11. Dezember 2022 | Dom zu Lübeck

Gottesdienst am dritten Advent

11. Dezember 2022 von Kirsten Fehrs

Predigt von Bischöfin Kirsten Fehrs zu Jesaja 40,1-11 (in Auszügen)

Gnade und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt!

Im so inniglichen, tröstlichen Klang dieses Liedes von Jochen Klepper, der tatsächlich heute genau vor 80 Jahren starb, lese ich den Predigttext aus dem Trostbuch Jesajas im 40. Kapitel:

Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist. […]

Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden […].

Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? […] Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich. […] Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der Herr! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen. […]

„,Luise‘, flüsterte meine Mutter, ,Luise?‘ ;Wir legen sie aufs Sofa‘, flüsterte mein Vater. Vorsichtig versuchte er, meine Arme von Selmas Hals zu lösen, aber das gelang nicht. […] ; Lass mal‘, sagte Selma, ich bleibe einfach hier sitzen. Sie wird ja bald aufwachen.‘ Das stimmte nicht. Ich schlief drei Tage lang. Selma behauptete später, es seien hundert Jahre gewesen. Weil ich mich nicht absetzen ließ, trug mich Selma drei Tage lang unausgesetzt. […] Selma trug mich vor der Brust, auf dem Rücken, über der Schulter. Wenn sie aufs Klo musste [...], balancierte [sie] mich auf ihrem Schoß. Wenn sie Hunger hatte, riss sie mit den Zähnen Tütensuppen auf. Sie lernte schnell, Mon Chéri mit einer Hand auszuwickeln. Wenn sie ins Bett ging, lag ich vor ihrer Brust oder an ihrem Rücken, die Arme um ihren Hals geschlungen. Selma trug drei Tage lang nicht nur mich, sondern auch ihre kranzschleifenschwarze Bluse, denn Umziehen und auch Waschen waren nicht möglich, solange ich mich nicht ablösen ließ.“

So, liebe Adventsgemeinde, beschreibt Mariana Leky im Roman „So weit man von hier aus sehen kann“, wie ein kleiner Mensch im tiefen Trauerschlaf erstarrt. Eine Szene, die mich immer wieder berührt. Weil sie so sagenhaft bildlich beschreibt, was es bedeutet untröstlich zu sein. Untröstlichkeit, die letztlich nur ausgehalten werden kann. Was ist passiert? Die zehnjährige Luise hat ihren besten, liebsten Freund Martin verloren, der auf tragische Weise tödlich verunglückt ist. Als bei der Beerdigung der Sarg ins Grab gesenkt wird, rennt Luise fort. Selma, die alte, weise Frau im Dorf, sucht sie und findet schließlich unter ihrem Küchentisch das zusammengekauerte Mädchen, das sich von dem Moment an an ihr festklammert. Drei Tage und drei Nächte, nein: hundert Jahre – eine untröstliche Kinderseele.

Tröstet! Tröstet! So tönt es hinein in diese Geschichte am heutigen dritten Advent. Tröstet, so erklingt es heute überall in den Kirchen und Gemeinden und am liebsten auch auf den Straßen, an den Zäunen, in den Rathäusern. Tröstet die Luises dieser Welt und tröstet alle in dieser Geschichte, dieser Welt, die wahrlich nicht ganz bei Trost ist, oder?

„Tröstet, tröstet mein Volk!“ spricht Gott. So beginnt unser Predigttext bei Jesaja. Er setzt den Ton in diesem Advent 2022, als hätte er geahnt, wie sehr dieser Trost jetzt gebraucht wird. Wohlgemerkt keine Vertröstung, nach dem Motto „wird schon“. Sondern Trost, der dich hält, obwohl der Riss so tief ist und du es nicht aushalten kannst vor Kummer. Trost, der zugleich inmitten der Nacht weiß, dass es einen Sternenhimmel gibt. Auch wenn ich ihn (noch) nicht sehen kann.

Untröstlich, liebe Geschwister, sind in diesen Tagen doch viele! Umklammert von der Angst, dass es womöglich nicht besser wird. Dort, wo die Waffen aufeinander gerichtet sind. Da, wo die Soldatensöhne ihrer Zukunft beraubt und die  iranischen Töchter der Freiheit ermordet werden, weil sie ihre Haare haben wehen lassen.

Tröstet, tröstet das Volk! So viele ukrainische und russische Witwen, die weinen. Fliehende, die Zuflucht suchen. So viele Frauen und Kinder, die in den inzwischen wieder überfüllten Flüchtlingsunterkünften mit ihrem Trauma gewissermaßen unter dem Tisch kauern und sich an jeden Schutz klammern.

Tröstet, tröstet, auch dieses, unser Volk. Hier in unserem Land. Da, wo es wund ist und wehtut, wo die Herzen untröstlich scheinen, wo Wärme fehlt und sogar Brot, weil nicht einmal die Tafeln noch genug davon verteilen können.

Tröstet, tröstet einander, liebe Geschwister, wo Angst die Herzen besetzt, Angst vor einer Eskalation des Krieges, Angst davor, dass unsere Gesellschaft auseinander driftet und sich selbst zerlegt, Angst vor den Klima-Kipppunkten und davor, dass die eigenen Kräfte nicht mehr reichen könnten, um all das zu bewältigen, was uns diese Zeiten abverlangen.

„Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott.“ Und dann geht der Text weiter: „Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist.“

Freundlich reden jetzt. Mit hellen Worten dem Jammer eine Kammer geben. Denn das braucht das Volk Israel. Jesaja sieht es vor sich, wie es lange schon im Exil an den Wassern zu Babylon sitzt. Vom Weinen schon ganz erschöpft sind sie, erstarrt in Untröstlichkeit. Verzweifelt über das, was sie alles verloren haben: die Heimat, den Tempel, ja, die Verheißung, dass es wieder gut wird, die Zuversicht. Alles verloren. Ach, tröstet doch bloß dieses Volk. Doch wie? Wie erreicht man sie, mit welchen hellen Worten? fragt denn auch fast ein wenig zaghaft Jesaja zurück. Was soll ich predigen? Denn das Volk ist Gras, das verdorrt. Antwort: getrost gegen-halten!

„Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage gerade jetzt den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott, der Herr! Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott!“

Das also soll Jesaja damals, und das soll heute ich, nein, wir alle predigen, und zwar als Freudenbot:innen! Dass Gott zur Welt kommen will und wird, das sollen wir predigen. Und glauben. Und davon erzählen. Inmitten dieses Schlamassels, der Nöte, der Trostlosigkeiten. Gerade jetzt, wo wir uns wie in die Wüste gestellt fühlen. Es wird einer kommen, der dem Leben Bahn bricht. Das ist die Aussicht, mit der sich auch Untröstliches halten und aushalten lässt. Also: Machen wir uns bereit. Gott will seinen Trost trotzig in diese Welt setzen. Will in uns die Sehnsucht hineinlieben nach Frieden. Nach Gerechtigkeit. Nach: Machet hoch die Tür – und nicht die Schotten dicht

Doch sind wir schon bereit dazu? Ich merke, es ist gar nicht so einfach, der eigenen Predigt zu glauben. Das ist wohl Jesaja ähnlich gegangen. Denn bei den Israeliten dauerte es lang, ungetröstet lang, bis das Trostwort die Seele erreicht. Weil sie mit sich kämpften, mit Selbstvorwürfen, mit Schuldzuweisungen, mit ihren Ängsten, wie es weiter gehen soll und was wohl noch alles passieren wird. Es ist wie im Advent 2022, wo Ängste zu bösen Reden führen und Vorwürfen und auch dazu, dass wir uns fragen, wie es soweit kommen konnte in Europa. Mich jedenfalls beschäftigt das seit dem 24. Februar nachhaltig, mit den Worten von Matthias Claudius gesprochen:

„‘s ist Krieg, ‘s ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein
‘s ist leider Krieg
Und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein.“

Mitten dahinein will Gott zur Welt kommen. Und er wird unser Leben verändern und das Unterste zuoberst kehren. Täler werden erhöht und Berge erniedrigt, und der Höchste wird einer von den Geringsten werden. Und dafür sollen wir nicht nur bereit sein, nein: Wir selbst sollen ihm den Weg bereiten. Wir sind gerade keine Zuschauer:innen im Geschehen, sondern die Boten und Botinnen! Und also: Seid wie die Träumenden und singt von der Liebe in Zeiten des Hasses. Betet um den Frieden, und hört nicht auf damit. Auch wenn dein Herz ins Stolpern kommt angesichts der Gewalt der Despoten. Haltet die Untröstlichen, und sei es hundert Jahre, und weckt die Schlafenden. Bereitet Weihnachten den Weg! Seht, der Stern geht doch schon auf, denn Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.

Das richtet Jesaja uns aus: Wir haben uns selbst der trostlosen Welt entgegenzuhalten – und zwar mit dem Größten und Zartesten, das in uns wohnt, das Gott in uns gelegt hat: Mit unserer Sehnsucht und unserer Liebe – und mit der Hoffnung, dass Gott kommen, dass der Friedefürst einziehen und die Welt wenden will. Jesaja sagt es so: „Siehe, da ist euer Gott! Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen.“

Und so wird es dann langsam gut. Auch bei Luise. Drei Tage schlief sie in Selmas Armen ihren Trauerschlaf, und Selma hat sie drei Tage in ihrem Trauergewand getragen. Und dann, so geht es im Roman weiter: „,Luise‘, flüsterte Selma, ,du musst mich jetzt mal loslassen. Es ist Zeit.‘ Sie fasste meine Hände, und sie ließen sich lösen. Ich drehte mich auf den Rücken, ohne die Augen zu öffnen. ,Sind alle noch da?“, fragte ich. Selma und der Optiker [ein Freund] sahen sich an, und dann erfand Selma die Welt zum zweiten Mal.

,Nein‘, sagte sie. ,Es sind nicht mehr alle da. Aber die Welt gibt es noch. Die ganze Welt minus eins.‘“

Und dann beginnt Luise wieder zu reden. Öffnet die Augen. Sie erzählen sich vom verstorbenen Martin. Langsam richtet sie sich auf. Getröstet wunderbar. Und irgendwann geht sie dann, von Selma weg, in ihr eigenes Leben. Leben, das auf sie wartet und neu entdeckt sein will. Ebenso übrigens wie die große Liebe. Aber das ist eine andere Geschichte, anders schwierig, und anders schön ...

Es ist die Liebe, schön wie der Stern, der auch dein Leben sucht. Bereite ihm den Weg. Damit Friede werde, endlich, Friede, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

 

Zitate aus:
Mariana Leky: So weit man von hier aus sehen kann. Köln 2017, S. 111f.
Matthias Claudius: Kriegslied. 1778, 1. Strophe
Mariana Leky: So weit man von hier aus sehen kann. Köln 2017, S. 121f.

Datum
11.12.2022
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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