26. Mai 2024 | Dom zu Lübeck

Gottesdienst zu Sonntag Trinitatis

26. Mai 2024 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Numeri 6,24-26

Liebe Gemeinde im Dom zu Lübeck,

„Der Herr segne dich und behüte dich. Er lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Amen.“

So, liebe Gemeinde im Dom, das war’s. Die kürzeste Predigt der Welt. Mit diesen Tönen ist die Messe, ja jede Messe eigentlich, gesungen. Denn am Segen ist alles gelegen, wie es ein alter Choral ausdrückt. Ohne Segen im Leben ist alles nichts. Das empfinden, denke ich, auch religiös nicht so musikalische Menschen.

Dass die wichtigsten Dinge im Leben, wie Gesundheit, Glück, Liebe und Freiheit, ein Geschenk sind und nicht zuvorderst vom eigenen Willen und Tun abhängen, spüren doch die meisten ganz instinktiv. Dass da etwas Unverfügbares, eine Kraft außerhalb von mir in mein Leben einwirkt. Und wenn dies dann auch noch höchstpersönlich wird mit Worten wie: „Der Herr behüte dich“ – nicht euch, sondern dich, dann berührt es die ureigene Existenz.

Da bist du als einzigartiger Mensch gemeint und angesehen. Von Angesicht zu Angesicht. Nicht umsonst ist dieser Segen am Ende des Gottesdienstes, der hier im Dom seit Beginn der Pandemie auf Amrumer Tonart gesungen wird, für viele unverzichtbar ist. Ohne diesen Schlusston lässt es sich nicht gut weitergehen. Es ist wie ein abschließendes Friedenswort von Gott zu uns Menschen, mit dem er uns die Hand auflegt und sagt: Und nun los, geh deinen Weg! Vor dir liegt weites Land.

„Der Herr segne dich und behüte dich […] und schenke dir Frieden.“ Es sind mit die ältesten Segensworte in der Bibel und stehen als Predigttext heute in Numeri, dem 4. Buch Mose. Wunderbar. Denn Segen – Mut und Kraft für diesen Sommer, der so geprägt ist von Wahlen, Kämpfen, kriegerischen Konflikten, Segen können wir in diesen Tagen wahrlich nicht genug bekommen.

Der Herr segne dich also – heute. Und damals vor über 3.000 Jahren. Schon damals standen diese Worte am Ende eines feierlichen Gottesdienstes. Und zwar in einer besonders kritischen Situation für das Volk Israel.

Das streikt nämlich gerade. Das Volk murrt, weil es nach einer langen Wüstenwanderung all der Entbehrungen, Durststrecken, Krisen und Verfolgungen müde ist. Doch es nützt ja nix! Es muss weitergehen. Richtung gelobtes Land. Das ruft Mose immer wieder in Erinnerung, seit Jahren schon: Los, lass es zieh‘n mein Volk, raus aus der Knechtschaft eurer Angst in die Freiheit! – Let my people go!

Doch die Israeliten zittern und zaudern, ja, wünschen sich die Fleischtöpfe Ägyptens zurück, jammern den angeblich goldenen Zeiten von früher hinterher. Und bleiben also sitzen und murren und knötern und wissen alles besser. (Kennt man irgendwie ...) Und genau in diese aufgeraute Stimmung hinein spricht Aaron, Moses Bruder und ihr erster Priester, diesen uns so vertrauten Segen. Er hebt die Hände über die Menschen, schützend, denn die Wütenden und Verzagten brauchen jetzt keine Zurechtweisung. Sondern Zuneigung. Zuversicht.

„Der Herr segne dich und behüte dich.“ Langsam wird es leise. Still! Es sind ja nur wenige Worte. Der Segen trifft ihr Herz und ihre Sehnsucht. Das Murren verstummt. „… und schenke dir Frieden.“ Die Menschen sammeln sich. Stehen langsam auf. Amen. Wir sind das Volk, singen sie. Und gehen los, kraftvoll wieder. Let my people go – auf in die Freiheit. Ein Segen, dieser Segen der Freiheit!

