22. März 2022 | Hauptkirche St. Jacobi

Den Opfern eine Stimme geben

22. März 2022 von Kirsten Fehrs

Tag der Opfer von Kriminalität und Gewalt, Predigt über Genesis 16

Liebe Geschwister,

es gehörte wohl mit zu den schrecklichsten Bildern der vergangenen Wochen: russische Flugzeuge, die Bomben auf ein Krankenhaus und eine Entbindungsstation abwarfen. Kaum könnte man grausamer in ein Bild fassen, was Krieg ist: Es sterben eben nicht allein Menschen – Männer, Alte, Frauen und Kinder, Tausende – im Krieg stirbt auch die Menschlichkeit. Zugleich erleben wir herrlichstes Frühlingswetter, das nach Leben ruft und Leichtigkeit. Eine surreale Situation, oder?

Kiew, Mariopol, die Schwere der Gewalt rückt ausnahmslos jedem an Seele und Gemüt. Und es macht so zornig, wenn man sich vor Augen führt, wie ein Machthaber in seiner Gewissenlosigkeit und seinem Irrsinn Zehntausende tötet und alles in Grund und Boden bombt. So, dass buchstäblich kein Gras mehr wächst.

Was Gewalt mit Menschen macht, wie sie in Ängste versetzt und in Ohnmacht, wie sie Menschen in untröstliche Trauer stürzt und zur Flucht zwingt, ist uns auf einmal ganz nah gerückt, beeinflusst unser tägliches Denken und Fühlen. Ich glaube, nicht umsonst ist die Hilfsbereitschaft und Solidarität mit den Opfern und Geflüchteten in so unerschöpflicher Weise vorhanden. In ganz Europa, das auf einmal zusammenrückt. Und es macht mich auch hoffnungsmutig, zu sehen, wie achtsam und aufmerksam die Hamburgerinnen und Hamburger konkret Hilfe leisten. Spenden sammeln. Wohnraum zur Verfügung stellen. Auf Demos gehen. Den Engel in sich suchen und erkennen.

Und darin wird deutlich: Achtsamkeit ist die Gegenbotschaft zu Gewalt. Wer achtsam ist, achtet das Leben. Ist erfinderisch, es zu schützen. Ist präsent, sieht hin. Achtsamkeit ist wie Wasser in der Wüste.

Hagar in der Wüste – schwanger und auf der Flucht, sie könnte eine der Ukrainerinnen sein, die weinend vor Trauer und Erschöpfung auf den Bahnhöfen unserer Städte ankommen. Es ist eine der ältesten Geschichten der Bibel, lasst sie 3.000 Jahre alt sein. Hagar flieht zwar nicht in einem Krieg, aber sie flieht vor Hass und Missachtung, wenn man so will: vor häuslicher Gewalt. Ihr Menschenrecht wurde mit Füßen getreten. Man hat sie buchstäblich in die Wüste geschickt. Damals durchaus nicht ungewöhnlich – sie ist eine Frau, sie ist eine Magd, sie ist eine Fremde. Und ausgerechnet zu ihr, das ist eben genau die Achtsamkeit Gottes, genau zu ihr, die gesellschaftlich nicht im Blick ist, kommt ein Engel. Sieht sie in ihrer Wut und Empörung und trotzigen Würde. Stellt die Frage der Fragen: Wo kommst du her? Und wo gehst du hin? Ich bin auf der Flucht, antwortet sie.

Doch der Engel fragt ja tiefer noch: Wo kommt es her und geht es hin, das Leben? Was ist dein Sinn und Ziel? Es ist das Kind. Im Kind liegt Sinn und Ziel. Die neue Geburt der Hoffnung in so viel Sterbensnähe. Und der Engel segnet Hagar und ihr ungeborenes Kind, das gesund auf die Welt kommen wird. Es soll Ismael heißen, das meint: Gott hat gehört deine Not. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ sagt Hagar daraufhin dankbar. Endlich sieht sie jemand, da am Rand ihrer Kräfte, in der Wüste, am Rand der Gesellschaft.

Diese alte Geschichte versteht viel. Mag sein auch von uns. Von unseren Wüstenzeiten. Inneren Fluchten. Davon, wie wir uns schon einmal missachtet gefühlt haben und verletzt. Ausgegrenzt. Erst recht aber werden die, die Gewalt erleiden oder erlitten haben, dies kennen! Wie viele gibt es, die auf einmal zum Opfer wurden, von einer Minute zur anderen. Niedergeschlagen, gedemütigt, verstummt, angezählt. Und tatsächlich auch ausgegrenzt. Nicht gehört, weil nicht gesehen. Sie müssen immer wieder kämpfen um ihre Würde – auch in Gerichtsverfahren. Medien. Unter uns. Nicht gesehen zu werden, ist echte Wüstenzeit.

Dass Gewalt mitten unter uns passiert, lässt unsere Gesellschaft nur ungern an sich heran. Dass Polizisten erschossen werden, dass Angehörige vor Trauer vergehen, dass häusliche Gewalt gegenüber Frauen und Kindern zunimmt in der Pandemie, all das braucht klaren Blick und klare Worte. Deshalb ist mir dieses Gedenken jedes Jahr so wichtig. Weil es den Opfern Rederecht gibt. Denn nur sie geben uns eine Vorstellung davon, wie tief nicht allein der Körper, sondern die Seele verletzt sein kann und wie nachhaltig zerstörerisch es ist, Vertrauen ins Leben zu verlieren. Dass wir achtsam hinschauen, hinhören, ist das Mindeste, was sie von uns fordern können.

Deshalb ist es so wichtig heute derer zu gedenken, die untröstlich sind in ihrer Wüste. Genau denen Ansehen zu geben, die sich zurückziehen in ihre Angst und Einsamkeit. Achtsam eben. Mit ihnen reden, mit all den Kindern, die den Krieg nicht verstehen. Den alten Menschen, die in diesen Tagen von ihren Kriegstraumata aus der Kindheit erschüttert werden. Achtsam auch umgehen mit uns selbst, die wir um Worte ringen und Gott manchmal nicht verstehen.

Doch – Hagar sei Dank – Gott ist ein Gott, der uns sieht. Und der sieht und sagt mir: Bleibt berührbar durch das Elend und lasst den Hass nicht in euer Herz. Und also achtsam hingeschaut: auf die Polizisten, die ihr Leben lassen mussten, weil Hass und Hetze Menschen zu Gewalttätern machen. Achtsam hingeschaut: Wo Gewalt herrscht, braucht es Menschen, die Wunden verbinden und den Wehrlosen Asyl geben.

Deshalb werden wir wie jedes Jahr so auch heute zum elften Male Lichter der Hoffnung entzünden, die zeigen: We shall overcome. Wir glauben an die Kraft der Herzen, die der kriegsverwundeten Welt das Licht des Lebens entgegenhält. Unbeirrt – weil Gott einer ist, der uns sieht.
Amen.

Datum
22.03.2022
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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