31. Oktober 2023 | Schlosskirche Wittenberg

Gottesdienst zum Reformationsfest 2023

31. Oktober 2023 von Kirsten Fehrs

Predigt von Bischöfin Kirsten Fehrs zu Matthäus 5,1-10

Alles, alles beginnt mit der Sehnsucht. Mit dem innigen Wunsch nach Glück, Frieden. Wind of change! Deshalb haben sie sich zu Hunderten aufgemacht, damals.

Und Sie ja heute vielleicht auch, liebe Reformationsgemeinde! Mit dem Sturm Ihrer Sehnsucht danach, dass sich etwas grundlegend ändert? In der Welt, in diesem Land, in der Kirche. In unserem Leben.

Glückwunsch zur Reformation, liebe Geschwister, Friede sei mit euch. Willkommen in dieser Gemeinschaft der Hoffenden und sich Sehnenden. Ich bin dankbar, nein: selig, bei Ihnen zu sein. Als Lutheranerin mit der Hamburgischen Halskrause hier in Wittenberg, in dieser Schlosskirche, wo alles begann mit der umstürzenden Bewegung von unten.

„Viva la Reformation!“ rief im Hamburger Michel ein enthusiastischer Gottesdienstbesucher, als am Reformationstag 2017 das 500. Jubiläum seinen Höhepunkt feierte. Und nun also, am 506.: Glückwunsch, Kirche! Inmitten der Weltverwundungen unserer Tage, genau dahinein ein inniger Glückwunsch. Denn was ersehnten und wünschten wir derzeit mehr, als dass die Welt friedlich wär‘.

Wie auch sie damals, dort im Heiligen Land. Sie sehnen sich danach, dass diese Gewalt endlich aufhören möge. Dieser Terror. Die Unterdrückung durch die römischen Besatzer. Und die politischen Morde durch die Zeloten. Jeden Tag dieser abgründige Hass. Was sind doch bloß einige krank im Kopf. Und wenn die dann auch noch Waffen in die Hände bekommen ... Möge Gott uns bloß schützen vor den Fanatikern, beten sie. So lange beten sie das schon. Verzweifelt. Auch am Glauben. Denn die Angst ist laut und die Hoffnung leise. Sie haben das alles so satt. Jeden Tag dieser Kampf. Um Brot. Um Land. Um Menschenrecht.

„Selig sind, die Frieden stiften ...“ Die Menschen horchen auf. Der Mann da oben auf dem Hügel, der meint ja sie! Die Suchenden und Hungernden, die Bitter-Gewordenen. Die ohne feste Burg in ihrem unbehausten Leben. Und, Leute, er predigt ihnen aus der Seele. „Selig sind, die in ihrem Glauben zweifeln, die sich vor Gott so arm vorkommen – euch gehört das Himmelreich. Nicht den Frömmelnden mit ihren blutleeren Predigten. Euch! Dir!

Unerhört! Der stellt ja die Welt komplett auf den Kopf, denken sie. Selig sind wir? Im Gegenteil, so ein Unglück überall.

Jesus fährt unbeirrt fort. „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind, die hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ Und langsam, langsam begreifen sie, dass dieser besondere Mensch da auf dem Berg gerade eine weltumstürzende Rede hält. Das unterste wird nach oben geliebt. Ja, eine geradezu revolutionäre Liebeserklärung ist das. Viva la revolución! Denn so etwas Tröstliches haben sie noch nie gehört. So eine hemmungslose Würdigung der Entwürdigten und Trauernden, der Ohnmächtigen, der Glaubenszweifler. Ihnen gilt das griechische makarioi, das Martin Luther so himmlisch-weltlich mit „selig“ übersetzt. Ihnen, den Friedensverzagten, uns wünscht Jesus alles Glück auf Erden. Glück und selig, es ist die Sprache des Himmels mitten im Elend der Welt. Allein, damit diese Erde verwandelt werde.

Ein Umsturz, den nur die Liebe vermag – auch durch unsere. Mit Sanftmut. Aber Mut! Mit Erbarmen, aus dem Herzen heraus. Mit dem klugen Wort, das überzeugt, nicht mit Gewalt und Zwang.

