23. März 2014 | Dom zu Schleswig

Denn Du hast einen weiten Weg vor Dir

23. März 2014 von Gothart Magaard

Okuli, Vorstellungsgottesdienst mit einer Predigt zu 1. Könige 19, 1-13 a

Die Gnade unseren Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch. Amen.

I.

Liebe Gemeinde,

dass Gott uns vom Tod ins Leben zurückholt, das kommt vor. Nicht oft. Aber es kommt vor. Dass er uns behutsam aufrichtet. Unsere Seele und unseren Leib versorgt und uns einen Neuanfang schenkt.

Manche unter uns können solche „Null-Punkte“ in der Geschichte ihres Lebens ohne Zögern benennen. Weil sie unvergesslich sind. „Null-Punkte“, an denen im Nachhinein deutlich wird: Hier hat Gott lebensrettend eingegriffen.

Klar ist aber auch: Solches Eingreifen Gottes führt nicht am Leid vorbei, sondern durchs Leid hindurch. Es stirbt etwas – an uns, in uns, um uns herum. Es wird etwas zu Grabe getragen und beerdigt, bevor Neues zur Welt kommt. Bevor sich ein Weg abzeichnen kann, der die vertrauten Bahnen verlässt. Dafür steht die Zentralgestalt unseres Glaubens, Jesus Christus, dessen Leidensweg hin zur Auferstehung wir in diesen Passionswochen bedenken. Und dafür steht das Zentralsymbol unseres Glaubens, das Kreuz, das noch immer den – nicht nur optischen – Fluchtpunkt unserer Kirchräume bildet. Er, der Gekreuzigte, ist es, auf den unsere Augen stets sehen[1] – nicht nur heute, am Sonntag Okuli.

II.

Auch der Prophet Elia ist an einem solchen „Null-Punkt“ angelangt. Leer und erschöpft sitzt er da unter dem Ginsterstrauch, wünscht sich zu sterben und spricht:

„Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Vorfahren. Und er legte sich hin und schlief unter dem Ginsterstrauch. Und siehe, ein Bote rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iß!

Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Bote Gottes kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iß! Denn du hast einen weiten Weg vor Dir.“

Elia ist ein Gottesmann, dem Gott aus dem Blick geraten ist. Und so hat er sich selbst dabei gleich mit verloren. Er ist in die Wüste geflohen – die Wüste auch seiner Theologie, er hat sich verrannt in religiösem Wahn. Da sitzt er nun, verfolgt von seinen Gegnern, vollkommen isoliert, mit sich selbst allein. Am Nullpunkt seiner religiösen Existenz und beruflichen Laufbahn: „Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter.“

Ein traumatischer Satz. Ist es nicht für jede Generation das erklärte Ziel, es auf jeden Fall anders, möglichst auch besser machen zu wollen als die Vorfahren? Umso größer der Schrecken zu merken: Ich bin auch nicht besser – oder vielmehr: ich erkenne mich in ihnen oder sie in mir wieder. Bei Elia ist das bis ins Abgründige gesteigert. Er ist am Tiefpunkt angekommen.

Wie konnte es nur dazu kommen? Das fragt man sich hinterher fast immer. Welche Warnsignale habe ich ignoriert, welche inneren Stimmen überhört? Welchen wohlmeinenden Rat habe ich einfach in den Wind geschlagen, welche grundlegenden Überzeugungen verlassen? Woran habe ich mich orientiert? Worauf geachtet und – am Sonntag Okuli – worauf haben meine Augen eigentlich gesehen? Was hatte ich im Blick? Und was gerade eben nicht?

