Erzählung gegen den Strom der Angst
02. Februar 2014
4. Sonntag nach Ephiphanias, Predigt zu I. Mose 8, 1-12
Liebe Gemeinde heute hier im Dom zu Lübeck!
Der heutige Sonntag hat mit seinen biblischen Texten, Liedern und Gebeten seine besondere Schönheit, weil Gottes Treue zu seiner Schöpfung und zu seinen Menschenkindern gelobt und gefeiert wird.
Schweig und verstumme! Der 4. Sonntag nach dem Epiphaniasfest zeigt den Gottessohn als Herrn über die Schöpfung - und hier besonders über ihre bedrohlichen, tödlichen Aspekte.
„Kommt her und sehet an die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern.“ – Das ist das biblische Leitwort aus dem 66. Psalm für die neue Woche.
Ja, kommt her und seht – staunt über Gottes Treue zu uns und zu seiner Welt. Ja, glauben heißt staunen über das, was keineswegs selbstverständlich ist. Glauben heißt staunen über Gott, den Freund des Lebens, der schafft und neu macht immer wieder das Gesicht des Erde. Der seinen Sohn hergibt, damit wir Leben haben, die Fülle, damit wir in ihm den wahren Herrscher über alles Leben erkennen und glauben. Er schenkt Leben uns – und wir schenken Vertrauen ihm. Denn ohne Vertrauen ist alles nichts.
II
Der Predigttext führt uns an den Anfang der Bibel – und weit zurück in Gottes Geschichte mit seiner Welt wie sie erzählt wird im ersten Buch Mose:
Nachdem Gott die Welt ins Leben gerufen hatte und sich auf ihr nun tummelten Mensch und Tier, da nahm die ganze Sache, wie man sagen könnte, einen „suboptimalen Verlauf“ – das Chaos wurde lebensgefährlich. Und Gott – so wird erzählt – öffnete die Schleusen des Himmels, so dass sintflutartig herabstürzten die Wassermassen. Angst und Schrecken auch bei Gott selbst; daher dann die Weisung an Noah, ein Rettungsboot mit Namen „Arche“ zu bauen für Mensch und Tier. Die Arche war zum Bersten voll und irgendwann hatte es sich ausgeregnet. Dann passierte das Folgende, aufgeschrieben im I. Buch Mose Kapitel 8:
8,1 Da gedachte Gott an Noah und an alles wilde Getier und an alles Vieh, das mit ihm in der Arche war, und ließ Wind auf Erden kommen, und die Wasser fielen. 8,2 Und die Brunnen der Tiefe wurden verstopft samt den Fenstern des Himmels, und dem Regen vom Himmel wurde gewehrt. 8,3 Da verliefen sich die Wasser von der Erde und nahmen ab. 8,4 Am siebzehnten Tag des siebenten Monats ließ sich die Arche nieder auf das Gebirge Ararat. 8,5 Es nahmen aber die Wasser immer mehr ab. Am ersten Tage des zehnten Monats sahen die Spitzen der Berge hervor. 8,6 Nach vierzig Tagen tat Noah an der Arche das Fenster auf, das er gemacht hatte, 8,7 und ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und her, bis die Wasser vertrockneten auf Erden. 8,8 Danach ließ er eine Taube ausfliegen, um zu erfahren, ob die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden. 8,9 Da aber die Taube nichts fand, wo ihr Fuß ruhen konnte, kam sie wieder zu ihm in die Arche; denn noch war Wasser auf dem ganzen Erdboden. Da tat er die Hand heraus und nahm sie zu sich in die Arche. 8,10 Da harrte er noch weitere sieben Tage und ließ abermals eine Taube fliegen aus der Arche. 8,11 Die kam zu ihm um die Abendzeit, und siehe, ein Ölblatt hatte sie abgebrochen und trug's in ihrem Schnabel. Da merkte Noah, dass die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden. 8,12 Aber er harrte noch weitere sieben Tage und ließ eine Taube ausfliegen; die kam nicht wieder zu ihm.
