13. Januar 2022 | Digital

Grußwort zur Ausstellungseröffnung „Neue Anfänge nach 1945?“

13. Januar 2022 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Ausstellung „Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit ihrer NS-Vergangenheit umgingen“ (Livestream www.gdw-berlin.de)

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Tuchel,
sehr geehrte Frau Prof. Dr. Endlich,
sehr verehrte Damen und Herren!

Der vor 70 Jahren gestorbene Philosoph und Dichter Jorge Santayana sagte Anfang des 20. Jahrhunderts, noch vor den Katastrophen der beiden Weltkriege: "Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben.“[1]

Erinnerung, wahrhaftige Erinnerung ist es, zu der jede Generation verpflichtet ist. Um das Geschehene nicht zu vergessen und es so gut wie möglich zu verstehen. Und auch und besonders um der folgenden Generationen willen. Damit nicht geschehen möge, was die Bibel im Buch Ezechiel so formuliert: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«. (Ezechiel 18,2)

Damit Kinder und Kindeskinder auf dem Weg transgenerationeller Weitergabe also nicht immer weiter und immer wieder empfinden und erleben, was die Elterngeneration erlebt, was sie getan und verschwiegen hat - auch darum ist es wichtig, dass über Geschichte nicht geschwiegen wird. Damit Verdrängtes sich möglichst nicht auf unentdeckten Wegen Bahn bricht, auch deshalb wird sich der Vergangenheit erinnert. Sie wird historisch erforscht und dargestellt, durchgearbeitet und bearbeitet -und hoffentlich wird über sie gesprochen: öffentlich, persönlich, privat - und auch in Seelsorge und Beratung.

Die Ausstellung „Neue Anfänge nach 1945? Wie die Landeskirchen Nordelbiens mit Ihrer NS-Vergangenheit umgingen“ will beidem dienen: der öffentlichen Darstellung von historischen Forschungsergebnissen und der Initiierung von Gespräch. Ab heute Abend ist diese Ausstellung auch in der Bundeshauptstadt zu sehen, ihrer mittlerweile vierzigsten Station.

Als Nordkirche freuen uns – und fühlen uns geehrt –, dass die Gedenkstätte Deutscher Widerstand diese Ausstellung zeigt. So wird sie zum Abschluss ihrer Präsentation nun auch in der Berlin zu sehen sein, wo das Erinnern an die deutsche Geschichte einen besonderen Stellenwert hat.

In der Nordkirche haben uns mit unserem Erbe der NS-Zeit intensiv auseinandergesetzt. Diese Aufgabe hört nie auf. Daher ist diese Ausstellung, bei allen Unterschieden, die es im Blick auf die Thematik der Ausstellung zwischen den einzelnen evangelischen Landeskirchen gibt, auch bundesweit von Bedeutung.

Wie sind die evangelischen Kirchen in Norddeutschland mit eigener Schuld in der NS-Zeit und danach umgegangen? Inwieweit blieb die nationalprotestantische Mentalität, die die Hinwendung zum Nationalsozialismus gefördert hatte, auch nach 1945 wirkmächtig in kirchlichen Institutionen und Personen? Sind die Kirchen zu NS-Tätern und Kriegsverbrechern auf Distanz gegangen, oder haben sie sie unterstützt? Und wie ist das geschehen?

Aus der Beschäftigung mit diesen Fragen ist diese Ausstellung entstanden. Sie dokumentiert den langen Weg der evangelischen Kirchen, sich dem zu stellen, was die Verfasser der Stuttgarter Schulderklärung von 1945, die in den evangelischen Landeskirchen lange ungehört blieb, so zum Ausdruck brachten:

"Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. […] Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben."

Im Prozess der Beschäftigung mit dem Umgang der NS-Geschichte in einzelnen Vorgängerkirchen unserer Nordkirche wurde deutlich: die selbstkritische Auseinander-setzung mit der eigenen Vergangenheit gehört, auch und gerade, wenn sie schmerzt, zur eigenen Glaubwürdigkeit dazu. Denn dem Wunsch nach Gedenken und Aufarbeitung werden wir nur nachkommen können, wenn wir uns zugleich auch dem Schmerz der Erinnerung stellen und dabei die Frage nach Schuld und Verantwortung nicht ausklammern. Dazu leistet diese Ausstellung einen wichtigen Beitrag.

Darum danke ich allen, die ermöglicht haben, dass mittlerweile über 100 000 Besucherinnen und Besucher diese Ausstellung sehen konnten. Ich danke den Kuratorinnen Prof. Dr. Stefanie Endlich, Monica Geyler-von Bernus und Dr. Beate Rossiè. Ich danke Herrn Dr. Linck für die historischen Forschungen und Prof. Dr. Tuchel für die Möglichkeit, die Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zeigen zu können.

Die Ausstellung entstand auf Grundlage der Forschungen von Stephan Linck, der 2008 den Auftrag der damaligen Nordelbischen Kirche erhalten hatte, den kirchlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit und das Verhältnis der Kirche zum Judentum nach 1945 zu untersuchen. Die Schuld, die auch unsere Kirche gegenüber Menschen jüdischen Glaubens während der NS-Zeit auf sich geladen hat, war groß und ungeheuerlich - aber die Beteiligten übernahmen dafür nach 1945 so gut wie nie Verantwortung und gestanden ihre Schuld auch nicht ein.

So lehrte Martin Redeker, im Jahr 1939 Mitgründer des damals so benannten „Eisenacher Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ schon bald nach Kriegsende bis 1968 wieder systematische Theologie in Kiel und prägte die theologische Lehre maßgeblich – und nebenbei auch die Landespolitik.

Die Ausstellung thematisiert die Vorgängerkirchen der Nordelbischen ev.-luth. Kirche, also das Gebiet von Hamburg und Schleswig-Holstein. Als diese Ausstellung durch die Nordkirche wanderte, die sich inzwischen aus der Fusion der Nordelbischen Kirche und den Landeskirchen Mecklenburg und Pommern gebildet hatte, wurde sie ergänzt durch einen kleinen Ausblick auf die Kirchenentwicklung in der Sowjetischen Besatzungszone und dann der ehemaligen DDR. Die Situation der evangelischen Kirche dort unterschied sich deutlich von der in der Bundesrepublik, aber hier wie dort wurde die Rolle der Kirche während der NS-Zeit wenig aufgearbeitet. Inzwischen gibt es neue Forschungsprojekte, die sich der Entwicklung in der ehemaligen DDR widmen und wir hoffen, auch deren Ergebnisse einmal in einem eigenen Ausstellungsprojekt präsentieren zu können.

Die Aufgabe der Erinnerung endet nie. Sie besteht nach wie vor, insbesondere für eine Kirche, die auf den Gott vertraut, der sich nach biblischem Zeugnis seiner Geschöpfe erinnert, ihrer gedenkt und ihnen Wege in eine versöhnte Zukunft eröffnen will. Dieser wichtigen Aufgabe der Erinnerung möge auch die Ausstellung dienen, die wir heute hier in Berlin eröffnen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

[1] Jorge Santayana, The Life of Reason: Reason in Common Sense, Scribner 1905, 284: “Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.“

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