Gott verlangt keine frommen Gegenleistungen
20. August 2013
Predigt anlässlich der Einweihung des Zentrums für Dienste und Werke
Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt Begegnungen im Leben, die nicht gerade bequem sind – dafür aber ausgesprochen heilsam. An Begegnungen solcher Art und an die Menschen, denen wir sie verdanken, kann sich vermutlich jeder von uns gut erinnern – eben, weil sie für uns nicht ganz schmerzfrei vonstatten gingen, dafür aber mit umso größerem Erkenntnisgewinn und Aha-Effekt.
Ich vermute, dass auch Jesus die Begegnung mit der kanaanäischen Frau (bei Markus – 7,21ff. heißt sie die „Syrophönizierin“) nachhaltig in Erinnerung geblieben sein wird. Denn es ist eine der wenigen Stellen in den Evangelien, in denen Jesus offenbar seine Meinung ändert, man könnte auch sagen: seine Vorurteile neu sortiert, und „dazulernt“. Es ist – wie so oft im Leben – eine Frau, die Jesus, wenn man so sagen darf, ein wenig auf die Sprünge hilft, ihn die alten Gleise und eingefahrenen Sichtweisen verlassen lehrt. Das Evangelium, die frohe Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes, gilt allen Menschen über alle von uns Menschen festgelegten Grenzen hinweg. Eine – in mancher Hinsicht – provokative Jesus-Geschichte ist das. Aber nicht nur deshalb rufe ich sie aus Anlass der heutigen Namensgebung des Zentrums für Dienste und Werke in Erinnerung.
Zwar ist es richtig: Annemarie Grosch konnte durchaus auch provozieren; jedenfalls in ihrer Wirkung. In ihrer Absicht lag es eigentlich nicht. Es ging ihr immer um die Sache und um die Menschen. Ihr Anliegen war, wie das der Frau aus unserer biblischen Geschichte, existentiell, und nur deshalb konnte und musste sie vielleicht ziemlich rücksichtslos sein – sich selbst, und manchmal auch anderen gegenüber.
Vieles ist ja im Vorfeld der Namensgebung dieses Hauses schon berichtet, manche Anekdote überliefert, das ein oder andere Bild in Erinnerung und vor Augen gestellt worden. Ob es ihre Faust ist, die auch gelegentlich auch mal auf dem Verhandlungstisch landen konnte, wenn Annemarie Grosch ihr Ungehaltensein nicht länger verbergen mochte. Ob es – auf den verschiedensten Ebenen: vom Weltgebetstag über die Müttergenesung und Familienbildungsstätten bis zur Frauenordination – ihr Einsatz für die Anliegen und Rechte der Frauen in unserer Kirche gewesen ist. Oder ob es ihr bekanntes Diktum über die Theologie ist, die man mit der Zeitung in der Hand, sprich: in der Wahrnahme von Weltwirklichkeit, treiben müsse. Sie hat dem Frauenwerk der Landeskirche Gesicht und Profil gegeben.
Ich habe eigene Erinnerungen an sie, weil sie im Haus meiner Eltern immer wieder zu Gast war, bei Taufen und Geburtstagen, und viel zu erzählen und beraten hatte, vor allem mit meiner Mutter, die ehrenamtlich sehr engagiert in der Frauen- und Weltgebetstags-Arbeit in der Propstei und Landeskirche war. Als Kind war mein Eindruck: Tante Annemarie, so hieß sie für uns, hatte immer viel zu erzählen, was sie so „bei Kirchens“ oder in der weiten Welt erlebt hatte oder gerade gelesen hatte.
Als ich später kirchenpolitisch aufmerksamer wurde, erinnere ich, wie sie von einer EKD-Synode erzählte, auf der sie im Rahmen einer Andacht ein Gedicht von Reiner Kunze verwendet hatte. Diese Andacht führte zu mancherlei Ärger und Widerspruch. Es sind nur drei Zeilen, das Gedicht – im Grunde ist es nur ein einziger Satz – trägt den Titel „Pfarrhaus“:
„Wer da bedrängt ist findet
Mauern, ein Dach und
Muss nicht beten.“
Daran, dass Bedrängte im Pfarrhaus eine Zuflucht finden können, haben sich damals vermutlich die wenigsten Synodalen gestoßen, auch wenn für sie die im Hintergrund stehenden DDR-Erfahrungen Kunzes ziemlich weit weg gewesen sein dürften. Probleme bereitete hingegen den meisten Synodalen die freche These, man müsse als Zufluchtfindender im Pfarrhaus nicht beten. Das war vielen einfach nicht fromm genug, denn: Wo, wenn nicht im Pfarrhaus, sollte bitte denn gebetet werden? Kommt es denn nicht – neben Dach und dem Schutz der Wände – gerade auf das geistliche Leben an, das das Pfarrhaus von anderen Häusern, den der Müllers und Meiers, unterscheidet? So ähnlich wird man gedacht und – mehr oder weniger laut – gefragt haben.