III
Gott beschließt, seine eigene Schöpfung zu vernichten, weil der Mensch, eigentlich ein Spitzenerzeugnis göttlicher Schaffenskraft, von Grund auf schlecht ist. Und nur Noah darf mit seiner Familie und ausgewählten Exemplaren aus der Tierwelt in einem selbstgebauten Holzkahn die Flut überleben. Wir kennen die Geschichte – sie geht gut aus. Am Anfang die Katastrophe, am Ende der einsichtige Gott, der farbenfrohe Regenbogen.
Solange Menschen leben, gehört die Angst vor dem Untergang alles Lebendigen dazu. Die Schöpfung ist immer in Frage gestellt; das Chaos kehrt in sie zurück. Die Erzählung von der Sintflut versucht einen Umgang mit dieser Urangst des Menschen.
Und doch, vielleicht geht es vielen von Ihnen wie mir, so schnell will mir das freudige Aufatmen nicht gelingen. Der Bericht vom Ende nahezu alles Lebendigen nimmt Gefühle und Ängste auf, die uns Menschen heute zunehmend bewegen: dass es mit dieser Erde ein schlimmes Ende nehmen kann, ist nicht nur eine weltfremde Angst, sondern vorstellbare Realität. Außer Kontrolle geratene Reaktorkatastrophen, ungenießbare Lebensmittel, umgekippte Flüsse und Seen; sintflutartige Überschwemmungen erleben gerade Bewohnerinnen und Bewohner der Landschaften und Städte an den großen Flussläufen immer wieder: was es heißt, dass alles Hab und Gut in Fluten versinkt, dass Leben bedroht ist: sie wissen es, wir sehen es in den Bildern. Die Folgen unseres Umgangs mit Gottes Schöpfung und auch die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten der Rettung und Bewahrung: sie sind uns vor Augen.
Und was Naturgewalten nicht vollbringen, besorgen in so vielen Gebieten dieser Welt Krieg und Vernichtung durch Gewalt und Waffen. Wir kennen die Bilder von durch Bomben zerstörten Städten in Syrien und anderswo. Und die vielen nicht seetüchtigen Boote und Schiffe auf dem Mittelmeer: Mit ihnen verbindet sich für so viele verzweifelte Flüchtlinge die Arche-Hoffnung, diese uralte Hoffnung, dass Rettung nahe ist in allem Untergang!
„Da gedachte Gott an Noah und an alles wilde Getier und an alles Vieh, das mit ihm in der Arche war.“ Gott gedenkt des Noah, und das ändert die Lage. Gottes Gedenken ist die Wendemarke für die Arche.
In einem Bilderbuch, aus dem wir früher unseren Kinder vorgelesen haben, finde ich wieder, wie dieses Gedenken Gottes die Lage ändert.
Da spiegelt das Leben an Bord der Arche mitten in der Bedrohung schon den Ausblick auf das Neue wider. Da leben die Lebewesen auf engstem Raum, ohne Angst, ohne Panik, ohne Unterdrückung. Aufeinander angewiesen, aneinander gewiesen hat jeder seinen Platz im Schiff. Die Maus neben dem Elefanten. Der Löwe, der mit vergnüglichem Gesicht, die Pfoten gekreuzt sich über die Reling beugt und die Aussicht genießt – er nutzt die Gunst der Stunde nicht aus, das Schaf zu fressen und sich als König aufzuspielen. Jeder darf da sein, der er ist im Gedenken Gottes, schwach oder stark, hübsch oder hässlich, arm oder reich. Da steuert ein Schiff durch die zerstörerischen Fluten hindurch auf das Leben zu – „Da gedachte Gott an Noah …“ Gott gedenkt unserer, in aller Not und Bedrängnis, in aller scheinbaren Ausweglosigkeit lässt er uns nicht im Stich, erbarmt er sich unser, trägt uns. Da wird die Geschichte zu einer Hoffnungsgeschichte, erzählt gegen den Strom der Angst, gegen lähmendes Entsetzen. Nicht wir sind verantwortlich für unsere Erlösung, sondern Gott ist es. „Da gedachte Gott an Noah“. Es ist wie eine Selbstbesinnung Gottes: weder will er die Schöpfung sich selbst überlassen, noch will er nun neues Leben gestalten ohne uns.
Gott wird Mensch, sendet seinen Sohn, der den Gewalten Einhalt gebietet. Der ans Kreuz geht, damit Leben umkehrt, der sich nicht abkehrt von der Welt, sondern sich hinwendet zu uns.
