19. März 2023 | Falkenbergkirche Harksheide

Gottesdienst am Sonntag Lätare

19. März 2023 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Jesaja 54,7-10

Liebe Gemeinde,

heute umhüllt uns ein Hauch von rosa. Ernsthaft: Die Welt, diese geschundene und aufgewühlte Welt, sie bekommt einen kleinen, feinen Rosaton. So wie es im Frühling ja ab und zu dieses sagenhaft schöne, seidige Abendrosé gibt, wenn es sich noch nicht ganz durchringen kann, ein glanzvolles Abendrot zu werden. So ein sattes Abendrot, wissen Sie, bei dem meine Mutter früher immer sagte: „Schau, jetzt backen die Engel im Himmel Brot.“

Nein, so weit ist es noch nicht, wie gesagt: nur ein zärtliches Rosé. Als Zeichen und Farbe nämlich für das kleine Ostern heute, bei dem sich das liturgische Violett der Passion und das Weiß von Ostern zusammentun, schön. Oder: Lätare. Freut euch!

Ich jedenfalls freue mich von Herzen, bei Ihnen zu sein. Und ich danke für Ihre Gastfreundschaft, zumal ich mich ja eigentlich selbst eingeladen habe. Denn tatsächlich waren auf einmal in meinem Kalender ein paar Sonntage frei geworden – et voilà: Sie konnten nicht widerstehen. Und so vorfreuen wir uns heute also gemeinsam – auf die Osterhoffnung, die den Trauergeistern in drei Wochen kräftig den Marsch blasen wird.

Meine Seele dürstet nach dieser Hoffnung. Denn auch sie scheint zu fasten. So vieles doch verdunkelt derzeit unseren Blick – im Schrecken der Ereignisse. Wenn ich allein an die immer brutaleren Angriffe auf die Zivilbevölkerung in der Ukraine denke. Unzählige Menschen getötet und auf der Flucht. Ganze Städte, ja, die Kultur eines Volkes ist der Zerstörung preisgegeben. Das müssen wir uns einmal vor Augen halten: In diesem einen Kriegsjahr sind nicht allein 250.000 Soldaten gestorben, dort wie hier. Täglich stirbt die Menschlichkeit.

Und so ist der Blick gehalten, festgehalten durch die immer wiederkehrende Frage nach Waffen für ein angegriffenes Volk, das sich natürlich verteidigen können muss. Allein – die reelle Aussicht auf Verhandlungen, ein klitzekleines Friedens-Rosé, das scheint nicht auf, machen wir uns nichts vor. Und dennoch – für ihn, den Frieden, haben wir Christenmenschen hoffnungstrotzig einzustehen. Wer, wenn nicht wir, sollte dafür immer wieder eintreten, zureden, aufstehen, gerade am kleinen Ostern. Weil es nur einen einzigen Sieg gibt, der dem Menschen wirklich dient: der Sieg der Liebe und des Lebens.

Und ich denke an den uns alle doch verstörenden Amoklauf in Alsterdorf, nur wenige Kilometer von hier. Abgründig und maßlos brach sich die Gewalt eines Menschen Bahn, der komplett im Hass gefangen war. So dass er wahllos um sich schlägt und schießt und sieben Menschen jäh aus dem Leben reißt. Ein Ungeborenes darunter, es hatte noch keinen einzigen Atemzug auf dieser Erde getan. Zudem neun Verletzte an Leib und Seele, furchtbar. Die ganze Stadt trauert – und ja gewiss anders, als die Zeugen Jehovas es tun. Das ist so.

Dennoch braucht es Raum für alle zu trauern. Zu trauern, um eine Sprache für das Unaussprechliche zu finden. Und im Gebet Gott unser fassungsloses Entsetzen hinzuhalten. Heute Nachmittag laden wir deshalb alle zum Gedenken in die Hauptkirche St Petri ein, die Betroffenen ebenso wie die Rettungskräfte, Polizistinnen, Sanitäter und Notfallseelsorgerinnen. Sie, die teilweise selbst kaum fassen können, was sie da am Tatort gesehen haben. Und die in einer beispiellosen Professionalität noch Schlimmeres verhütet haben. Deshalb: Eine Stadt trauert, ja – und empfindet zugleich Dankbarkeit für die hingebungsvollen Helfer und Trösterinnen mit ihren rettenden Worten, Taten und Gedanken.

Und Gott? Wo war Gott? Nicht da. So jedenfalls sagt es der Predigttext und lässt uns erst einmal erschrecken. „Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen“ – so lauten die ersten Worte – „im Augenblick des Zorns habe ich mich ein wenig vor dir verborgen.“Einen kleinen Augenblick. Ganz kurz nur! In der jüdischen Auslegung spricht man tatsächlich von einer Zehntelsekunde. Eine Zehntelsekunde von der Ewigkeit. Da war Gott, er sagt es hier selbst, abwesend. Da hat er seine Augen verschlossen, da war sein Blick gehalten von all dem Krieg und dem Schmerz und der abgründigen Gewalt. Mag sein, war er auch auf seine Weise fassungslos, was Menschen – seine Geschöpfe – einander anzutun in der Lage sind. Denn damals – zur Zeit Jesajas – war es ja genauso: Es herrschte Krieg von Machthabern, die den Hals nicht vollkriegen konnten. Sie hatten Jerusalem erobert und die Israeliten verschleppt. Gedemütigt sollte es sein, das Gottesvolk. Des Tempels und damit des Kultes, ja, der Kultur beraubt. Also: buchstäblich gottverlassen. So jedenfalls fühlten sich die Israeliten und klagten und weinten an den Wassern zu Babylon, jahrelang. Wo bist du, Gott?

