21. Mai 2023 | Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg

Evangelische Messe am Sonntag Exaudi

21. Mai 2023 von Kirsten Fehrs

Predigt zu 1. Samuel 3,1-10

Liebe Gemeinde,

manchmal stolpere ich über ein ganz normales Wort. Ein Wort, das mir wie selbstverständlich über die Lippen kommt, erhält auf einmal eine neue Bedeutung und doppelten Sinn. So ist es mir jüngst gegangen mit dem Wort: aufhören. Ein Alltagswort. Jemand hört auf, etwas zu tun, um etwas Vielversprechenderes anzufangen. Ein Sportler hört auf mit seiner Karriere und stürzt sich ins Privatleben. Ein Ehepaar hört endlich auf, sich zu streiten und findet eine Lösung. Dieser wunderbare Chor aus Wiesbaden hörte eben leider auf zu singen; ich hätte so gern weiter darauf gehört, wie er den Tönen unseres Hamburger Ehrenbürgers Johannes Brahms solch Zärtlichkeit und Kraft verleiht.

Auf-hören – es geht dabei eben auch ums Hören, ums Aufhorchen. Interessant wie beides zusammenhängt: Es braucht ja tatsächlich eine Pause, eine Unterbrechung des Alltäglichen, um sich zu öffnen für den Klang des Neuen. Aufhören mit dem alten Trott, um aufzuhören, was das Leben – und was gerade heute Gott – mir sagen will. Unterbrechung – nicht umsonst ist dies eine Wort die kürzeste Definition von Religion. Und nicht umsonst dies alles heute am Sonntag Exaudi.

Höre. Genau zwischen den beiden Großereignissen der Bibel, zwischen der abschiedsreichen Himmelfahrt Jesu vorvorgestern und dem rauschenden Pfingstfest nächsten Sonntag – Exaudi. Inmitten dieser Stille der Pause, der ja immer etwas Schwebendes innewohnt, möchten wir bitte auf-hören! Noch sieht man dem geliebten Jesus nach, wie er da gen Himmel gefahren ist, und hofft zugleich, dass dies nicht das Ende ist. Ein Tröster soll kommen, hat Jesus uns im Evangelium versprochen. Doch der ist noch nicht da. Noch sind Verlustschmerz und Traurigkeit übergroß; wer unter uns einen geliebten Menschen verloren hat, kennt genau dieses Gefühl von Verlust, diesen Riss im Herzen.

Noch ist kein Trost, aber immerhin – ich nähere mich unserem Predigttext, liebe Gemeinde – leuchtet schon ein wenig Verheißung. Noch nicht das ganze Licht, nur eine kleine Lampe. Bald, sagt sie, bald wird die Untröstlichkeit aufhören und ein neuer Anfang, ja, ein pfingstlicher Liebessturm dein gebeuteltes Herz erobern. Deshalb: Exaudi heute – höre auf! Und deshalb, liebe Geschwister, lassen wir‘s still werden in uns. Still – um uns vorzubereiten auf den Ansturm von Leben, Lachen und die Zärtlichkeit.

Bei Samuel damals ist es die Stille der Nacht, in die hinein Gottes Ruf erklingt. Wie jede Nacht liegt der junge Priesterlehrling im Tempel von Silo neben der heiligen Bundeslade. Wir müssen sie uns vorstellen wie eine wertvolle Truhe mit geschnitzten Engeln darauf, in der die Steintafeln mit den Zehn Geboten aufgehoben waren. Davor die Lampe Gottes, auf die Samuel zu achten hat, dass sie nicht erlischt. Alles ist still. Plötzlich ein Ruf: „Samuel!“. Samuel horcht sofort auf. Hat da nicht sein alter Lehrer Eli gerufen? Geschwind läuft er zu ihm, in den Raum nebenan. Doch Fehlanzeige. Eli schickt ihn zurück. „Ich habe dich nicht gerufen, geh wieder schlafen.“ Ganze drei Mal passiert das. Dreimal ruft Gott an: kein Anschluss unter dieser Nummer. Unsere Predigtgeschichte, liebe Gemeinde, entbehrt nicht eines gewissen Humors.

