter gegerbt. Etwas zerzaust wirken sie, mit ihren dichten Bärten und funkelnden Augen. Der Staub der Wege hat sich tief in die Furchen ihrer Gewänder eingegraben. Mit ihrem Stab können sie entschlossen und hart zuschlagen, wenn eine Bedrohung naht. Und über ihnen schwebt der Geruch ihrer Herde. Sie leben draußen auf dem Feld. Man kann sie nicht recht einordnen und scheut sie darum eher. In den Dörfern und Städten sind sie oft unliebsame Gäste. Misstrauen schlägt ihnen entgegen. Wer weiß schon, was sie im Schilde führen, diese Hirten, die rauen Gesellen, draußen vom Feld?
„Es begab sich aber zu der Zeit“ – so beginnt jene alte Geschichte, die wir gerade gehört haben und die an diesem Abend landauf landab in unseren Kirchen gelesen wird. Diese Geschichte ist ein Stück Weltliteratur. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass wir uns darin mit unseren eigenen Geschichten wiederfinden. Diese Welt-Geschichten verbinden sich mit den unseren. Wir erkennen etwas in den Handelnden wieder, in ihren Sorgen und Herausforderungen, in den Hoffnungen und Wünschen, die wir mit ihnen teilen.
„Es begab sich aber zu der Zeit“ – wir alle kennen die verschiedenen Menschen, die zu dieser Geschichte gehören. Wenn wir daran denken, an welch unterschiedlichen Orten ihre Reise zum Stall in Bethlehem beginnt, dann wissen wir, dass jede dieser Figuren ihre eigene Weihnachtsgeschichte zu erzählen hat.
Es versteht sich nicht von selbst, dass in dieser Nacht, mit dieser besonderen Geschichte, auch die rauen Gesellen vom Feld Teil der Weltgeschichte wurden. Sie und ihre besondere Weihnachtsbotschaft möchte ich heute in den Mittelpunkt stellen. Inmitten der finsteren Nacht und wachend bei ihren Herden hören die Hirten die himmlischen Stimmen:„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“
Hirten sind Menschen, die Geschichten erzählen können, die sonst kaum einer kennt: Sie können von der Dunkelheit dieser Welt erzählen, draußen, am Rande der Zivilisation. Von den Geräuschen, die man nur nachts hört, weil sie am Tage vom Lebenslärm übertönt werden. Sie kennen die Einsamkeit, der wir uns stellen müssen, wenn wir auf uns selbst gestellt sind. Hirten wissen auch vom Misstrauen ihrer Mitmenschen zu erzählen, weil sie ein zweifelhaftes Ansehen genießen. Der Hirtenstab dient ihnen als Waffe gegen Wölfe und Räuber, die sich ihren Herden nähern und die sie gelegentlich auch unter Einsatz ihres Lebens schützen müssen – und schützen wollen. Und sie sind in diesen Situationen aufeinander angewiesen, darauf, dass einer auf den anderen achtet, dass alle miteinander genau hinsehen und miteinander angemessen reagieren. Sie sind anders, weil sie sich außerhalb der vertrauten Kreise bewegen.
Doch das Bild ist noch vielgestaltiger: Hirten können auch von den Besonderheiten des Lebens erzählen, weil sie mit ihren alten Geschichten die nächtliche Dunkelheit aushalten. Die nächtliche Zeit unter dem weiten Sternenhimmel lässt Menschen weise werden.
Wer wie die Hirten unter dem weiten Sternenhimmel verweilt, weiß um die Begrenztheit und Endlichkeit des Menschen, dessen Lebensraum im Dunkel auf einige wenige Schritte beschränkt ist. Er weiß, dass das Wesentliche nicht in seiner Hand liegt. Und er bekommt eine Ahnung davon, wie unermesslich weit der Himmel sich in die Tiefe des Raumes streckt, und er wird sich gelegentlich fragen, welche Schöpfermacht dies alles ins Sein und Leben gerufen haben mag.
Liebe Gemeinde, Sie merken, es sind facettenreiche Gestalten, die uns hier begegnen. Und nun begab es sich, dass die Hirten der Heiligen Nacht Teil einer besonderen Geschichte wurden. „Fürchtet euch nicht!“ rufen die Engel – und die finstere Nacht wird vom Gesang der himmlischen Boten durchbrochen. Und die Hirten verstehen. Sie begreifen, was an der Zeit ist. Sie brechen auf und ihr Leben verändert sich. Sie begreifen, dass sie, gerade sie, als allererste die weihnachtliche Botschaft vom Himmel herab hören. Sie begreifen, dass sie, gerade sie, keinen Grund zur Furcht haben. Und dass sie, gerade sie, bestimmt sind, als Erste den neugeborenen König, Gott selbst, auf dieser Erde zu begrüßen. Sie erfahren als Allererste, dass Gott Mensch sein will, und sie spüren, dass er die Nähe aller Menschen sucht, ohne Ansehen der Person: der Einfachen und der Vielschichtigen, der Ehrlichen und der Betrüger, der Mutigen und der Ängstlichen, der Armen und der Reichen.
Wenn ich die Hirten vor mir sehe, begegnet mir darum eine ermutigende Weihnachtsgeschichte für unsere Zeit, auch wenn diese Gestalten irgendwie noch immer ein wenig zerzaust und zweifelhaft aussehen. Denn ich sehe Menschen, deren funkelnder Blick davon zeugt, dass sie Gott im Neugeborenen mit eigenen Augen gesehen haben. Sie wissen, dass Gott nicht unerreichbar im Himmel thront, sondern auf Erden, an ihrer Seite zu finden ist. Und in ihren Taten und Liedern werden sie davon berichten.
Und, liebe Gemeinde, mir fallen Orte auch in unserer Zeit ein, wo gerade solche Botschafter der weihnachtlichen Freude, wie die Hirten es sind, in dieser Welt gebraucht werden: an der Seite derer, die Schutz brauchen, die in unserem Land Frieden und Zukunft suchen. An der Seite derer, die kaum gute Nachrichten hören und vieles verloren haben. An der Seite derer, die ihre Familie, ihr Obdach verloren haben und zu Umherziehenden wurden. An der Seite der Menschen, die sich selbst zu verlieren drohen und nur noch Finsternis um sich wähnen.
Dort werden Menschen wie die Hirten mit ihrer eindringlichen Weihnachtsbotschaft von der leisen Ankunft Gottes in dieser Welt gebraucht, und dort ist auch jenes beherzte Eingreifen an der Zeit, für das die Hirten einstehen. Die Hirten sind die ersten menschlichen Weihnachtsbotschafter, und das ist kein Zufall. Denn die Weihnachtsbotschaft will tatkräftig weitergetragen werden.
„Es begab sich zu der Zeit“ – so beginnt die Weihnachtsgeschichte. Ich wünsche uns, dass wir uns mit den Geschichten unserer Zeit in ihr wiederfinden. Es möge sich auch in unserer Zeit begeben, dass uns die Botschaft „Fürchtet euch nicht!“ aus unseren Finsternissen ruft. Hin zum Stall, dort wo die Liebe Gottes im Neugeborenen unübersehbar ist. Hier kann der Friede wachsen, den diese Welt so dringend braucht.
„Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frauen,
kommet, das liebliche Kindlein zu schaun,
Christus, der Herr ist heute geboren,
den Gott zum Heiland euch hat erkoren.
Fürchtet euch nicht!“ (EG 48)
Amen.