8. Dezember 2013 | Dom zu Schwerin

Eine Zeit der Ansagen

08. Dezember 2013 von Gerhard Ulrich

Predigt am 2. Advent zu Jesaja 35, 3-10 und Lukas 21, 25-31

I

Liebe Gemeinde!

35,3 Stärket die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! 35,4 Saget den verzagten Herzen: «Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.» 35,5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 35,6 Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. (Jesaja 35,3-10)

II

In den Texten aus der Heiligen Schrift begegnen wir in der Adventszeit dieser unglaublichen Spannung: Dunkel – Licht; Rache – Hilfe; Gericht – Liebe; Vergeltung – Vergebung… - Wir haben das in den Lesungen des heutigen Sonntags gehört.

Das bezeichnet die Spannung, in der sich unser Leben insgesamt entfaltet; die Spannung, in der unser Glaube sich bewähren soll: Glaubenswissen streitet mit dem Erfahrungswissen!

Adventszeit, liebe Schwestern und Brüder: nicht nur Zeit der Lichtermeere, des Glühweinduftes; nicht nur Zeit der Besinnung, der schönen Geschichten.

Adventszeit: Zeit der Vorfreude aber. Zeit der Erwartung und der Sehnsucht nach Freiheit. Und die gibt es reichlich und sehr unterschiedlich. Da ist die Vorfreude der Kinder auf das Weihnachtsfest, wenn alles hell und licht ist; wenn zu spüren ist, dass wir Beschenkte sind, Überschüttete mit Gutem.

Und, ich gebe es zu – auch wenn das vielleicht nicht vollkommen politisch korrekt ist: ich mag die Lichtermeere in unseren Städten, mag es, dass das Licht fließt und überströmt, mag diese üppige, verschwenderische Lichtwellen, die herab stürzen auf die Menschen, sie einhüllen und mittragen hin zu dem Tag der Sehnsucht, wenn es heißt: fürchte dich nicht.

In der letzten Woche habe ich meine kleine Enkelin, Paula, über einen Weihnachtsmarkt geführt – ihr erstes Erlebnis dieser Art mit ihren noch nicht einmal zwei Jahren. Und ich habe es genossen, wie dieses Kind staunte, wie ihr Kopf im Nacken saß, damit die Augen ganz und gar auf das Licht in den Bäumen, an den Fassaden, an den Buden und – in den Augen der Menschen aufnehmen konnten. Vergessen die Angst, zu stolpern. Das ganze Kind schien erleuchtet, mitgenommen vom Licht. Und immer wieder brabbelte Paula: „Da, Opi, Himmel!“ Ja, im Advent kommen Himmel und Erde zusammen.

Da ist noch eine ganz andere Vorfreude, die sich Ausdruck verschafft in den Worten des Propheten Jesaja: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen!“

Ja: von Rache ist die Rede und von Furchtlosigkeit zugleich. Aber was für eine Rache wird da angekündigt: Gott begegnet der Zerstörung und Verirrung, dem Lug und dem Trug mit – Leben, mit Fülle! Nein: was ihr seht, ist nicht alles, da ist mehr als alles! Wasser in der Wüste, Bewegung in den Lahmen, Hoffnung in den Hoffnungslosen! Neuer Blick auf die Welt.

Das ist die Vorfreude auf einen Gott, eine Kraft und eine Macht, die dazwischenfährt, die aufräumt, die Schluss macht mit Elend und Verfolgung und Vertreibung. Starke Bilder von Befreiungssehnsucht begleiten uns in dem anderen Advent: „O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab  vom Himmel lauf. Reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für!“ – haben wir gesungen. Und selten ist diese Sehnsucht so mit Händen zu greifen und mit allen Sinnen wahrzunehmen, wie auch wieder in diesem Jahr.

Das wird womöglich das Bild des Jahres: der verzweifelt weinende philippinische Delegierte beim Klimagipfel in Warschau. Nachdem der Taifun weite Teile seines Landes verwüstet hatte und gleichzeitig der Klimagipfel an der Hartleibigkeit und Ignoranz der Industrieländer und der „Schwellenländer“ wieder einmal ergebnislos zu verlaufen drohte, fragte, verweisend auf die ungezählten Toten: wie lange wollen wir noch untätig zusehen, wie viele Menschen müssen ihr Leben noch lassen, bis wir zu der Verantwortung stehen für die Schöpfung!?

