11. November 2018 | St. Nikolai in Kiel

Die Zeichen der Zeit

11. November 2018 von Gothart Magaard

Gottesdienst zum Ende des 1. Weltkriegs und Kieler Matrosenaufstand

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.

Liebe Gemeinde,

Erinnert ihr euch?

das Gedicht „Drei Minuten Gehör“ von Kurt Tucholsky bringt das Thema dieses Gottesdienstes mit der wiederkehrenden Frage auf den Punkt. 100 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und des Matrosenaufstandes geht es um die Erinnerungskultur.

Erst mit dem historischen Abstand hören wir heute im Einklang Tucholskys Anti-Kriegs-Gedicht und die Seligpreisungen beieinander als eine Mahnung zum Frieden, weil wir erst viel später gelernt haben, dass der Frieden ein gemeinsames Anliegen ist.

Tucholsky selbst musste seine Haltung noch sehr einsam vertreten und kam gar nicht drum herum, seine Friedenshaltung mit religionskritischen Spitzen zu verbinden, weil die Kirchen selbst verstrickt waren in diesen großen Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Mit Gott für Kaiser und Vaterland“.

Erinnert ihr euch?

Die Erinnerungskultur in Deutschland geht am Ersten Weltkrieg nicht vorbei. Und doch ist durch die noch größere Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus die Erinnerung an die 17 Millionen Menschen, die zwischen 1914 und 1918 ihr Leben durch den Krieg verloren haben, überlagert.

Ja, der Erste Weltkrieg war auch schon ein Tiefpunkt in der Geschichte der europäischen Zivilisation und heute ist es so schwer zu verstehen, wieso die Schrecken, das Leid und die Opfer des Krieges nicht Mahnung genug waren, um in Europa einen Geist der Versöhnung zu leben und einen weiteren Krieg zu verhindern.

Und es bleibt für uns heute auch die Frage, wieso die Erinnerung an das Leid nicht Mahnung genug war, um in Deutschland die junge Demokratie nicht länger als nur 15 Jahre zu bewahren.

Zur Erinnerung an 1918 gehört die Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich Demokratie durchsetzen kann und welchen Gefährdungen sie ausgesetzt ist.

Die Matrosen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben und geahnt haben, dass ein erneutes Auslaufen gegen die britische Flotte den sicheren Tod kurz vor Ende des Krieges bedeutet hätte, werden hundert Jahre später in Kiel als Kämpfer der Demokratie gefeiert.

Die Diskussion, die noch vor 30 / 40 Jahren die Gemüter erregte, ob die Matrosen als revolutionäre Vorkämpfer oder als Anstifter einer Meuterei betrachtet werden sollen, ist glücklicher Weise vorbei. Der damalige Streit um die Einweihung des Denkmals „WIK – Feuer aus den Kesseln“ ist heute nicht mehr vorstellbar und erst durch die Arbeit an den Quellen, die vor 40 Jahren eine neue Intensität bekommen hatte, wird der Blick klarer.

Die dramatischen Tage in der ersten Novemberwoche vor hundert Jahren hier in Kiel haben die Menschen aufgewühlt und gegen den Krieg und für Demokratie auf die Straßen gebracht. Die Stimmung war aufgewühlt und gefährlich – mit Schießereien und Toten und Verletzten.

Für ein paar Tage wurde die Macht in der Stadt von den Soldaten und Arbeitern aus den Angeln gehoben und dann begann mit dem 9. November die schwierige Phase der Ausgestaltung der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland: die Weimarer Republik, die von zu vielen unterschiedlichen Gruppen nicht die Anerkennung bekommen hat, die sie verdient gehabt hätte.

Erinnert ihr euch?

Zur Erinnerung gehört, dass wir uns eingestehen müssen, dass auch die Kirchen die Zeichen der Zeit nicht im Sinne einer demokratischen Republik gedeutet haben. Zu fest war die seit der Reformation eingegangene Bindung von Thron und Altar im Denken der evangelischen Kirchenvertreter verankert, dass es nur sehr wenige Vordenker geschafft haben, die Demokratie zu befördern. Am Bußtag 1918 fand Fritz Engelke, der verantwortliche Redakteur des Kirchen- und Schulblattes eindringliche Worte, mit denen er das Versagen der Kirche eingesteht: Es wird ewig eine Schmach der Kirche bleiben, wie leichtsinnig sie sich mit der Tatsache des Krieges abgefunden habe, um Kriege zu verhüten und um das Volk und Völkerleben mit Bergpredigtgedanken zu durchdringen.

Den Chroniken von Kirchengemeinden auch in Kiel ist die Trauer über den Untergang des Kaiserreiches deutlich abzulesen, sowie die Sorge vor einer Revolution sowjetischen Vorbilds, wo der Glaube an Gott und das kirchliche Leben keinen Platz mehr gehabt hätte.

Nein, mit der Revolution in Kiel hatte die Kirche nichts zu tun und es hat lange gedauert, bis sich die evangelische Kirche mit der Demokratie arrangiert hat. Und es hat noch lange gedauert bis zur „Stuttgarter Schulderklärung“ nach dem 2. Weltkrieg 1945: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. (…) Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben….“

Wurden die Zeichen der Zeit nicht erkannt?

Es ist nicht an uns darüber zu urteilen. Vielmehr geht es darum, heute die Zeichen der Zeit zu erkennen und das Richtige zu tun. Der kurze Abschnitt aus dem Matthäusevangelium, den wir vorhin gehört haben, enthält den Vorwurf, die Zeichen der Zeit nicht deuten zu können. Ein provokanter Text, weil Jesus sich selbst verweigert, Zeichen zu setzen.