IV
Einer hat mich im Gedächtnis: Das kann mich mutig und stark machen, auch mitten in der Flut.
Vielleicht ist das das Wichtigste, was wir heute von Gott sagen können, dass er das Gedächtnis ist, das niemanden vergisst. Bei Gott geht nichts und niemand verloren. Bei Gott ist Alles und jede und jeder von uns gut aufgehoben! Unsere Geschichte, die Geschichte dieser Welt: aufgehoben bei ihm.
Aber es ist diese Gewissheit, dass Gott unserer gedenkt, kein Beruhigungsmittel, keine Fluchtburg. Die Entscheidung Gottes, die da am Anfang der neuen Lebensmöglichkeit steht, versteht sich nicht von selbst. „Da gedachte Gott an Noah …“ – das ist Zuspruch und Anspruch zugleich. Gott rettet die Bedrängten und befreit sie zu neuem Leben – aber zunächst einmal ist es auch die Befreiung aus der bergenden Arche, aus der Sicherheit.
Das Vertrauen, dass Gott seiner gedenkt, bringt Noah in Bewegung. Ich mag den Noah, wie er das Fenster der Arche öffnet, zuerst den Raben, dann die Taube ausfliegen lässt. Wie er den Versuch wiederholt, bis endlich aus Hoffnung Gewissheit wird. Und immer wieder heißt es von Noah, dass er wartet. Diese Gelassenheit Noahs bringt ihn mir nahe. Nicht passives Erdulden, sondern aktive Gelassenheit; Hoffnung setzt Kräfte frei, die nächsten Schritte zu tun. Da steht Noah am Fenster und wartet. Aber das ist ein Warten in der Ruhe dessen, der das Ziel seines Wartens nicht aus dem Blick verliert.
Noah hält Ausschau nach neuen Möglichkeiten des Lebens. Er wartet wachsam und offen, neugierig. Nichts kann seine Gelassenheit erschüttern: weil Gott meiner gedenkt, bleibt Leben stärker als der Tod. Liebevoll schildert die Geschichte seinen Umgang mit der Taube, die zur Botin des neuen Lebens wird. Als sie nach dem ersten Aussenden zur Arche zurückkommt, müde und flügellahm, erschöpft, denn sie hatte keinen Platz gefunden, wo ihre Füße ruhen konnten, da bestimmt nicht Enttäuschung die Reaktion Noahs.
Nirgends wird mir deutlicher in dieser Geschichte als hier, wie sehr wir angewiesen sind auf das Erbarmen Gottes. Er bestimmt den Zeitpunkt unserer Rettung; er stellt uns an die Seite die Boten seines Lebens. Noahs Glaube geht durch diese Anfechtung hindurch. Er empfängt die Taube voller Liebe und Wärme: „Da tat er die Hand heraus und nahm sie zu sich in die Arche.“ – Eine Geste der Zärtlichkeit: Eine Geste der Barmherzigkeit in aller Bedrängnis und Enttäuschung. Und dann, als die Taube schließlich Zeichen neuen Lebens zur Arche bringt, da bestimmt nicht plötzlich hektische Aktivität das Leben. – Warten können, in aller Bedrängnis ohne blinde Wut und Verzweiflung den Moment wahrnehmen, der neues Leben verheißt; in gespannter und aktiver Gelassenheit die Hoffnungszeichen zu uns hereinlassen und in uns aufnehmen – so wird das Gedenken Gottes zur Quelle neuen Lebens. Das frische Blatt vom Ölbaum: Noch ist es nur ein Blatt, ein Anfang; seine Entfaltung ist noch offen; es birgt alle Möglichkeiten des Lebens in sich…
V
Liebe Gemeinde! Auch wir halten Ausschau nach neuen Möglichkeiten des Lebens, wo es denn überhaupt noch weitergehen kann mit dieser ausgemergelten, waffenstrotzenden Welt. Auch wir suchen nach Räumen der Entfaltung unseres Lebens, in denen es mit der Schöpfung wieder gut werden kann. Immer noch ist für viele Menschen die Taube ein Zeichen der Suche nach umfassendem Frieden, nach Ruhe für eine friedlose und unruhige Welt. Zeichen für den Geist des Friedens, den Gott sendet. Aber diese Taube wirkt seltsam matt und müde. Mehr Phantasie für den Frieden – die wünsche ich mir dringend! Ja, und ich will mich nicht abbringen lassen von der mühsam erlangten biblischen Wahrheit: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!