Solche Bilder, solche Fragen prägen das Jahr 2013: gekenterte Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer; Bilder von geborgenen Leichen von Menschen, die in verzweifelter Hoffnung auf ein gutes Leben in Frieden ihre Heimat verlassen und sich Schleppern anvertraut hatten; Flüchtlinge, die sich aufs Mittelmeer begeben, sich dabei lieber der Lebensgefahr aussetzen und dubiosen Schleppern anvertrauen als in der Heimat zu bleiben, wo Diktatoren sie mit Gift besprühen, verfolgen, metzeln; wo sie nicht wissen, wie sie sich und die Ihren ernähren; wo sie verfolgt und bedroht sind an Leib und Seele wegen ihres Glaubens. Und dann kommen sie, wenn sie Glück haben und nicht zuvor in den Fluten ertrinken, an in einem Land ihrer Sehnsucht, nach Europa – und finden die Türen versperrt! Europa, das freie, reiche Europa: eine Festung mit Stacheldraht und nun auch mit einem feinen Hightech-Programm, das Flüchtlinge rechtzeitig aufspürt; unerträgliche Zustände auf Lampedusa: wie viele Menschen müssen noch sterben, bevor wir aufwachen, bevor wir eingreifen und die Ursachen beseitigen von Flucht und Hunger?

Immer wieder stehen wir sozusagen am Abgrund und Blicken entsetzt hinein: es ist offenbar, dass ein "Weiter so" diese Erde nicht retten und erhalten kann. Umkehr ist nötig, offenbar muss werden die Konsequenz und offenbar muss werden, was denn rettet! Das ist der Advent, der solches hervor bringt. Das ist diese Zeit der Ansagen. Und immer noch gilt des Propheten Klage: warum will dieses Volk nicht, warum kehrt es nicht um, wo es doch sieht, wohin es treibt?
O Heiland, reiß die Himmel auf!

III

Der Abschnitt aus dem Lukas-Evangelium, den wir gehört haben, nimmt diese Fragen auf, liebe Schwester und Brüder, treibt sie in Bildern von Untergang und Neuanfang auf die Spitze, der Himmel wird aufgerissen:

21,25 Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, 21,26 und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. 21,27 Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. 21,28 Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.

Ja, wunderbar: Aufrechter Gang! Kopf hoch! „Seht auf und erhebt eure Häupter, weil nahe ist eure Erlösung.“

Erhebt eure Häupter: das ist die Gegenbewegung gegen den Reflex, wegzusehen, vom Elend sich abzuwenden. Nur wenn ihr hinseht auf die Welt, höre ich Jesus, seht ihr auch, wer da kommt zu retten; seht ihr: Gott bleibt nicht im Himmel.

Und die heilige Schrift lässt uns nicht im Unklaren darüber, wie diese Erlösung aussieht. Denn so schreibt der Seher Johannes in der Offenbarung:

Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf:

Das ist die Sehnsucht, die die Menschen umtreibt, die uns alle umtreibt, die wir eingebunden, gefangen sind in Alltag und Druck, in Systemen von Leistung und Perfektion; in Strukturen, die keinerlei Fehlerfreundlichkeit haben – die also unmenschlich sind.

Da kommt einer, der frei macht, der aufsperrt, der den Himmel aufreißt.

Das wird zu sehen sein, wenn Gott kommt, wenn er herunterkommt zu denen, die im Finstern sitzen, die nicht wissen, wohin. Offene Türen.

Liebe Schwestern und Brüder, überall da, wo wir aufnehmen den Fremdling; überall da, wo wir sorgen für die, die verzweifelt sind; überall da, wo wir teilen miteinander, was wir zum Leben haben – überall da tut sich Verschlossenes auf. Überall da gehen Türen auf, die in eine Zukunft führen. Das ist die wunderbare Botschaft im Advent: was verschlossen scheint, muss verschlossen nicht bleiben. Gott lässt uns dahinter schauen. Er lässt uns sehen, was offenbar ist: seinen Frieden, seine Gerechtigkeit, seine Menschlichkeit. Lässt uns all das sehen in dem Kind im Stall, dessen Eltern ebenfalls vor verschlossenen Türen erst stehen mussten, bevor ihnen aufgetan wurde.