Wir wissen, worauf Elia den Blick gerichtet hatte. Hinter ihm liegt eine Blutspur: 450 Propheten Baals und weitere 400 der Aschera hat Elia umbringen lassen, so erzählt die Geschichte. Unter dem Eindruck eines gewonnenen Wettstreits auf fremdem Terrain, dem Berg Karmel, lässt Elia sich dazu verleiten, seine religiösen Mitbewerber nicht nur mit Worten zu bekämpfen, sondern eben auch mit Gewalt. Ihm reicht der symbolische Sieg nicht; er braucht auch den der Gewalt. Er will besser sein als seine Väter. Gründlicher. Radikaler. Kompromissloser. Endgültiger. Mächtiger. Eindrucksvoller. Für all dies fehlte ihm jedoch jegliche Legitimation. Dazu hatte ihm Gott, sein Gott, keinen Auftrag erteilt.

Wohin blinder Hass führen kann! Als Schleswig-Holsteiner fühle ich mich da – angesichts zahlreicher Gedenkveranstaltungen und Ausstellungen in diesem Jahr – an die blutigen deutsch-dänischen Schlachten an den Düppeler Schanzen erinnert, an die Schlachtbank Düppel.

„In Gottes Namen drauf“, rief der greise Wrangel seinen Offizieren zu. „In Gottes Namen, nein!“ – möchte ich entgegnen und merke, wie glücklich und dankbar ich heute über das gute Miteinander im dänisch-deutschen Grenzland bin, das uns das gemeinsame Betrauern der Toten ermöglicht und uns ermahnt: Nie wieder!

Zurück zu Elia: Bei dem Wettstreit auf dem Berge Karmel ging es nur vordergründig um die Frage, welcher Gott wirksamer war inmitten einer lebensbedrohlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise. Der eigentliche Streitpunkt war die Frage, welche Grundüberzeugungen angesichts der Krise gelten sollen:

Da gab es die Baals-Gottheiten mit den Parametern Wachstum, Stärke, Expansion. Zu deren Anhängern – so stellt es das 1. Buch der Könige dar – zählte sich auch die damals einflussreiche Frau des Königs Ahab, Isebel, die Elia in die Flucht zwang.

Und auf der anderen Seite stand der Gott Israels. Elia folgt ihm und hat ihn doch später missverstanden: aus heiligem Zorn über das Unrecht ist blinder Eifer geworden. Unter dem Ginsterstrauch spürt er selbst, wie er wirklich ist, dieser Gott, der der Unsichtbare ist, der „Ich bin der Ich bin“. Der Gott Abrahams und Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakobs und Rahels. Der in einer Wolke oder Feuersäule Vorangehende, der in Träumen Erscheinende. Der Gott, der sich nicht erpressen oder von Menschen manipulieren lässt.

III.

Wem vertraut man in der Krise? Wem traut man die Kraft zu, uns da heraus zu führen? Angesichts der Themen unserer Tage – nachhaltiges Wirtschaften, Klimagerechtigkeit, Kinderarmut, alte und neue Krisenherde und Kriegsschauplätze – sind das bis heute kontrovers diskutierte Fragen. Worauf setzen wir als Kirche? Worauf setzen wir als Christinnen und Christen? Auf wem ruht am Sonntag Okuli unser Blick?

Es geht um nicht weniger als um die Eckpfeiler unseres Lebens. Es geht darum, auf welcher Grundlage wir versuchen, uns über unser Zusammenleben zu verständigen und es zu organisieren. Anders als in anderen Religionen gehört dazu im Christentum, nach evangelischem Verständnis kein bestimmtes, festgelegtes Gesellschaftsmodell. Es gibt keinen Gottesstaat, keine Theokratie und auch kein Kastensystem.

Es gibt sie nicht mehr, muss man ehrlicherweise sagen, denn auch bei uns in Europa hat es lange genug gedauert, bis sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat. Eine Errungenschaft, im wahrsten Sinne des Wortes. Zu diesen Errungenschaften, zu diesen Eckpfeilern, auf denen unser Zusammenleben ruht, gehört die Menschenwürde. Und zwar jedes einzelnen Menschen, unabhängig von seiner sozialen Anerkennung, dem Grad an Akzeptanz, dem gesellschaftlichen Einfluss oder seiner Systemrelevanz. Unabhängig auch von seinen Taten oder Untaten. Der Mensch kann sich seine eigene Würde weder verdienen, noch kann er sie verspielen. Selbst wenn er so hilflos daliegt wie Elia in der Wüste, selbst wenn er zuvor ein unvorstellbares Verbrechen begangen hat, wie Elia zuvor am Karmel.

„Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iß! Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor Dir.“

Elia erfährt am eigenen Leib, welchen Weg der Gott Israels wählt. An seinem Nullpunkt bleibt Elia nicht allein. Er erfährt behutsame Zuwendung. Zweimal besucht ihn der Bote Gottes und versorgt ihn mit den Grundnahrungsmitteln des Leibes – Wasser und geröstetes Brot – dazu das, was die Seele lebensnotwendig braucht: das ermutigende Wort und den Zuspruch. Gott würdigt Elia eines rettenden Blickes. Er richtet ihn auf, in der achtsamen Liebe des Schöpfers, der weiß, was Not tut.

Liebe Gemeinde, diese Worte höre ich auch für uns als Kirche im 21. Jahrhundert als Zuspruch. Wir erleben in unserer Gesellschaft Menschen, die hochmotiviert und engagiert, und manchmal getrieben sind, und die dann mit ihrem „erschöpften Selbst“[2] konfrontiert werden. Ausgebrannt. Sich selbst nicht mehr spürend. Der Bote Gottes bringt das Lebensnotwendige – und ich verstehe ihn als Ermutigung für uns.

Es ist zum einen unsere Aufgabe, Menschen zu würdigen, mit einem Blick, einer Geste, einem freundlichen Wort, einer konkreten Lebenshilfe, so wie ich es hier im Sprengel und in unserer Nordkirche vielfach erlebe. Es ist unsere Aufgabe, für die Würde eines jeden Menschen öffentlich einzustehen.

Und es ist zugleich so wichtig, aufmerksam für uns selbst zu bleiben. Denn es ist um Gottes Willen geboten, dass wir neu lernen innezuhalten. Wie Elia auf seinem weiteren Weg aufmerksam zu werden auf die Kraft, die von dem gerade noch Wahrnehmbaren ausgeht, von der Stimme schwebenden Schweigens[3]. Hinzuhören auf den Zuspruch, der auch uns gilt. Auch die Boten können erschöpft sein, und auch sie sind behutsam und liebevoll beachtete Geschöpfe Gottes. Elia hört nicht: „Steh auf, und los mit dir …“, Elia hört: „Steh auf und iss …“.

Gemeinsames Essen, ob beim Nordkirchenfest an langen Tafeln unter der Ratzeburger Sonne, bei den Sprengeltagen in Rendsburg, beim sonntäglichen Abendmahl, alles unter dem Vorzeichen der Christus-Zusage: „Ich bin das Brot des Lebens“ – das ist eine der Grundübungen unseres Glaubens, denen wir Raum und Zeit schaffen und die wir pflegen wollen. Aus diesen elementaren Momenten, im gemeinsamen Hören und Singen, im Beten und Arbeiten, im Essen und Tanzen wächst der Glaube.

Der Bote Gottes sagt: „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.“ – Es ist ein ermutigendes Wort für jeden und jede von uns und für unsere ganze Kirche! Wir leben in einer Zeit, in der die Grundelemente, die einfachen Dinge mit Freude wiederentdeckt werden, Reduktion und Konzentration auf das Wesentliche. Und wir erfahren: Gott wirkt an uns auf geheimnisvolle Weise mit Wort und Wasser und Brot und Wein.

Ja, Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig! Amen.  

 

 


[1] Leitvers des Psalms 25: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen!“

[2] Ehrenberg, Alain, Das Erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2008.

[3] Vgl. Martin Buber/Franz Rosenzweig

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