21. August 2022 | Kirche St. Nicolai, Hamburg-Altengamme

Gottesdienst zum 775. Kirchweihjubiläum von St. Nicolai Altengamme

21. August 2022 von Kirsten Fehrs

Predigt von Bischöfin Kirsten Fehrs zu Lukas 19,1-10

Liebe Festgemeinde!

Glück und Segen zum Kirchengeburtstag! 775 Jahre, wenn das kein Grund zum Feiern ist. 775 Jahre Kirche im Dorf, die ist und war und immer sein wird. Sie hat etwas Ewiges, oder? Und wunderschön ist sie. Eine edle alte Dame, diese Kirche, die sich prächtig gehalten hat. Mit ganz individuellem Charme, mit Hutständer (für die Männer!), Sitzkissen, Celsa-Glocke und Baldachin. Und einem bemerkenswerten Namenspatron, dem Nikolaus, der über alle, besonders aber die Fischer, Seeleute und Kinder, seine schützende Hand hält. Über die Kleinen eben, die hart Arbeitenden und die Schutzbedürftigen, um die sich Kirche kümmert und immer gekümmert hat.

Und so ist es eine ebenso wunderbare wie passende Geste der Nächstenliebe, lieber Pastor Waltsgott, wenn jede Spende bei diesem Jubiläum ukrainischen Geflüchteten zugutekommt, ihnen, deren Leben derzeit so überschattet ist von Elend, Krieg und Angst.

Danke dafür! Und danke, dass ich heute Ihr Gast sein darf – und den Auftakt einer beeindruckenden Festwoche miterleben darf, mit Trachtentanz und einem großartigen, neuen Kirchenführer, mit so viel Kunst und Handarbeit und liebevoll vorbereiteten Ausstellungen. Und all das heißt ja: Unzählige haben mit so viel Herz und so viel Können mitgewirkt, um das Fest zu einem ganz besonderen zu machen.

Und zwar gemeinsam. Das ist ein wichtiges Stichwort hier. Gemeinschaft, die zusammenhält, das prägt Altengamme schon immer, will mir scheinen. 775 Jahre, in denen Kirche und Dorf immer schon ein Verhältnis hatten. Sie sind gemeinsam gewachsen, durch Stürme und Erntezeiten hindurch. Ein Dorf, in dem man mit bäuerlichem Stolz auf die Eigenständigkeit hält, aber auch große Demut kennt gegenüber den Gesetzen der Natur. Und so hat gerade diese Kirche über die Jahrhunderte viele Danklieder zu Erntefesten gehört und Trachten zu Konfirmationen gesehen, hat ihr Bauernbarock gepflegt und Kind und Greis die Tür geöffnet. So viele – auch gewiss unter Ihnen – haben hier dankbar ihre Kinder über die Taufe gehalten und zur Liebe ihres Lebens ja gesagt. Hier haben Menschen in Krieg und Not ihr Elend geklagt und geliebte Menschen zu Grabe getragen. Kurzum: Das Leben ist hier zu Hause – mit allem, was dazugehört an Licht und Schatten, Tanz und Traurigkeit.

Und gerade in Krisenzeiten wie heute ist es doch tröstlich zu wissen: Auch dieses alte Gotteshaus kennt Katastrophen, kennt Bedrohung, Rettung, Wiederaufbau. 500 Jahre war die Kirche alt, als ein Unwetter sie zum Einsturz brachte. Diese schöne Barockkirche ist entstanden, weil die Altengammer nicht aufgegeben haben. Weil sie zusammen gehalten haben. Und so feiern wir heute zwischen kunstvollen Intarsien und historischem Taufkessel die Hoffnungskraft und den Glaubensmut von Generationen. Jedes Leben gesegnet, gerade wenn’s nicht leicht war und ist im Leben.