Und wir werden sehen, was wir hoffen, wohin wir uns ausstrecken: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme in dürrem Land….“ – So verheißt es Jesaja, der Prophet, der mit den Vertriebenen im Exil ist und nicht aufgibt die Sehnsucht, die sich ausstreckt über diese Welt hinaus.

Advent: wir bekommen ein Bild davon, wie Gott sich diese Welt denkt, wie sie sein kann. Diese Bilder, diese Offenbarungen wollen uns auf die Beine bringen, wie die Hirten damals, die losgehen auf die bloße Verheißung der Engel hin, und die ausbreiten, was sie gesehen, mit eigenen Augen gesehen hatten: der Heiland ist geboren! Der, der das Geknickte aufrichtet. Und der das Verglimmende neu entfacht: der also nicht lassen will von unserer Hoffnung.

Gott ist im Kommen. Er sieht, was hier geschieht. Er will nicht hinnehmen Leid und Elend, Blut und Mord und Flucht und Hass und Machtgier. Er kehrt sich nicht ab, sondern kehrt um – zu uns.

Er weiß, was wir brauchen. Aufrechter Gang! Kopf hoch!

Aber: wer den Kopf hebt, der sieht, der nimmt zuerst die Welt wahr, wie sie ist. Der sieht eben nicht weg, sondern hin. Und sieht beides: die Realität der Welt und die Realität Gottes in ihr. Der wird sehen über das hinaus, was diese Welt zu bieten hat: der wird vertrauen darauf, dass ins Wanken gerät, was fest zu stehen scheint.

„Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.“

Die Welt trauert in diesen Tagen um einen großen Mann: Nelson Mandela. Einer, der unbeirrt gestritten hat für Gerechtigkeit und Frieden für alle Menschen; gegen Apartheid und Rassismus jeder Art. Er hat sich nicht klein gemacht – auch nicht, als er verurteilt und für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt wurde. Er hat nie aufgegeben seine Hoffnung, seine Sehnsucht nach Befreiung. „Am Tag, als Mandela ins Gefängnis kam, wusste ich, was möglich ist, wenn einer sich von seiner Hoffnung leiten läßt und nicht von der Angst“. So Barack Obama in seiner Traueradresse.

Das traut Gott uns zu, dazu will sein Advent uns leuchten und auf–regen: dass wir unsere kleine Kraft nutzen, den kleinen Glauben in die Waagschale werfen. Wo wir leben und handeln aus unserem Glauben, wo wir unserem Bekennen Taten folgen lassen: da wird eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen! Wo wir bewahren, was uns anvertraut ist, wo wir den Namen Gottes anrufen, zu ihm beten: da reißt der Himmel auf, da werden Verheißungen laut, da bekommt unsere Sehnsucht eine Sprache! Da werden jene gestärkt, die durch Wüstenstrecken laufen. Und „es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande“.

Ja, lasst uns diese revolutionäre Vorfreude im Advent leben, laut werden. Lasst uns unsere Türen offen halten für die, die nicht wissen, wohin. „Fürchtet euch nicht“ – das ist nicht nur die Botschaft der Engel in der Weihnacht. Das ist unsere Botschaft an die Welt und in der Welt. Fürchtet euch nicht, denn es gibt eine Macht, die stärker ist als alle Weltmacht; es gibt eine Liebe, die stärker ist als der Tod. Die Welt geht nicht auf in dem, was wir sehen, leiden, erklären und versuchen. Da ist einer, der macht alles neu. Denn – so sagt Christus: „Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte vergehen nicht.“

Wir dürfen uns halten an seinem Wort, festhalten, binden – damit wir frei sind, zu tun, was seine Liebe verheißt. Gott, der da kommt, denkt groß von uns.

Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen, sagt Jesaja.

Das ist es, was uns der andere Advent ins Herz schreibt – und was wir sichtbar machen in diesen Wochen mit all ihren Lichtern und Düften. Himmel kommt zur Erde. Fürchtet euch nicht! Oder wie Paula sagt: „Da, Opi: Himmel!“

Amen.

Datum
08.12.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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