So fordert mich seine Mahnung heraus, genau hinzuschauen, was in der Welt geschieht und wie ich mich in der Nachfolge Jesu dazu verhalte und darüber miteinander zu sprechen. D.h. Hassparolen und Ausgrenzung entgegen zu treten und Begegnung und Dialog mit unseren jüdischen und muslimischen Mitbürgern zu suchen und die Kraft der Zivilgesellschaft sichtbar zu machen.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                             

An einem Erinnerungstag wie heute ist es mir wichtig zu betonen, dass ich mir den christlichen Glauben nicht ohne eine Erinnerungskultur vorstellen kann. Eine Kultur, die das, was Unrecht ist und was Leid und Schrecken über die Welt gebracht hat, nicht vergisst. Es ist ein Erinnern, das auch die eigenen Schattenseiten nicht übersieht.

Doch vor allem ist mir die Erinnerung so wichtig, weil ich mir eine Zukunft ohne sie nicht vorstellen kann. Ich glaube, dass wir die Erinnerung an die Schrecken des Krieges, aber auch die Erinnerung an den Kampf für die Demokratie und an die Gefährdungen, denen sie ausgesetzt war, brauchen, um unsere Gesellschaft und das gemeinsame Europa zu gestalten..

Ich bin nicht nur froh und dankbar, dass ich in einer freiheitlichen Demokratie aufwachsen und bis heute leben durfte, sondern auch, dass wir als Kirche nach einem langen Prozess gelernt haben, unseren Glauben und die Demokratie zusammenzudenken. Und es ist eine gemeinsame Aufgabe von Staat und Kirche, die unantastbare Würde der Person anzuerkennen und zu achten.

Es wird viel darüber diskutiert, wie politisch die Kirche sein soll. Für die Einen gehören sämtliche politische Äußerungen nicht zu unserem Auftrag und für die Anderen können wir uns als Kirche gar nicht politisch genug zeigen.

Der Auftrag der Kirche bleibt klar. Es geht darum, das Evangelium in Wort und Tat zu verkündigen. Also ist es wichtig die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu deuten. Deshalb müssen wir uns politisch einmischen, wenn die Unantastbarkeit der Menschenwürde als Grundlage unseres Zusammenlebens gefährdet ist und wir müssen uns einmischen, wenn die Erinnerungskultur aufhört, nach der Wahrheit zu fragen. Dann ist der Auftrag, nach Versöhnung zu suchen, um Spaltungen zu überwinden.

Ja, wenn es darum geht, Demokratie zu leben, dann muss Kirche politisch sein. Genauso wenn die Kirchen einen Beitrag leisten, Versöhnung über Grenzen hinweg zu leben. Erste Anfänge hat es schon zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg in der ökumenischen Bewegung gegeben.

Die große Geste der Versöhnung kam dann nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Nagelkreuzen aus Coventry. Kiel war mit dieser Nikolaikirche 1947 der erste Ort, der dieses Kreuz aus Nägeln, die aus den Ruinen der von Deutschen zerstörten Kathedrale in Coventry stammten, als Zeichen der Versöhnung bekommen hat. Diese Versöhnungsgeste trägt dazu bei, dass die Europäische Idee mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft.

Und ich erinnere mich gut an die Feierlichkeiten im vergangenen Jahr zu 60 Jahren Städtepartnerschaft zwischen Coventry und Kiel und zu 70 Jahren Verbundenheit durch das Nagelkreuz mit Gesprächen, Begegnungen und einem Gottesdienst mit einer Predigt von Bischof Christopher aus Coventry.

Bei der Gelegenheit besuchten wir mit Bischof Christopher aus Coventry den britischen Soldatenfriedhof und die deutschen Soldatengräber, wir verharrten in Stille und beteten gemeinsam auf dem britischen und auf dem deutschen Soldatenfriedhof. Und heute ist Pröpstin Witt mit einer  Delegation aus Kiel zu Gast in Coventry.

Und gestern sind wir einen deutsch-dänischen Friedensweg in Flensburg gegangen. Eine Prozession von St. Marien über die dänische Heilig-Geist-Kirche zum Museumsberg. Der Museumsleiter berichtete von einer Stele vor der ehemaligen Oberrealschule, auf der die Namen von 183 Schülern und Lehrern stehen, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben verloren haben.

Wir haben zweisprachig gebetet, gesungen und auf Gottes Wort gehört. Und dort auch erfahren, dass die Kirche Jesu Christi weit über die Grenzen unserer Nationen reicht. Sie ist eine andere Art der Globalisierung: Sie verbindet uns in Christus mit Menschen aus der ganzen Menschheitsfamilie.

Diese Gemeinschaft zu erleben habe ich vielfach als beglückend und bereichernd erlebt! Sie ermöglicht uns, die Perspektive unserer Glaubensgeschwister kennenzulernen und nationalistischen Parolen entgegenzutreten.

Dem Gedanken der Versöhnung weiter zu folgen und so die Gemeinschaft über Grenzen hinweg zu pflegen ist mir ein besonderes Anliegen. Wenn ich auf Deutschland und Europa schaue, dann deuten die Zeichen der Zeit darauf, dass es in Anlehnung an das Kieler Stadtmotto zum Matrosenaufstand darum geht, die Demokratie zu stärken und Versöhnung über Grenzen hinweg zu leben.

Amen.

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