Nicht mit der Gewalt der Mächtigen, sondern mit dem Wort. Sine vi, sedverbo. Es wurde das Programm der Reformation. Wir alle kennen dazu die Geschichte von Martin Luther, allemal hier in Wittenberg. Wie er sich auf der Suche nach dem gnädigen Gott durch Zwang und Geißelung und mönchische Askese kasteit. Und wie er dann auf einmal das eine helle, richtige Wort entdeckt – den Schlüssel zum Leben. Das Wort Gottes, das es allein zu glauben gilt. Denn wir sind längst befreit. Geliebt. Maßlos, wie nur Gott es vermag. Es braucht keinen Ablass, keine Heiligenverehrung, keinen prunkvollen Petersdom. Aber die Heilige Schrift, die brauchen wir! Die Seligpreisungen allem voran. Sie sind die Grammatik des Evangeliums. Beglückwünschen sie doch genau uns, die wir uns in Barmherzigkeit üben und die wir auf Gerechtigkeit aus und friedenstapfer sind.Sine vi, sed verbo.

Martin Luther hat damit die Welt auf den Kopf gestellt. Was mit den 95 Thesen an dieser Schlosskirche begann, hat die Tür geöffnet zu einer spirituellen, kulturellen, gesellschaftlichen Emanzipations- und Bildungsbewegung, die Europa, ja die ganze Welt aus den Angeln hebt. In ihrem Machtgefüge. Und in ihrem Menschenbild – das Ich im Wir wird stark gemacht. Gewissensstark!

Echt starke Botschaft heute in einer Gesellschaft mit ihren sagenhaft vielen Ichlingen. Sie, die ausschließlich an ihrer Freiheit interessiert sind. Deine Freiheit ist ihnen komplett egal. Hingegen: reformatorisch ist das Ich stark, weil es die eigenen Grenzen kennt. Und die Verantwortung für die Freiheit des anderen! Ergo: Selig sind wir, die wir unser Gewissen schärfen, in Zeiten des immer schärferen Tons. Und zwar jeder einzelne Mensch. Nicht nur der Politiker. Die Klimaaktivistin. Der Bundeswehrgeneral. Ich. Sehnsüchtig auch, dieses Ich.

Ein starkes Ich voller Sehnsuchtskraft – natürlich steht Martin Luther dafür. Als mutiger Rebell und frommer Kämpfer gegen die Korruption des Glaubens, als bewundernswert treffsicherer Bibelübersetzer, Hochdeutsch-Erfinder, als zart besaiteter Musiker. Und zugleich, das ist die Schattenseite dieses Ich, der düstere Grantler und Besserwisser, irgendwann feindselig gegenüber den Bauern, widerlich gegenüber den Juden. Und mit all seinem Licht und Schatten ein Textproduzent. Denkmensch. Ein Wortschöpfer. Dies vor allem. Fürs Wort, nicht die Gewalt. Auch wenn er sich selbst manchmal nicht mehr in der Gewalt hatte.

Selig, die daran festhalten können: Sine vi, sed verbo. In diesem Zweiklang steckt nämlich eine weitere Erkenntnis Luthers: Staat und Kirche haben unterschiedliche Aufgaben. Seine Erfahrung war: Wo die Kirche selbst politische Macht ausübt, wird die Religion zum Zwangssystem, und der Staat wird totalitär. Wichtig zu hören in diesen Tagen, wo die Religion an so vielen Orten vereinnahmt wird für politische Ideologien. Wo sie Rechtfertigung ist für Unterdrückung oder Brandbeschleuniger für Gewalt. Wir erleben diesen Missbrauch der Religion in den kriegstreiberischen Aufrufen eines Patriarchen Kyrill ebenso wie im Gottesstaat Iran oder in den „Gott ist groß“-Rufen der Hamas-Terroristen. Deshalb, liebe Geschwister: Es ist heute notwendiger denn je, dass religiöse Menschen aufstehen und ihre heiligen Schriften nicht den Scharfmachern und Fanatikern überlassen.

Das Evangelium ist keine Staatslehre, und die Bergpredigt kein Regierungsprogramm. Sie ist vielmehr ein Gegenüber zur Macht, und gerade darin politisch. Sie gibt Orientierung, einen Kompass. Heute. So wie vor 500 Jahren. Oder vor 40 Jahren, als sich hier in Wittenberg im Innenhof des Lutherhauses Hunderte Mutige versammelt haben. Genau dort, wo sie damals die Reformation schmiedeten. Beeindruckend diese Geschichte, wie auf einmal – auch zur Überraschung der Stasi – der Kunstschmied Stefan Nau vor aller Augen ein Schwert zu einer Pflugschar schmiedet. „Schwerter zu Pflugscharen“ hörten sie die alten Prophetenworte und die Sehnsucht wird neu.