Vergangenen Donnerstag haben wir in Berlin das Grundgesetz gefeiert. Ein Segen der Freiheit, so kann man die Feierlichkeiten zusammenfassen, dass es vor 75 Jahren das Licht der Welt erblickte. Und zwar nicht mit lauten Fanfaren. Sondern, ähnlich wie in der biblischen Geschichte, eher leise, im Schmerz geboren, ja demütig. Denn unser Grundgesetz vollendet wahrlich keine erfolgreiche nationale Entwicklung. Es bietet vielmehr Halt nach einer Wüste der Verwüstung. Halt nach der Katastrophe von nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, einem an Grauen nicht zu überbietenden Holocaust und einem mörderischen Zweiten Weltkrieg. Zutiefst gebrochen galt es 1949, den Rücken gerade zu machen für eine neue Ordnung der Mitmenschlichkeit. Aufzustehen aus Zerstörung, Menschenverachtung und Amoralität.

Unantastbar ist die Würde des Menschen! Die das schrieben, wussten wahrlich um den Wert dieser Würde! Auf sie leuchtet Gottes Angesicht. Nicht umsonst beginnen so die Grundrechte, allem voran in 19 Artikeln stehen sie fest. So gut wie unveränderbar. Besonders behütet, damit ihnen nie wieder etwas geschieht. Unantastbar all dies:

„Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ (Artikel 2)
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ (Artikel 3)
„Eine Zensur findet nicht statt.“ (Artikel 5)
„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ (Artikel 16)

In ihrer prägnanten Sprache sind diese Sätze ein Meisterwerk. Inhaltlich und moralisch sowieso. Kurz und klar wie die zehn Gebote, die in Judentum, Christentum, Islam unseren Wertegrund bilden. Was wirklich wichtig ist, liebe Geschwister, braucht nicht viele Worte.

Ein Segen, dass es sie gibt. Als Kompass durch die Zeiten. Unverbrüchlich gültig diese Sätze des Menschenrechts. Das „Nie wieder ist jetzt!“ klingt darin mit. Menschen können Macht missbrauchen und andere abwerten, niedertreten, mit Hass überziehen, so wie wir es derzeit ja erleben – aber trotzdem und gerade deswegen halten wir an der Würde des Menschen und am Schutz des Lebens fest.

„Der Herr behüte dich“ – damit du genau dafür mit aller Kraft einstehst. Als Mensch, der gebraucht wird mit seiner Mitmenschlichkeit, die es derzeit so schwer hat in dieser Gesellschaft. Denn klar, das Grundgesetz beschreibt ja (wie die zehn Gebote auch) nicht die Realität, wie sie ist. Sondern wie sie sein sollte: frei und gleich. Mit diesem Traum von einer gerechten Welt sendet es uns jeden Tag neu auf den Weg, der Demokratie die Hand zu reichen.

So also war‘s ein Segensfest in Berlin. Ein dankbares Segensfest. Zumal dieses 75. Jubiläum mit einem anderen eng verwoben ist: mit fast 35 Jahren Mauerfall und friedlicher Revolution. „Schwerter zu Pflugscharen“ – diese großartige Vision biblischer Propheten hoffte man 1989 ja tatsächlich in die Wirklichkeit hinein. Aus: „Wir sind das Volk!“ wurde: „Wir sind ein Volk!“  Und das Grundgesetz mit seiner Demokratieliebe ist damals beinahe über Nacht zum Sehnsuchtssymbol eines großen Aufbruchs geworden.

Deshalb war’s ein Segen, dass die gottesdienstliche Feier in der Marienkirche mitten auf dem Alexanderplatz im ehemaligen Ostberlin stattfand. Mit ihrer sehr eigenen DDR-Befreiungsgeschichte. Vor 60 Jahren nämlich, 1964 predigte dort der Bürgerrechtler und Pastor Martin Luther King. Eingeladen hatte ihn Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister im Westen der geteilten Stadt. King begeisterte in der Waldbühne in West-Berlin vor 20.000 Menschen mit den Worten: „Überall, wo Menschen trennende Mauern niederreißen, erfüllt Christus seine Verheißung. In diesem Glauben werden wir gemeinsam für die Freiheit aufstehen in der Gewissheit, dass wir eines Tages frei sein werden.“

