Der Retter bin nicht ich
08. Dezember 2013
Predigt zum 2. Advent auf dem Gut Schierensee zu Jesaja 35, 3-10 und Markus 11, 2-10
Liebe Gemeinde!
Der biblische Text für den heutigen 2. Sonntag im Advent führt uns hinein in das 35. Kapitel des Jesajabuches im Alten Testament – eine der wunderbaren Verheißungen, die das Judentum bewahrt hat in der Erwartung auf den von Gott gesandten Messias, den Erlöser und Heiland.
35,3 Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! 35,4 Saget den verzagten Herzen: «Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.» 35,5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 35,6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. …
35,10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.
II
Adventszeit, liebe Schwestern und Brüder: nicht nur Zeit der Lichtermeere, des Glühweinduftes; nicht nur Zeit der Besinnung, der schönen Geschichten.
Ich mag die Lichtermeere in unseren Städten, mag es, dass das Licht fließt und überströmt, mag diese üppige, verschwenderische Lichtwellen, die herab stürzen auf die Menschen, sie einhüllen und mittragen hin zu dem Tag der Sehnsucht, wenn es heißt: fürchtet euch nicht! Da sehen wir, spüren wir: Leben kommt in die Kälte, Licht ins Dunkel. Nichts bleibt, wie es ist.
In der letzten Woche habe ich meine kleine Enkelin, Paula, über einen Weihnachtsmarkt geführt – ihr erstes Erlebnis dieser Art mit ihren noch nicht einmal zwei Jahren. Und ich habe es genossen, wie dieses Kind staunte, wie ihr Kopf im Nacken saß, damit die Augen ganz und gar auf das Licht in den Bäumen, an den Fassaden, an den Buden und – in den Augen der Menschen aufnehmen konnten. Vergessen die Angst, zu stolpern. Das ganze Kind schien erleuchtet, mitgenommen vom Licht – die kleine Paula und ihr Opi mit. „Da, Opi: Himmel“, sagte Paula, da, Opi: Himmel!“ Ja: Advent kommen Himmel und Erde zusammen. Manchmal ein harter Kontrast.
Adventszeit: Zeit der Vorfreude. Zeit der Erwartung und der Sehnsucht nach Freiheit. Und die gibt es reichlich und sehr unterschiedlich. Da ist die Vorfreude der Kinder auf das Weihnachtsfest, wenn alles hell und licht ist; wenn zu spüren ist, dass wir Beschenkte sind, Überschüttete mit Gutem. Wer weiß, vielleicht spüren das hier auch die Tiere im Stall – die Vorfreude der Menschen?
Und da ist eine ganz andere Vorfreude, die sich Ausdruck verschafft in den Worten des Propheten Jesaja: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen!“
Da ist tatsächlich von Rache die Rede – und von Furchtlosigkeit zugleich! Aber was für eine Rache wird da angekündigt: Gott begegnet der Zerstörung und Verirrung, dem Lug und dem Trug mit – Leben, mit Fülle! Nein: was ihr seht, ist nicht alles, da ist mehr als alles! Wasser in der Wüste, Bewegung in den Lahmen, Hoffnung in den Hoffnungslosen! Neuer Blick auf die Welt.
Das ist die Vorfreude auf einen Gott, eine Kraft und eine Macht, die dazwischenfährt, die aufräumt, die Schluss macht mit Elend und Verfolgung und Vertreibung. Starke Bilder von Befreiungssehnsucht begleiten uns in den anderen Advent: „O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für!“ – Was für eine Sehnsucht schafft sich da Bahn?! Und selten ist diese Sehnsucht so mit Händen zu greifen und mit allen Sinnen wahrzunehmen, wie auch wieder in diesem Jahr.
Das wird womöglich das Bild des Jahres: der verzweifelt weinende philippinische Delegierte beim Klimagipfel in Warschau. Nachdem der Taifun weite Teile seines Landes verwüstet hatte und gleichzeitig der Klimagipfel an der Hartleibigkeit und Ignoranz der Industrieländer und der „Schwellenländer“ wieder einmal ergebnislos zu verlaufen drohte, fragte, verweisend auf die ungezählten Toten: wie lange wollen wir noch untätig zusehen, wie viele Menschen müssen ihr Leben noch lassen, bis wir zu der Verantwortung stehen für die Schöpfung!?