Und doch ist tiefer Ernst dahinter. Eli nämlich, der altehrwürdige Gründer der Priesterdynastie, hat große Sorgen ob seiner beiden Söhne. Ihm wird Böses über sie zugetragen, von lauter Frauengeschichten ist die Rede. Und dass sie sich die Opfergaben unter den Nagel reißen, anstatt sich ums Wohlergehen der Gemeinde zu kümmern. Sie verstehen den Kult als eine Art Versorgungsinstitut für sie selbst, die Amtsträger. Eli sieht buchstäblich schwarz, was die Zukunft angeht. Fast erblindet hört er dafür umso mehr – von den Schandtaten seiner Söhne. Die Leute kehren empört diesen allzu gewinnmaximierenden Dienern Gottes den Rücken, Kirchenaustrittswelle sozusagen.

Und so ist es nicht allein die Stille der Nacht, in der das Neue seinen Anfang nimmt. Sondern eine Zeit der Gottesstille: „Und zu der Zeit, als der Knabe Samuel dem Herrn diente unter Eli, war des Herrn Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung.“ So fängt unser Predigttext am. Bitter. Kaum noch Offenbarendes. Eli leidet darunter. Er selbst fühlt sich wie abgeschnitten von Gottes Lebensader. Gott fehlt ihm so. Lange schon hat er ihn nicht mehr gehört. Und lange schon betet Eli nur noch mit Worten, nicht mehr mit dem Herzen.

Dass es um Gott still geworden ist, als wäre er unbekannt verzogen, empfinden viele Menschen heutzutage. Auch wenn sie es anders beschreiben: dass ihnen etwa Gewissheit fehlt – und Sicherheit. Oder dass sie sich sehnen nach Frieden und Zuversicht inmitten dieser Kriegszeiten. Sich sehnen nach Geborgenheit und Segen, nach einer Kraft, die in der Krise trägt und hält. Und Krisen haben wir ja derzeit wahrlich genug. Wer weiß, vielleicht auch sehr persönliche, hier unter uns. Menschen, die einander verlassen und sagen, ich liebe dich nicht mehr. Kinder, die den Leistungsdruck nicht mehr aushalten und aus der Pandemie nie richtig herausgekommen sind. Die Familie, die mit schwerer Diagnose zurechtkommen muss.

Die Düsternis hat zahlreiche Namen. Und genau darin empfinden viele Gott als so furchtbar still. So fern. Abgehoben von der Realität. Gen Himmel gefahren und in der Cloud abgetaucht. Keine Ahnung, wo er wohnt, sagen sie. Was er tut. Was er will.

Es braucht eine ganze Weile, bis Eli versteht, was Gott will. Dass Gott selbst es ist, der Samuel ruft. Ja, dass Gott tatsächlich wieder etwas von sich hören lässt! Aufgeregt schickt Eli den Knaben zurück, um nun genau auf-zu-hören. Seinen Samuel, Eli liebt ihn so. Ihn, den Augenstern seiner alten Tage, den einst Hannah nach langen traurig-kinderlosen Jahren in hohem Alter geboren und Gott geweiht hat. So dass er nun Elis Priesterlehrling ist. Ihn, Samuel, den „von Gott herbei gebeteten“ und den – wie sich herausstellen wird – zum großen Propheten berufenen.

„Samuel, Samuel!“ ruft Gott ihn. Und endlich die richtige Antwort: „Hier bin ich. Rede Herr, dein Knecht hört.“ Aufgehört – jetzt beim vierten Mal stimmt die Verbindung. Samuel hat ja auch jetzt erst verstehen können, wer ihn ruft. Es lebe der göttliche Mut der Hartnäckigen!