Denn genau hier, in Altengamme, geht – zumindest aus Hamburger Sicht – die Sonne auf, ganz zuverlässig, jeden Tag. Für alle. Für die Reichen und die Armen, die Glücklichen und die Verzagten. Für die Freundlichen und für die, die nur manchmal freundlich sind. Sogar für so einen wie Zachäus, von dem wir eben hörten. Der war ja reich und mächtig, und immer auch ein bisschen fies, wisst ihr. So hintenrum. Aber, wie sagt die Ausstellung der Jugendlichen im Timmanschen Haus? „Nichts ist wie es scheint.“ Genau. Auch bei Zachäus nicht, dessen Geschichte bei Kirchweihjubiläen übrigens immer als Evangelium gelesen wird. Denn sie ist eine der schönsten Liebesgeschichten der Bibel. Die Geschichte eines grimmigen Karrieristen, der so positiv von der Liebe erschüttert wird, dass er sich tatsächlich total verändert.

Als Zöllner hat er zunächst nämlich die Leute ausgenommen wie Weihnachtsgänse, wenn sie hineinwollten in die Stadt. Ein korrupter, kleiner Mann, der zwar viel Geld anhäuft und Macht, aber auch selten beliebt ist. Die Leute reden nur schlecht über ihn: dass er klein sei und mies und erbärmlich. Ohne Größe. Einer, der sein Anrecht auf Zuwendung verspielt hat. Allemal Zuneigung von diesem so barmherzigen Jesus. „An den wird er nicht rankommen“, sagen die, die Zachäus nicht ausstehen können, „dafür werden wir schon sorgen.“

Doch Zachäus ist unbeirrbar. Getrieben – ja wovon eigentlich? Von der Sehnsucht nach einer heilen Seele, wie sie heutzutage so viele in sich tragen? Weil sie verwundbar ist und verängstigt? Will er deshalb diesen Christus sehen und berühren? Oder will vielmehr gesehen werden? Endlich ein wenig Hochachtung – für den kleinen Menschen. Und so geht, ja läuft er zielstrebig auf einen Baum zu, der ihn hoch über alle erhebt. So clever, dieser Zachäus. Und doch so verloren. Denn er erkennt, oben auf diesem Baum, wie weit er sich entfernt hat von dem, was wirklich etwas wert ist, nämlich: Gemeinschaft. Gegenseitige Achtung und Aufrichtigkeit. Und ja: Liebe. Zumindest Anerkennung.

Und dies nun hat ja vielleicht durchaus mit uns zu tun. Denn wer unter uns wüsste nichts von Zeiten, wo man sich nach einem anerkennenden Wort gesehnt hat? Nach einem: Ick heef di leev. Oder: Was wäre mein Leben ohne dich? Oder: Wie liebevoll habt ihr dieses Fest vorbereitet, liebe Ehren- und Hauptamtlichen. Großartig, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, wie ihr euch heute in diese wunderschönen Trachten mit all den Knöpfen und Röcken und Hüten „hineingearbeitet“ habt. Phantastisch, wie Sie die Festwoche gemeinsam mit dem Kirchengemeinderat orchestriert haben, lieber Pastor Waltsgott. Und, liebe Landfrauen, würden mehr Menschen wir Sie in Trachten tanzen, gäbe es weniger Kriege auf der Welt.

Der Zachäus da auf seinem Baum, der hat sowas schon lange nicht mehr gehört. Und da passiert etwas mit ihm. Er merkt endlich mal was. Jetzt, auf diesem Baum, mit Abstand, erkennt er erst, wie sehr er sich sehnt, ein anderer zu werden. Freundlich. Ehrlich. Zugewandt. Ach ja. Manchmal braucht man solch einen Ort innerer Einkehr, sozusagen einen Baum der Selbsterkenntnis. Oder gern auch eine Kirchenbank aus gutem Holz. Um wieder zurechtzukommen. Um loszuwerden, was einen verstört hat oder bitter gemacht. Um zu trauern, zu danken, ein Licht für jemanden anzuzünden – einfach Ruhe zu haben, um den roten Lebensfaden wieder aufzunehmen, den man irgendwie verloren hat. Und um das eigene Leben innerlich zu verknüpfen mit alten Worten und Geschichten und mit diesen kunstvollen Schätzen, mit denen Bibel und Glaube uns immer gern auf eine neue Spur bringen wollen.