Wo bist du Gott? – so fragen ja auch wir, wenn das Leben Wunden schlägt. Wenn ein geliebter Mensch stirbt und ich damit weiterleben muss, ohne zu wissen wie. Wenn durch eine einzige Zehntelsekunde ein Unfall das Leben auf den Kopf stellt. Wo war Gott? Wenn die Diagnose alle Zuversicht und gemeinsame Pläne beendet. Wenn Trennung, wenn Schicksalsschläge hart und grausam ins Leben einfallen. Wo ist Gott? fragen wir – oder auch: Warum dieser Mensch, warum diese Zerstörung, das Leid, der Schmerz?

Und dann hören wir im Predigttext diese – ja irgendwie fast ein wenig schuldbewusste – Antwort Gottes. Wirklich, nur einen kleinen Augenblick sei er ein bisschen nicht da gewesen. Und dieses Zugeständnis, es hat etwas so Nahes, Menschennahes. Weil Gott tatsächlich selbst erschrocken ist, so scheint‘s. Ganz ähnlich übrigens wie bei der Sintflut; sie wird ja nicht umsonst erwähnt. Als Gott sich nämlich im Zorn ganz und gar abwendet und die gewaltige Flut hereinbrechen lässt, aber dann ganz und gar einsieht, dass dies den Menschen nicht klüger macht. Er lernt nicht. Aber Gott.

Und so verspricht er dem Menschen fortan, dass nicht aufhören wird Saat und Ernte, Frost und Hitze, Nacht und Morgenrot. All dieser unverdiente Segen, damit das Gute eine Chance hat zu wachsen.

So nahbar, unser Gott. Menschennah. Denn ist es bei ihm nicht wie bei allen Müttern und Vätern? Diese Urangst, womöglich nicht da zu sein, just in dieser alles entscheidenden Zehntelsekunde, wenn die Kinder einen am nötigsten brauchen?

Wo bist Du, Gott, in meinen dunkelsten Momenten? – Das ist die Frage unserer Zeit. Die Frage danach, worauf ich vertraue inmitten der ganzen Krisen und Widersprüche des Lebens. Und damit sind wir beim entscheidenden Wendepunkt im Predigttext. Denn Gott hat wiederum ein Einsehen: So soll es eben nicht mehr sein! Keinen Augenblick der Abwendung mehr, kein Zorn mehr, kein auch noch so kurzes Verlassen – Gott lässt dem Volk Israel ausrichten: „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“

Eher gerät die Welt aus den Fugen, liebe Gemeinde, eher weichen die Berge und fallen die Hügel, als dass Gott uns auch nur eine Zehntelsekunde aus den Augen verliert. Das lässt er auch uns ausrichten – hier in dieser Gemeinde in Harksheide. In der ja ebenso manche Krise zu bewältigen ist und tapfer Menschen einstehen für die Liebe und den Frieden und Gottes Dienst in dieser Welt. Ich danke Ihnen und euch von Herzen dafür. Und ich bin froh, Ihnen dies einmal persönlich sagen zu können. Danke, dass ihr Hoffnung schenkt und Zeit, dass ihr einander begleitet, Klein wie Groß. Mit Trostwort für die Traurigen und Segen für die Glücklichen. Danke für Kleiderkammer und Flüchtlingscafé, das der Würde mit großem Herzen Gastfreundschaft gewährt. Danke, dass ihr mit allem was ihr tut und denkt und träumt und hofft, zeigt: Gott ist hier, mitten unter uns. Gegenwärtig.

So wie er auch dort sein möge bei den Leidenden in der Ukraine. Und wie er, das glaube ich fest, anwesend gewesen ist in Alsterdorf. In den Mitmenschen nämlich mit den rettenden Händen und rettenden Worten. In all denen, die mit so viel Mut eingegriffen haben. Gott war da – und ist heute hier – in den Menschen, die Wunden verbinden, Ängstliche umarmen und Nachbarinnen besuchen. Sie und ihr alle seid Licht in der Nacht und Trost in aller Untröstlichkeit. Und das bedeutet doch, dass selbst wenn Gott fern und abwesend scheint, er doch seine Zeichen setzt. „Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, spricht der Herr mein Erbarmer.“

Wenn das kein Grund ist, sich nun ein bisschen mehr auf Ostern vorzufreuen! Auf das Ende der Fastenzeit. Mit frisch gewecktem Hoffnungsmut. Und mit all den geistlichen, musikalischen, nicht zu vergessen leiblichen Genüssen. Also: Lätare – freut euch – über Gottes Gnade, heute nun im zärtlichen Rosé. Und denkt daran, bald, ganz bald werden wir sehen das gänzliche Morgenrot der Ostern. Und dann schauen wir in diesen Himmel, und wissen da wartet das Leben. Und das Osterfrühstück. Und fragen:

Mudder, war is de Heben so rot?
Dat sünd de Engel, de backen dat Brot.
De backen all de seuten Stuten,
för all de lütten Leckersnuten.“

So nähre uns Gottes Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Datum
19.03.2023
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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