Rainer Kunze aber hat mit seinen wenigen Zeilen einen ganz wesentlichen Kern nicht nur des Pfarrhauses, sondern des Evangeliums selbst wie den Nagel auf den Kopf getroffen: Gott verlangt keine frommen Gegenleistungen. Und Zufluchtsuchende können als Gäste des Pfarrhauses die bleiben, die sie waren, bevor sie an die Pfarrhaustür klopften. Glaube hat nichts mit Zwang zu tun; man kann, aber man muss eben nicht beten. Aus dieser Haltung, die man sich, wie ich finde, jeden Tag neu gesagt sein lassen kann, spricht Vertrauen – und zwar als Vertrauen in die Kraft des Heiligen Geistes, der das allermeiste von ganz alleine regelt, selbst ohne uns und sogar gegen uns. Und diese Haltung atmet den Geist der Freiheit – als der Freiheit eines Christenmenschen, der wie Luther das genialerweise zugespitzt hat, zugleich sowohl niemanden als auch jedem gegenüber verpflichtet ist.
Annemarie Grosch hat für mich beides verkörpert: dieses durchaus fromme Vertrauen als auch einen durch den Glauben unabhängigen, freien Geist. Bei Annemarie Grosch kam zusammen und konzentrierte sich in einer Person, was sonst in unserer kirchlichen Landschaft viel zu oft fein säuberlich getrennt in Erscheinung tritt: Das Geistliche oder das Politische. Das Seelsorgerliche oder das Soziale. Oder, wie es in der Pressemeldung dieses Kirchenkreises heißt: das Einfühlsame oder das Kratzbürstige. Annemarie Grosch hat aus Überzeugung und überzeugend virtuos immer beides miteinander kombiniert.
Zu glauben, hieße in dieser Lesart, über den Tellerrand schauen zu können; es zu wagen, in einen weiten Horizont zu blicken; sich zu trauen, sich auch von weltlichen Quellen inspirieren zu lassen; davon auszugehen, dass Gott zu uns auch von unvermuteter Seite sprechen möchte. Mit Annemarie Grosch zu glauben, hieße am Ende vielleicht tatsächlich, sich von falschen Alternativen zu verabschieden: Kirche oder Welt, Mut oder Demut, spirituelles Leben oder diakonisches Engagement, Essen auf dem Pfarrhaustisch oder Tischgebet usw.
Die kanaanäische Frau aus dem Matthäusevangelium traut sich zu nerven: zuerst die Jünger (die ja dann auch ziemlich schnell einknicken) und dann sogar Jesus selbst. Denn ihr Anliegen, die Heilung ihrer Tochter, ist ein unbedingtes. Ob Jesus auch durch Annemarie Grosch hätte dazulernen können, wage ich nicht zu vermuten. Dass aber unsere Kirche durch sie Vorurteile neu sortiert, eingefahrene Sichtweisen verändert und damit Annemarie Grosch einen ganz neuen Blick auf das Ganze des Evangeliums zu verdanken hat, da bin ich mir ganz sicher.
Deshalb begrüße ich die Wahl gerade dieses Namens für dieses Haus mit Kindertagesstättenwerk, Jugendwerk, Frauenwerk, Beratungszentrum, Ökumenischer Arbeitsstelle, Projekt Kirche-Schule und Kirchlichem Dienst in der Arbeitswelt, weil ich bei meiner Visitation gerade einen Einblick in die aktuellen Projekte erhalten habe. Und ich freue mich auch, dass auch Annemarie Groschs Neffe, Herr Schilling, heute hier ist.
Ich gratuliere dem Kirchenkreis Altholstein an diesem besonderen Tag. Möge das Annemarie-Grosch-Haus für Begegnungen im Geiste ihrer Namensgeberin stehen: Nicht gerade bequem, dafür aber ausgesprochen heilsam. Amen.