Wenn Sie die Ausstellung im Timmannschen Haus besuchen, dann sehen Sie, wie Künstlerinnen und Künstler genau das gemacht haben: Sie haben ihre Kunstwerke in Beziehung gesetzt zu einem Bibelwort. Eine wirklich kluge Idee. Denn in der Begegnung geschieht unfassbar Wertvolles: Beides verändert sich. Das Kunstwerk wird neu gesehen, aber das Bibelwort auch. Es bekommt ein Gesicht, wird bildhaft, verfremdet, verändert, es hat ganz direkt mit dem Leben zu tun. Und regt zum Nachdenken an. Wir brauchen solche Dialoge, liebe Gemeinde, um beieinander zu bleiben in dieser Gesellschaft, die immer mehr auseinander treibt. Wir brauchen den Blick füreinander, so wie sich das hier ausdrückt: Ich muss heute dein Gast sein – sagt die Kunst der Kirche und sagt die Kirche der Kunst. Genauso geht es. Genau so verändert sich etwas zum Guten im Leben.

„Und Jesus kam zu diesem Baum und sprach: ,Zachäus, steig eilend herunter. Denn ich muss heute dein Gast sein und in deinem Hause einkehren.‘ Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden.“

Jesus sieht ihn genau, der gesehen werden will. Er holt ihn von seiner Verstiegenheit herunter und macht den übersehenen zu einem angesehenen Menschen. Und Zachäus ist so erleichtert! Allen, die er betrogen hat, will er gleich das Vierfache zurückgeben. Doch „als sie das sahen, murrten sie: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.“ So einfach ist das alles offenbar nicht. Es ist eben nicht störungsfrei, unser Evangelium, wenn Wirklichkeit wird, was da steht: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und glücklich zu machen, was verloren ist.“ Das ist die Revolution unseres christlichen Glaubens: Gott setzt gerade nicht bei dem Perfekten, sondern beim Unvollkommenen in uns an, bei dem, was uns oft so unbarmherzig macht und verletzend und neidisch. Er schaut auch dies mit Liebe an, um es zu überwinden anstatt es zu verurteilen. Haltet fest an der Hoffnung, dass es Versöhnung gibt, sagt Jesus uns damit. Gerade in dieser Zeit! Denn durch Verurteilungen, mit denen viele ja heutzutage schnell bei der Hand sind, ist noch kein Mensch klüger geworden. Nein, heilsam ist die geduldige Übung etwas Fremdes zu verstehen. Sich zu einigen, auch wenn es manchmal sagenhaft anstrengend ist mit all den Unterschieden, gute Güte.

Wir Christen haben eine Aufgabe in dieser sich verändernden und von Pandemie und Krieg so verunsicherten Welt: Dass wir angesichts all der Zerbrochenheiten davon reden, was aufbaut. Dass wir Räume des Friedens öffnen, Kirchräume wie diesen hier, damit Menschen wieder vom Frieden hören und nicht ständig von Waffen. Damit sie hoffen und Zuversicht gewinnen. Wir werden doch irre ohne Zuversicht! Bei all den Sorgen um Krieg und seine Folgen, den Sorgen um Energie, Kosten und sozialen Zusammenhalt, nicht zuletzt um die Klimakrise, die einfach da ist und uns immer mehr in den Griff nimmt: Hier bekommen wir einen Ort, an dem sich etwas verändern darf. Weil eben nichts so ist wie es scheint. Und erst recht nicht so aussichtslos, wie es sich vielleicht manchmal anfühlt.

Ich bin froh, dass in dieser Gemeinde so viele auf dem Weg waren und sind, mit Christus zu suchen, was verloren ist. Die ein weites Herz haben und sagen: Wir nehmen dich in Freuden auf. Arm, reich, schwarz, grau und weiß, groß, klein, Sie – und heute auch mich. Danke sage ich dafür! (Und danke dafür, dass sie so geduldig einer so langen Predigt zuhören … Aber mir ist einfach so viel eingefallen zu Ihnen!)

Ich bin Gott dankbar für Sie alle. Für all die Pastoren in fast acht Jahrhunderten, für all die Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, für die Musizierenden und religiös Musikalischen. Danke, liebe St.-Nicolai-Kirche Altengamme. Bleib bloß gesegnet – viele weitere Jahrhunderte! Denn du warst und bist Herberge Gottes, die uns schon jetzt etwas ahnen lässt von dem Ort, wo einst kein Leid mehr sein wird und keine Tränen. Und wo er ist: der Friede Gottes, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Datum
21.08.2022
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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