12. März 2023 | Dom zu Lübeck

Gottesdienst am Sonntag Oculi

12. März 2023 von Kirsten Fehrs

Predigt von Bischöfin Kirsten Fehrs zu Lukas 22, 47-53

Liebe Gemeinde,

heute ist Sonntag Oculi, das heißt schlicht: meine Augen. „Meine Augen sehen stets auf Gott“. (Psalm 25,15) So beginnt das Psalmgebet, das diesem Sonntag seinen Namen verleiht. Ich soll also immer das Wichtigste vor Augen haben. Gott eben. Und also auch die Liebe, für die er steht. Die Lebendigkeit. Die Menschlichkeit. Den Dom auch!

Das Wichtigste vor Augen haben – dazu fällt mir eine unvergesslich schöne Szene ein von den Olympischen Spielen in Peking. Sie zeigt den Gewichtheber Matthias Steiner, wie er unglaubliche 258 Kilogramm hochstemmt. So viel hat er vorher und nachher nie wieder geschafft. Man sieht die enorme Anstrengung, und es gelingt tatsächlich! Sofort bricht der Jubel aus ihm heraus, er ruft, weint, hüpft, strahlt – sagenhaft.

Das Bewegendste dann aber ist die Siegerehrung. Denn da hält er mit der Goldmedaille ein Bild seiner Frau Susann hoch. Sie war ein Jahr zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen. Seine Goldmedaille hat er nicht zuerst für unser Land oder gar für sich selbst, sondern für sie gewonnen. Ihr Bild immer vor Augen, bei allem, was er tat, hat er diese außergewöhnliche Kraft entwickeln können – auch seelisch. Denn seine traurige Seele trug ja weit mehr als 258 Kilo Last. Das Wichtigste vor Augen, hat vor allem eines gesiegt: die Liebe. In aller Menschlichkeit.

Dies alles ist 15 Jahre her und mir deshalb so wichtig, in dieser Predigt voranzustellen, weil doch das, was unsere Augen heute sehen, von so viel Hass, Gewalt, Schmerz und Unmenschlichkeit geprägt ist. Furchtbar doch sind die Bilder der Zerstörung an so vielen Orten. In der Ukraine, ja, und die Aufstände im Iran. In Afghanistan. In Syrien. Immer noch ist dort Krieg. Die Despoten reichen sich die Hände. Und das Elend nimmt kein Ende – nun auch durch das welterschütternde Erdbeben.

All die verstörenden Bilder überlagern einander. Jetzt erst am Donnerstag hat in Hamburg dieser grauenvolle Anschlag auf eine Gemeinde der Zeugen Jehovas die ganze Stadt in Trauer und Schock versetzt. Vor Augen ein Täter in wahnhaftem Hass, Tote und Verletzte im Blutbad, ein Ungeborenes stirbt im Kugelhagel. Die andere Seite: Hingebungsvoll und mit aller Kraft helfen Polizei, Rettungskräfte, Notfallseelsorger:innen, und verhindern noch Schlimmeres, Gott sei Dank. Doch das Trauma, das beginnt erst, und es wird bei vielen bleiben. Deshalb, liebe Geschwister, ist es so wichtig, dass wir mit der Kraft unseres Mitgefühls die Augen öffnen. Reden. Trösten. Dass wir beten. Für sie alle. Dass wir Gott unser Entsetzen hinhalten.

Und dies, um das Wichtigste – Gott und die Botschaft von der Liebe – vor Augen zu behalten. Dennoch. Mit dem Trotz der Sehnsüchtigen. Weil Liebe unerhörte Kraft freisetzt. Auch die Kraft, den Hass zu überwinden. Dazu muss man nicht Gewichtheber sein. Aber sich verstehen als Kind oder Kinder des Lichtes, wie es uns eben der Epheserbrief ans Herz gelegt hat. Kinder des Lichts also, die sich ja gerade nicht blenden lassen. Sondern kraft des Lichtes sehr genau schauen auf das, was wahr ist und nicht stimmt in der Welt. Auf die Verzweifelten im Schatten und auf die Mächte der Finsternis.

Im Licht des Lebens die Mächte des Todes entlarven – das gehört zum Christsein. Gut gesagt. Doch wissen wir nicht alle: Immer so zu handeln und zu glauben und zu vertrauen, immer friedens- und liebevoll, immer versöhnungsbereit, das schafft unsere Seele nicht.

Manchmal können unsere Augen ja Gott kaum noch finden im Dunkel der Zeit. Da beherrscht uns Kraftlosigkeit. Ohnmacht. Angst vor dem, was kommt. Da sind wir sozusagen mitten im biblischen Gethsemane, im dunklen Garten. So wie die Jünger damals, die Jesus nicht von der Seite weichen wollten, trotzdem aber einschlafen. Ihn allein lassen – in seiner Angst. Sie konnten einfach ihre Augen nicht mehr offenhalten. Hinschauen auf das, was sich zusammenbrodelte. Auf ihn sehen, auf das Wichtigste eben in ihrem Leben, und auf ihn achten und wachen und beten. Ging nicht. Doch jetzt, jetzt kommt die Finsternis mit Macht über sie. Ich lese den heutigen Predigttext aus dem Lukasevangelium aus dem 22. Kapitel:

„Als Jesus aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab.

Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“

Was für eine Geschichte. Wir sind mitten hineingenommen in diese Stunde mächtiger Finsternis. Mit einem Jesus, der sich ihr allerdings nicht ergibt. Er ist und bleibt der Handelnde. Der Fragende. Der Souverän. Und dennoch – aus dieser Stunde, in der die Macht der Finsternis die Regentschaft übernimmt, wird er nicht lebend herauskommen. Aber wir, wir sollen lebend, lebendig dabei herauskommen. Für uns, bis heute, geschieht das alles!

Die Jünger ahnen die Katastrophe. Den Angstschweiß auf der Stirn. „Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“

„Meinst du die Russen wollen Krieg?“,fragte vor einem Jahr der ukrainische Präsident Selenskyj und wandte sich damit ganz direkt an den russischen Präsidenten Putin – mit Worten des Dichters Jewgeni Jewtuschenko. Dass niemand in der Ukraine diesen Krieg wollte, versteht sich von selbst…

„Meinst du die Russen wollen Krieg?
Befrag die Stille, die da schwieg.
Frag Mütter, die seit damals grau,
befrag doch bitte meine Frau.
Die Antwort in der Frage liegt:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?“

Glaubst Du wirklich, Putin, Dein Volk will diesen Krieg? 250.000 getötete Soldaten, hier und dort. Millionen, die flüchten. Zerstörte Städte, kein Wasser, keine Krankenversorgung, zerbrochene Kultur. Der Despot im Kreml hat gleich zwei Völker ins Unglück gestürzt.

„Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?“ Und ohne nachzudenken, schlägt der Jünger zu. Und haut ausgerechnet dem Knecht ein Ohr ab. Auch das hat sich seit damals nicht geändert: Verletzt oder gar getötet werden nicht etwa die, die den Überfall befohlen haben, sondern ihre Untergebenen.

Für uns, bis heute, fällt Jesus der Gewalt ins Schwert. „Lasst ab! Nicht weiter!“ Und heilt den Verwundeten. Für uns, bis heute, ist sein Weg der der Gewaltfreiheit. Auch in dieser Stunde höchster Bedrohung. Er weiß, sie verlangt einen hohen Preis. Nur wenige können ihn zahlen, gefangen immer wieder in Dilemmata. Auch die Jünger können es nicht, die bis dahin an Jesu Seite waren. Sie hören zwar auf loszuschlagen, aber sie hören auch auf, an Jesu Seite zu bleiben – sie verraten, verleugnen, fliehen, bleiben hilflos zurück.

Es ist also nicht allein Judas. Er, auf den sich über die Jahrhunderte hin sämtliche Wut und Rachegedanken konzentriert haben. Auf ihn, den angeblich geldgierigen, hinterhältigen, bösen Jesusverräter. Wir wissen – das hatte eine furchtbare Wirkungsgeschichte. Das vermeintlich Böse wurde auf „alle Juden“ ausgeweitet, und es ist ein einziges Grauen, wohin das geführt hat.

Genau jedoch ins Evangelium geschaut, wird deutlich, wie sehr Judas den Jesus geliebt haben muss. Ein Freiheitskämpfer, der die Römer aus dem Land vertreiben wollte – zur Not mit Gewalt. Und dann folgt er Jesus nach, sieht die Wunder mit ihrer Kraft, hofft auf Befreiung. Aber dann wächst die Ungeduld. Bei aller Liebe, Jesus sollte machen, was Judas wollte. Vielleicht hat er gedacht, dass er Jesus nur zwingen muss. Dass er sich wehren wird, wenn sie ihn verhaften.

Diese Liebe des Judas hatte irgendwann eine zerstörerische Macht. Er konnte nur noch auf sich selbst schauen, auf seine Wünsche, Träume, Erwartungen. Liebe, die sich nur um sich selbst dreht, verrät irgendwann den, dem sie gilt. Das ist Judas passiert. Als er wieder hingeschaut hat, von sich selbst ab auf Jesus, auf Gott und die Liebe und die Menschlichkeit, hat er es erkannt. „Da ist Judas hingegangen und hat sich aufgehängt.“

Nein, es soll ein Ende sein mit der Gewalt. Für uns, bis heute, ist das alles geschehen, dort in Gethsemane, damit wir lernen. Damit wir lernen, vom Frieden her zu denken und nicht vom Krieg. Vom Neuanfang, nicht vom Ende. Von Umkehr und Verwandlung her und nicht von der Alternativlosigkeit. Trotz allem, was so aussichtslos scheint. Trotz allem, was unsere Augen niederschlagen lässt. Es bleibt gültig: Unsere Augen sehen stets auf Gott. Weil Gottes Möglichkeiten zum Leben größer sind als unsere menschlichen Denkhorizonte! Wer, wenn nicht wir, sollten in diesen Tagen mit ihren Dunkelheiten diese Botschaft stark und hell machen?

Denn Jesus, der bleibt ja an unserer Seite: an der des verzweifelt Liebenden, an der des Verleumders, der Fliehenden, der Ohnmächtigen und Hilflosen, der herzzerrissenen, friedenssehnsüchtigen Christinnen, der Angegriffenen, der Verteidiger und mit seinem Gebot der Feindesliebe sogar, so schwer es fällt, der Angreifer. Jesus ist an der Seite aller, über die sich die Macht der Finsternis und des Todes gelegt hat. Damit sie irgendwann siegt, die Liebe. Weil der Mensch endlich gelernt hat.

So bleibe der Friede Gottes bei uns. Er, höher als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen

Datum
12.03.2023
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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