„Keine Gewalt“ – so riefen sie es dann auch vor 34 Jahren auf den Demonstrationen, zunächst leise, dann immer lauter. Erst wenige, dann immer mehr. Erst in den Kirchen und dann auf den Straßen. Mit Kerzen und Gebeten. Sine vi, sed verboviva la revolución, die friedliche! Ich empfand es damals genauso: Selig sie, die Frieden stiften, eine Kirche zum Beglückwünschen. Bei der alles begann mit der Sehnsucht.

Mit dem Friedenfest in Wittenberg im diesjährigen September haben Sie daran erinnert. An Stefan Nau und die Kraft der Träume. Und sie haben damit in dieser Zeit mit ihren Kriegen ein Zeichen der Sehnsucht gesetzt. Danach, dass Frieden immer als Möglichkeit gedacht bleiben muss. Und im Gebet erfleht. Allemal angesichts der brutalen Angriffe der Hamas auf Israel und der barbarischen Akte gegen die Zivilbevölkerung. Es tobt der Krieg – auch der Krieg der Bilder, die auf grausamste Weise zeigen, zu welcher Gewalt Menschen fähig sind. Bilder von hingemetzelten Kindern, mein Gott. Und Bilder all der hungernden und durstenden Menschen im Gazastreifen. Ein Abgrund. Und der macht deutlich: Wenn Terror und Krieg erst einmal begonnen haben, verschlingen sie immer mehr Menschenleben. Beim Angriffskrieg auf die Ukraine. Beim Terror jetzt in Israel. Die Folgen sind weltweit spürbar: Aufgeheizte Stimmung und Gewalt auf den Straßen. Zunehmender Antisemitismus, aus den verschiedensten Richtungen.

Was hilft da die Bergpredigt? Ich glaube, wir brauchen sie mehr denn je. Um uns nicht anstecken und vergiften zu lassen vom Hass. Um besonnen zu bleiben und immer wieder zum Frieden zu mahnen, der sich eben nicht allein durch Waffengewalt durchsetzen lässt. Lasst uns, liebe Geschwister, so klar wie besonnen bleiben. Jede und jeder einzelne. Klar muss sein: Antisemitismus, und zwar jede Form von Antisemitismus, fordert unser unmissverständliches Nein. Er ist menschenverachtend. Gottlos. Nicht zu dulden. Unsere Demokratie ist jetzt angewiesen auf den vernünftig denkenden, mitfühlenden, handelnden Menschen. Der weiß, dass Würde kein Konjunktiv ist. Mit starkem Ich für ein Wir, das sich entschlossen gegen Rassismus und Terror stellt, wo und wie auch immer.

Unsere Demokratie braucht die Sehnsucht der Hoffenden. Die den Schmerz fühlen und zugleich wissen, dass es letztlich nur die Liebe ist, die die Macht hat, Verhältnisse zu verändern. Ja, dass wir diese Kraft in uns tragen. Ich bin überzeugt: Wir sind in diesem Land die Mehrheit, immer noch die Mehrheit, die etwas von dieser Liebe weiß, der Nächstenliebe, wozu andere auch sagen: Solidarität. Es ist immer noch die Mehrheit, die die Demokratie liebt, auch wenn sie anstrengend ist. So viele sind es, immer noch, die den Heimatlosen in diesem Land in aller Würde die Hand reichen wollen. Und selig sind immer noch alle, die sich den Traum vom Frieden nicht ausreden lassen.

Denn alles, alles, liebe Geschwister, beginnt mit der Sehnsucht. Diese Gedichtzeile stammt von der jüdischen Poetin Nelly Sachs. Sie, die Jüdin, hatte in meiner Predigt heute ganz bewusst das erste Wort. Und sie soll die letzten Worte einleiten – denn selig Menschen wie sie, die trotz tiefem Schmerz beharrlich an die Liebe glaubten, die den Hass überwindet.

Alles beginnt mit der Sehnsucht[1]
Immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille,
nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.

Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht
damit anfangen,
Dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
Dich gefunden zu haben.

Denn es ist dein Friede, Gott, höher als alle Vernunft, der unsere Herzen und Sinne bewahrt in Christus Jesus. Amen.

 


[1] Nelly Sachs: Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels, in: dies.: Das Leiden Israels/Eli/In den Wohnungen des Todes/Sternverdunkelung. Frankfurt/Main, 1961. – (Es gibt in der Forschung allerdings Zweifel, ob auch die letzten Zeilen von Nelly Sachs stammen. Dies sei der Korrektheit wegen erwähnt.)

Datum
31.10.2023
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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