21. Februar 2021 | Hauptkirche St. Michaelis Hamburg

Gottesdienst am Sonntag Invokavit

21. Februar 2021 von Kirsten Fehrs

Gottesdienst am Sonntag Invokavit

Gebet zum Eingang

Gnädiger Gott, wir kommen zu dir und vertrauen uns an. Du kennst uns, wie wir sind. Mit unseren Sehnsüchten und Schattenseiten, mit Nöten und unserer Schuld.

Erlöse uns von dem Bösen. Lass deine Engel uns tragen, über Steine, Schwellen und Irrungen hinweg. Damit wir neue Wege suchen – und Hoffnung finden. Durch Jesus Christus unseren Herrn und Bruder, der mit uns geht heute und allezeit. Amen.

Predigt zu 1. Mose 3,1-19

„Sollte Gott gesagt haben …?“

Mit diesen Worten, liebe Gemeinde, beginnt die Verführungsgeschichte der Menschheit schlechthin, der Sündenfall. „Sollte Gott tatsächlich gesagt haben …“, zischelt die Schlange und sät gekonnt den Zweifel, „dass ihr nicht von diesen prachtvollen, süßen Früchten essen dürft? Tatsächlich? Dabei würden euch doch dann die Augen aufgetan und ihr wüsstet endlich einmal, was gut und böse ist …“ So lockt und schlängelt sich die Schlange in die Gedanken, und wir wissen: Eva greift zu. Heute im Predigttext am Sonntag Invokavit, dem ersten Sonntag in der Fastenzeit, an dem es um die Verführbarkeit des Menschen geht – oder anders gesprochen: um die Verlockungen des Lebens und der Liebe.

Wie sehr mich diese alte Geschichte abholt heute. Mein Herz sehnt sich so nach Leben! Wäre es nicht wirklich zu und zu schön, mal wieder das süße Leben zu genießen, einander zu herzen und Früchte miteinander zu teilen? Wäre es nicht paradiesisch, wenn wieder Leichtigkeit Einzug hielte und wir ein bisschen Corona-frei hätten? Mit den Kindern mal wieder ans Meer fahren und an den Strand, mit den Großeltern in den Bergen wandern. Wie schön wäre es, wieder zu reisen, an den ureigenen Sehnsuchtsort – zu den Lavendelfeldern in Frankreich oder ins Fischerdorf mit dem kleinen Eiscafé, das sogar nachts geöffnet hat. Und, ach, wie schön wäre es, wenn es nicht dieses Leid und diesen Schmerz gäbe, einsame Trauer und die Untröstlichkeit.

Denn es ist ja Passionszeit. Wahrlich Leidenszeit. Der Schmerz ist echt und tief: Enkel-Fasten. Berührungsfasten. Geselligkeitsfasten. Der Schmerz ist so persönlich. Vieles tut weh – die Glieder, das Atmen, das Getrenntsein, der Rücken und das Geradehalten, die Unnahbarkeit, einsamer Tod, der Weltschmerz.

Wir hatten in den vergangenen Monaten so viel davon. So viel Verzicht und Schmerz. Und ich merke um mich herum: Die Sehnsucht wächst ins Unermessliche. Sehnsucht nach Nähe, Begegnung, Unbeschwertheit, endlich mal wieder einem Plan, der aufgeht. Nach Konzert und Singen, Bach, Jazz und Theater, Sehnsuchtsorten und -momenten, die vor allem und überhaupt mit den Menschen verbunden sind, die einem etwas bedeuten … Alles, alles nicht so einfach in dieser Zeit.

Sehnsucht gibt es wahrlich nicht erst seit Corona. Sie ist vielmehr so alt wie die Menschheit selbst. Man könnte sogar mit unserem Predigttext sagen: Alles beginnt mit der Sehnsucht. Denn es ist ja falsch und verheerend missverstanden, in Eva persönlich den Sündenfall zu verorten, in ihr die sündige Frau zu sehen, die den Mann ins Verderben reißt. Was für eine furchtbare Wirkungsgeschichte hatte diese Deutung über Jahrhunderte hin. Nein, die Frau Eva, mit Namen „Leben“, hat Sehnsucht! Sie will es einfach wissen. Wissen, wie das Leben funktioniert, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wie das geht, dieses Leben: Was ist richtig? Was ist falsch? Sie will klug werden!