Die Menschen in Syrien, auch in der Ukraine: sie haben es satt, dass Diktatoren ihre Macht durchsetzen, sie stehen auf gegen Vertreibung und Ungerechtigkeit. Und sie lassen sich nicht beirren, lassen sich nicht abfertigen, vertrösten. Und wir sind Teil dieser Bewegung, mitverantwortlich für Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt.
Noah hört auf Gottes Wort, achtet nicht auf andere Einflüsterungen, Verlockungen, Gewohnheiten und Sachzwänge. Er hält den Glauben durch mitten in der Katastrophe: Nur so versteht er die Zeichen Gottes und hört sie; nur so kann er die neuen Möglichkeiten des Lebens im rechten Moment wahrnehmen und annehmen. Wo solche Gelassenheit fehlt, da versperrt Verzweiflung den Blick durch das Bedrohliche hindurch, da macht die laute Wut die Suchenden taub für neue Töne ungeahnten Lebens.
Lasst uns das Leben wieder leise lernen! Das ist nicht Stillhalten und Hinnehmen; das ist nicht Schwäche. Das kann das Fenster in der Arche; das kann Quelle der Kraft sein, mit der wir die Zeichen des neuen Lebens in uns aufnehmen und im anderen wahrnehmen. Es kommt darauf an, dass wir uns nicht in der Flut treiben lassen, sondern dass wir eine Arche bauen, jeder dem anderen eine Arche sind.
Am Freitag haben wir in Hamburg zum 5. Mal das Eine-Welt-Fest gefeiert. Gruppen und Einzelne werden mit dem Eine-Welt-Preis ausgezeichnet, die sich engagieren für Frieden und Gerechtigkeit hier und weltweit. 49 Initiativen zwischen der Hallig Hooge und der polnischen Grenze, aus Süderlügum, Hamburg, Lübeck, Neubrandenburg, Greifswald haben sich präsentiert. Initiativen, die sich einsetzen im Dialog der Kulturen, in der Partnerschaftsarbeit. Sie unterstützen Schulen in Afrika, Chöre in Kasachstan; sie betreuen Flüchtlinge in Hamburg und Asylbewerber in Rendsburg; sie fördern den fairen Handeln von Gütern aus allen Teilen der Welt. Sie bringen Menschen zusammen und überwinden Grenzen. Und sie zeigen: Wir leben in der einen Welt, wir brauchen einander und wir können einander in den Blick bekommen, einander gedenken, einander ansehen – jede und jeden in ihrer und seiner eigenen Würde. Und so wird sichtbar und erfahrbar eine andere Globalisierung, eine Globalisierung der Liebe, der Gerechtigkeit, des Friedens.
Ich wünsche mir, dass wir als Kirche so eine Arche sind. Eine Arche, die Menschen birgt und mitnimmt; die offen ist für alle, die suchen nach immer neuen Anfängen des Lebens. Ich wünsche mir, dass wir uns dabei tragen lassen von der Gewissheit, dass Gott unser gedenkt. – Das kann Kräfte freisetzen, für das Leben zu streiten und zu arbeiten, wo immer es bedroht ist.
Ich wünsche mir jene aktive Glaubens-Gelassenheit des Noah, mit der wir unermüdlich Ausschau halten, dass wir Tauben aussenden und uns senden lassen; für die Zukunft Blätter suchen, die neue Triebe schlagen. Wir sind angewiesen auf Gottes Erbarmen – aber dieses Erbarmen wird spürbar, wo wir einander die Hände entgegenstrecken in Barmherzigkeit, wenn wir zu erschöpfen drohen auf der Suche nach Leben; Gottes Gedenken erreicht uns, wo wir einander Gedächtnis werden, das niemanden vergisst und keinen am Rande unserer Gesellschaft abstellt.
Weil Gott seiner Geschöpfe gedenkt, ist Leben stärker als der Tod. Das ist die frohe Botschaft dieser Flut-Geschichte, die so gut ausgeht. Amen.