Wir wissen es doch – nicht nur das Klima ist aus dem Gleichgewicht gefallen! Die Balance zwischen Mensch und Natur stimmt nicht mehr; allzu viel muten wir zu Feld und Wald, Pflanze und Tier. Bei aller Freude und bei aller Dankbarkeit über die Fülle und den Reichtum von Gottes guter Schöpfung – heißt Advent eben auch: Was mache ich? Nicht die anderen! Was ist mit mir? Wo lebe ich denn so, dass ich übermäßig viel Schaden anrichte oder Müll produziere? Wir wissen es doch alle – es ist genug für alle da an natürlichen Ressourcen, an Nahrungsmitteln, an Brot für die Welt. Aber leider: Wenige haben viel – Viele haben nichts! Darum auch die Flucht übers Meer, hin zu uns in das reiche Europa, aus purer Not und Verzweiflung.
Es ist offenbar, dass ein "Weiter so" diese Erde nicht retten und erhalten kann. Umkehr ist nötig, offenbar muss werden, was denn rettet! Das ist der Advent, der solches hervor bringt. Das ist diese Zeit der Ansagen. Und immer noch gilt des Propheten Klage: warum will dieses Volk nicht, warum kehrt es nicht um, wo es doch sieht, wohin es treibt?
O Heiland, reiß die Himmel auf!
III
Der Abschnitt aus dem Matthäus-Evangelium, den wir gehört haben, nimmt diese Fragen auf, liebe Schwester und Brüder, und fügt die eine entscheidende Frage hinzu – die Frage des Johannes an Jesus, den Christus:
„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“
Das ist die entscheidende Frage im Advent – die Frage die nicht gleich neue Aktion hervorruft, sondern die ein "Stop!" markiert, ein "Halt inne", ein "Warte!"
Rettung wird kommen, der Retter wird kommen, ja – aber der Retter bin nicht ich. Nicht von mir und meinem Tun hängt das Wehe und das Heil der Welt ab! Gottes Sache ist es, uns Menschen zu bewahren vor dem Allmachtswahn!
Und die, die nicht mehr hinsehen mögen, die kaum aushalten können das Dunkel in der Welt, die sich sehnen nach Licht und Hoffnung: denen sind geschenkt die Bilder von der neuen Welt, von der Welt, wie Gott sie meint:
"Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen." 35,5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 35,6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. …
Überströmende Bilder guten Lebens, voller Hoffnung, voller Vitalität. Advent: wir bekommen ein Bild davon, wie Gott sich diese Welt denkt, wie sie sein kann. Und wir bilden genau das ab, wenn wir das Lichtermeer brausen lassen und die Klänge der Bläserinnen und Bläser, der Sängerinnen und Sänger hier im Stall und in den Kirchen und auch in den Wohnzimmern: wenn wir singen und klingen lassen die Gewissheit, dass nichts bleiben muss, wie es ist, dass nichts im Dunkel bleiben muss; dass Frieden werden kann; dass niemand sich fürchten muss. Advent heißt: Mit Gott rechnen. Sein Kommen auf dem Zettel zu haben! Ihm also Raum und Zeit zu lassen, damit er hineinfallen kann in unser Denken und Tun! Advent heißt: Da kommt einer, der frei macht, der aufsperrt, der den Himmel aufreißt.
Liebe Schwestern und Brüder, überall da, wo wir aufnehmen den Fremdling; überall da, wo wir sorgen für die, die verzweifelt sind; Mensch und Tier – das ist der Reiz auch hier in diesem Stall jedes Jahr wieder: der Traum von der Versöhnung der Geschöpfe! Ja: wo wir Gastfreundschaft wagen, überall da, wo wir teilen miteinander, was wir zum Leben haben – überall da tut sich Verschlossenes auf.
Das ist die wunderbare Botschaft im Advent: was verschlossen scheint, muss verschlossen nicht bleiben. Gott lässt uns dahinter schauen. Er lässt uns sehen, was offenbar ist: seinen Frieden, seine Gerechtigkeit, seine Menschlichkeit. Lässt uns all das sehen in dem Kind im Stall, dessen Eltern ebenfalls vor verschlossenen Türen erst stehen mussten, bevor ihnen aufgetan wurde.
Gott ist im Kommen. Er sieht, was hier geschieht. Er will nicht hinnehmen Leid und Elend, Blut und Mord und Flucht und Hass und Machtgier. Er kehrt sich nicht ab, sondern kehrt um – zu uns.
Das traut Gott uns zu, dazu will sein Advent uns leuchten: dass wir unsere kleine Kraft nutzen, den kleinen Glauben in die Waagschale werfen. Dass wir den Bildern, den Lebensbildern des Advent, den Lichtern trauen, dass sie sich festsetzen in uns als Wegweiser durch unsere Lebenswege, als Hoffnung über den Tag hinaus!
Das ist es, was uns der andere Advent ins Herz schreibt – und was wir sichtbar machen in diesen Wochen mit all ihren Lichtern und Düften. Himmel kommt zur Erde. Wie Paula sagt: „Da, Opi: Himmel!“
Amen.