Von Anfang an, buchstäblich seit Adam und Eva, gehört es dazu, dass Menschen sich nicht zufrieden geben mit dem, was ist. Und dies genau erfasst das große Wort Sehnsucht. Denn Sehnen und Suchen steckt darin. Sehnen danach, zu erkennen. Herbeisehnen von Dingen, die nicht sind, die gerade fehlen.

Das Besondere dabei: Die Sehnsucht ist auf beiden Seiten da. Die erste große Geschichte der Bibel ist nicht nur erfüllt von der Sehnsucht der Menschen nach Erkenntnis und Leben. Sie erzählt zugleich von der Sehnsucht Gottes, dem Sehnen und Suchen Gottes nach uns Menschen: „Mensch, wo bist du?“

Wo bist du, Adam, fragt Gott. Warum schämst du dich so? Versteck dich nicht, Schwester oder Bruder, mit deiner Menschlichkeit. So viel Leid und nacktes Elend bedrücken die Welt. Deshalb braucht diese Welt dich als Mensch, der mitfühlt und über Schwellen trägt. Der etwas weiß von Einsamkeit und Angst, aber auch erzählen kann von der Hoffnung, die in ihm ist. Wo bist du, jetzt und hier, Mensch? Einer, der Fehler macht und sie auch anderen zugesteht? Gerade jetzt in dieser Zeit der Besserwisserei. Wo bist du Mensch, der Verantwortung für sich und andere übernimmt und, ja, auch einmal um Verzeihung bittet? Ganz anders übrigens als Adam im Dialog mit Gott: „Wer mir, Adam, gesagt hat, ich soll von verbotenen Früchten essen? Na, diese Frau da, die DU mir an die Seite gestellt hast, gab mir davon. Tja, was sollte ich tun? Da habe ich gegessen. Ich konnte nichts dafür! SIE hat angefangen. Nein, DU, Gott, hast angefangen.“

Wie bekannt einem das vorkommt … Wir wissen, die beiden werden vertrieben aus unsterblicher, paradiesischer Unschuld. Fortan kennt der Mensch auch Schweiß und Tränen, Schuld und Tod und den Schmerz des Lebens. Und so gibt es seitdem auch die verwundete Welt, in der Menschen seufzen und fragen: Wo bist eigentlich du, Gott?

Und Gott? Würde sich so gern finden lassen. Wie eine Ouvertüre klingt im Garten Eden die gesamte Geschichte Gottes mit seinem Volk und den Menschen an. Eine große Geschichte, die von der gegenseitigen Sehnsucht erzählt. Vom Suchen und Finden von Freiheit und Gemeinschaft. Sehnsucht, die keinen unverändert lässt.

Heutzutage, ich gebe es zu, macht es mir Mühe, wenn unter Sehnsucht nur verstanden wird: Ich will, dass wieder alles so ist, wie es vorher war: endlich wieder normal.

Aber, liebe Gemeinde, die Sehnsucht sucht die Veränderung. Und wir haben doch allen Grund, klug und klüger zu werden. Der Klimawandel fordert es. Die deshalb Geflüchteten in den elenden Lagern der Welt fordern es. Oder in unserem Land: Die Angehörigen der Opfer des rechtsextremen Anschlags von Hanau – heute vor einem Jahr – fordern es. Nicht zuletzt: die Kinder hier in Hamburg, die während der Pandemie drohen aus dem Bildungssystem herauszufallen, fordern es auch. So vieles braucht unsere Aufmerksamkeit als kluge Menschen. Unseren Willen, nein, unsere Sehnsucht, etwas zum Guten verändern zu wollen. Alles beginnt mit der Sehnsucht.