Und dann – ja dann hört‘s auf. Cliffhänger. Denn hier endet der Predigttext, obwohl die Geschichte selbst eigentlich erst richtig losgeht. Samuel bekommt von Gott nämlich jede Menge zu hören – und wird sich bewusst, dass schlagartig sein altes Leben zu Ende ist. Aufgehört hat seine Kindheit, ebenso wie die Dynastie Elis. Und dass berufen zu sein, viel Anstrengung bedeutet und Nachdenklichkeit und dass man sich auf unwägsames Gelände wagen muss – das ahnt Samuel nur.

„Rede Herr, dein Knecht hört.“ Deshalb hört der Text hier auf: Weil es eben diesmal nicht darum geht, ob und wie Gott uns hört. Sondern wie Samuel, wie wir bereit sind, uns anrufen zu lassen. Also still – und Exaudi: Höre – auf!

Höre auf. Vielleicht, weil du im Moment viel zu viel auf dem Zettel hast und das Gefühl: Es muss sich etwas ändern, sonst geht das nicht mehr lange gut?

Höre auf. Vielleicht, weil so viele Leute dir einflüstern, was du zu tun und zu denken und zu lassen hast, dass du nicht mehr vernimmst, was dein eigenes Herz dir sagt?

Höre auf. Vielleicht, weil du mit Sorge siehst, dass wir in unserer Gesellschaft insgesamt verlernt haben, zu hören? Gerade auch aufeinander zu hören, ehrlich interessiert, was die anderen mir zu sagen haben. Soziologen wie Hartmut Rosa, der mich im Übrigen auf dieses Aufhören so aufmerksam gemacht hat, warnen vor einer zunehmenden Aggressivität in unserer Gesellschaft. Eine Aggressivität, die nicht zuletzt mit den zu vollen To-Do-Listen zu tun hat und mit dem Gefühl, das alles nicht mehr packen zu können. Eine Aggressivität auch, die unseren Demokratien wie etwa in den USA gehörig zusetzt. Da wird der politisch Andersdenkende nicht mehr als Dialogpartner, sondern als ekelerregender Feind erlebt, dessen Stimme man zum Schweigen bringen muss. Und so weit weg davon sind wir hier in unserem Land nicht, liebe Geschwister. Deshalb, so Rosa, braucht es friedvolle Räume des Lichtes wie diesen hier im Michel. Deshalb braucht es alte Texte, die uns herausrufen aus dem Trott, braucht es gemeinschaftsstiftendes Abendmahl. Und deshalb braucht unsere Demokratie Religion. Um aufzuhören! Unterbrechung! Stopp mit dem dauernden Senden und Aburteilen, und lauschen auf das, was von anderer Seite – und sei es von oben – kommt. Dass ich mich erreichen lasse von einer Stimme, die etwas anderes sagt als das Erwartbare, was ich schon immer gedacht habe. Und als das, was mir die langen To-Do-Listen auftragen zu tun.

Nein, höre – auf den anderen Auftrag. Unser Leben ist viel zu kostbar für dauernde Gewinnmaximierung und Leistungssteigerung. So sagt‘s Gott mit jedem Vers in unserer Samuelgeschichte. Er ruft uns an, heute gemeinsam. Wenn‘s sein muss: viermal. Er ruft uns an, damit wir unsere Lebendigkeit neu entdecken. Glückshormone ausschütten, weil es so schön ist, etwas so Schönes wie Bach und Brahms zu singen und: zu hören! Damit wir uns beim Namen gerufen und Gott nah fühlen, der genau diesen anderen Auftrag an uns richtet: Dass wir nicht nur mit Ohren hören, sondern mit dem Herzen. Dort eben, wo Verstand und Liebe sich vereinen. Wo Ungerechtigkeit den Puls beschleunigt. Wo Gottes Schöpfung Verliebte findet. Dort im Herzen, wo der Wille zum Frieden anderen die Hand reicht. So bewahre uns der Friede Gottes, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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