Am Abend dann wollte er auch in Ostberlin predigen, aufgewühlt von der Nachricht, dass just am Tag zuvor ein Flüchtling an der Mauer erschossen worden war. Insofern riet die US-Stadtkommandantur ihm dringend ab und behielt vorsichtshalber gleich seinen Pass ein. King fuhr natürlich trotzdem zum Checkpoint Charly, zeigte den verblüfften Beamten einfach seine amerikanische Kreditkarte vor und kam ungehindert in die Marienkirche. Und als er vor den fast 3.000 Menschen stand, die spontan zusammengekommen waren, begann er mit dem Gospelchor zu singen: „When Israel was in Egypts Land, let my people go“ … und jeder, wirklich jede hat verstanden, was gemeint war. Noch heute sagen Menschen, die dabei waren: Die Erinnerung an diesen Moment hat mir 1989 Mut gegeben.

Das ist Segen! Segenskraft. Segen der so sehr die Seelen berührt, dass er ein ganzes Leben wirkt. Segen, der einen Traum wachhält und so viel Mut hervorbringt, dass Menschen Mauern zum Einsturz bringen. Und zwar friedlich – 25 Jahre später wird dies Wirklichkeit! Was für eine Geschichte.

Jedem Aufbruch wohnt ein Segen inne, könnte man unseren Predigttext damit auf den Punkt bringen. Als Gesegnete sind wir in diese Zeit geboren, damit wir die Welt in anderem Licht – in Gottes leuchtendem Angesicht – sehen. Gesegnet sind wir, um immer wieder neu den Frieden zu denken. Zu hoffen. Beherzt zu handeln. Damit das Gute konsequent das Böse überwindet! Denn segnen, lateinisch benedicere, heißt: gut sprechen. Gesegnet sind wir und gut gesprochen.

Alles, was uns ausmacht, alles Schöne und alles Schwere, kommt in einen Raum, in dem Gott segnend zu uns sagt: Es ist gut. Nicht indem man alles „absegnet“, auch das Ungute. Nein, der Kompass heißt seit ehedem, fast so alt wie unser Predigttext: „Es ist dir längst gesagt Mensch, was gut ist – nämlich Gerechtigkeit üben, die Liebe lieben und demütig sein vor deinem Gott.“ Oder – mit der Präambel unseres Grundgesetzes gesprochen: vor Gott und den Menschen Verantwortung übernehmen und dem Frieden dienen.

Demütig sein vor meinem Gott – wir haben eine Aufgabe als Christenmenschen und überhaupt als Religionen, denen die Religionsfreiheit geschenkt ist. Nämlich Zusammenhalt und Frieden in diesem Land zu stärken. Mit Demut. Sie ist der Schlüssel zur Demokratie. Denn sie befähigt einen, auf andere zu hören und nicht ausschließlich auf sich selbst – gerade in diesen Zeiten, wo Sprache so dermaßen an ihre Grenzen zu kommen scheint und Kompromisse in weite Ferne rücken.

Heißt auch: Lasst uns als Religionen für einen Dialog einstehen, der die Freiheit des anderen respektiert und den extremistischen Verirrungen die Tür weist. Lasst uns reden, gern Klartext in vielen Sprachen. Unsere Demokratie baut auf uns! Und ja, sie hat ihre Fehler – und Feinde hat sie auch. Und deshalb braucht sie Schutz und Beistand. Nur gemeinsam lässt sie sich verwirklichen, die Demokratie. Niemand ist dabei unbedeutend. Und niemand ist nicht verantwortlich. Gesegnet eben ...

Die Demokratie lebt von unserer Dialogfreude und unserem Hoffnungsmut. Heute und morgen auch. Nicht Pöbeln, Hetzen, Niederschreien, Beängstigen, sondern mutig einen Demokratiesommer 2024 ausrufen und damit die Vision der Väter und Mütter des Grundgesetzes aufrecht halten: Reden, kommunizieren wir, mit Worten, Gesten, Herzen. Teilen wir das Brot und unsere Sehnsucht nach Frieden. Gleich dort am Altar, wo wir verlässlich den Segen empfangen.

Und dann gehen wir los, mit neuer Kraft, liebe Geschwister. In weites Land. Let my people go. Gesegnet seit ehedem von unserem dreieinen Gott mit seinem Frieden, höher als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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