Wunderschön hat es Nelly Sachs in ihrem Mysterienspiel „Eli“ dem Schuster Michael in den Mund gelegt. Er, der leidvoll um Eli trauert, sinniert beim Blick auf einen Klumpen Erde und auf das Leder seiner Schuhe:

Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.

Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.

Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
Dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
Dich gefunden zu haben.

Natürlich sind dies Worte aus einem anderen Kontext, aus anderer Zeit, und trotzdem: Alles beginnt mit der Sehnsucht – auch jetzt, hier bei uns.

Nicht nur der Weg der Passion beginnt nämlich, sondern auch der Weg der Hoffnung, Gott zu finden. Die Vergewisserung inmitten all der Unsicherheit. Glaubwürdige Hoffnung, die etwas von dem Leid versteht und von der Traurigkeit, die uns gerade in dieser Passionszeit bedrückt. Das ist die große Kraft unserer christlichen Botschaft: der Hoffnungsmut, der weiß, dass mit Not und Tod nicht das letzte Wort gesprochen ist.

Deshalb ist so wichtig, liebe Gemeinde, von dieser Hoffnung zu erzählen. Invokavit! Wir sind gerufen, zu Hoffnungsträger*innen[1] zu werden. Der Mensch braucht klare Zeichen der Zuversicht – damals nach dem Paradies und heute auch. Hoffnung, die aufblüht, weil es die Sehnsucht gibt. Und so schließe ich mit einem meiner Lieblingslieder[2]; es ist wie ein Fenster mit Aussicht. Für euch.

Du wirst sehn,
wie gut es sein wird,
im nächsten Jahr.
Nächstes Jahr
verbringen wir die Tage ohne Angst,
froh und frei vor dem Haus.
[…]

Nächstes Jahr, du wirst sehen,
werden wir ausstrecken
die Flächen unserer Hände zum strahlenden Licht.
Ein weißer Reiher streckt die Flügel ihm entgegen,
und die Sonne wird in ihnen aufgehen.
Du wirst sehn, du wirst sehn,
wie gut es sein wird,
im nächsten Jahr!
Bleibt behütet – und bleibt sehnsüchtig. Amen.

Fürbittgebet

Barmherziger Gott, auf dem Weg durch die Passionszeit schenkst du uns Kraft und erfüllst uns mit Zuversicht, bei allem, was uns so erschüttert.

Wir glauben und wir sehnen uns nach Trost, Liebe, Gemeinschaft.

Christus, so bitten dich um Hoffnungswege und Trost für alle, die erschöpft sind und müde. Die Angst vor der Zukunft haben und nicht wissen, wie es weiter gehen soll.

Wir bitten dich, halte unsere Empfindsamkeit wach für die Leidenden unserer Zeit.

Für all die Menschen, die an so vielen Orten der Welt Gewalt erleiden, Flucht und Krieg.

Wir bringen vor dich die Opfer von Terror und rechtsextremer Gewalt, Hanau mahnt uns.

Leite mit deinem Wort alle, die ihrer Sehnsucht folgen – nach Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung. […] Amen.

[1] Hier sei ein Hinweis gegeben auf die am Aschermittwoch 2021 von der Nordkirche auf den Weg gebrachte Aktion #hoffnungswege, bei der u. a. auch Segensbänder verteilt werden, die Blumensamen enthalten. Die Hoffnung blüht, wo immer wir sie als Hoffnungsträger*innen säen. Neues Leben entsteht – Blumen, Farben, Segen und die Kraft zur Zuversicht.

[2] Von Christian Höfener-Wolf, einem Lied von Ehud Manor aus den Sechzigerjahren nachempfunden, „als eine andere Art von Angst und Einschränkungen den Alltag in Israel/Palästina prägt. Es knüpft an den Schlussruf der jüdischen Pessach-Liturgie an: ,Nächstes Jahr in Jerusalem!‘“

Datum
21.02.2021
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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