Hebräer 4,12.14-16
26. Februar 2010
„Denn es weiß, Gott Lob, ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist: nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören“
– so, liebe Schwestern und Brüder, schreibt es Martin Luther in den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 (Teil III, Art. 11). Sicher – in unserer Gegenwart werden wir nicht mehr ganz so im Brustton der Überzeugung sagen können, dass ein Kind von sieben Jahren weiß, was Kirche ist. Aber auch in unserer Gegenwart ist es gut, sich immer wieder einmal vor Augen zu führen, wie einfach es im Grunde genommen mit der Kirche ist: Kirche – das sind Menschen, die zusammenkommen und Gottes Wort hören und danach ihr Leben ausrichten. Kirche – das sind Menschen, die glauben – die darauf vertrauen, dass Gott zu ihnen spricht in den Worten, die Jesus gesprochen hat; dass Gott von sich hören lässt, wenn sie auf die Worte Jesu hören; und die sich auf den Weg machen, weil sie erlebt haben: Gott hat sich in Jesus Christus zu uns Menschen auf den Weg gemacht. Kirche – das sind Menschen, die mit ihrem Glauben nicht für sich bleiben, sondern die mit offenen Augen durchs Leben gehen und staunen, welche Fülle und Phantasie Gott in seine Schöpfung gelegt hat; die mit offenen Augen durchs Leben gehen und sich daran freuen, wie einzigartig jeder Mensch ist; Menschen, die mit offenen Augen durchs Leben gehen und auch dort die Augen nicht verschließen, wo Kummer drückt oder Angst herrscht oder Not und Gewalt das Antlitz von Gottes Welt entstellen. „Es weiß, Gott Lob, ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist…“
II
Allerdings: Es bleibt trotzdem sinnvoll, wenn es in der Verfassung unserer Nordelbischen Kirche im Artikel 118 heißt: „Voraussetzung für die Ausübung des Wahlrechts ist die Vollendung des sechzehnten Lebensjahres und für die Wählbarkeit die Vollendung des achtzehnten Lebensjahres.“ Denn es ist eben doch auch nicht nur kinderleicht zu sagen, was Kirche ist. Die „heiligen Gläubigen“ zeigen sich bei näherem Hinsehen nämlich in einer Vielfalt, die in vielerlei Hinsicht erfreulich und in mancherlei Hinsicht erstaunlich ist. In unserer synodalen Gemeinschaft in diesen Tagen wird das ja in besondere Weise greifbar: Kirche ist in den Ortsgemeinden und ist in den Gemeinden der Dienste und Werke. Kirche ist in Gottesdiensten und ist in Konzepten zum Energiecontrolling. Kirche ist im seelsorgerlichen Gespräch und ist in Modellrechnungen für Kirchensteuereinnahmen. Kirche ist an vielen Orten in Schleswig-Holstein und Hamburg und ist dort, wo der Blick über die Grenzen von Bundesländern und Landeskirchen hinausgeht, hin zu den Schwestern und Brüdern in Mecklenburg und Pommern und noch weiter bis zur Gemeinschaft mit Menschen in Afrika und Indien und weltweit. Kirche ist, wo das Wort Gottes verkündigt wird in Wort und Tat. Kirche ist, wo es vielfältig laut wird und hinein spricht in die Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft, Bildung und Kultur. Nein, es ist nicht nur kinderleicht zu sagen, was Kirche ist, sondern es ist eine lange und schöne Aufzählung und eine anspruchsvolle Aufgabe, das Engagement von vielen Menschen zu würdigen und die Komplexität von Strukturen und die Wirkung, die Kirche in die Gesellschaft hinein entfaltet. Und es ist auch alles andere als kinderleicht, verantwortlich und vernünftig zu sagen, wie Kirche jetzt und in Zukunft sein soll. Darüber machen wir uns Gedanken in Synoden und Arbeitsgruppen, in Gremien und Sitzungen, die manchmal bis in die Nacht andauern. Darüber führen wir lange Debatten und engagierte Diskussionen an vielen Orten und bei vielen Gelegenheiten, und viele Stimmen melden sich dabei zu Wort. Und das ist ja auch gut so, denn nur so orientieren wir uns an der Vision einer Kirche der wechselseitigen Teilhabe, in der es nicht um Abgrenzung geht, sondern um Bereicherung durch Vielfalt und Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen kirchlichen Lebens. Sie, die Sie heute in die neue Kirchenleitung gewählt worden sind, tragen dabei eine besondere Verantwortung. Und Sie, die Sie in den vergangenen sechs Jahren in der letzten Kirchenleitung diese Verantwortung getragen haben, können sagen, wie viel Gewicht und sicher auch Last diese Verantwortung für unsere Kirche hat. Vor großen Herausforderungen stand die nordelbische Kirche am Anfang diese Jahrhunderts durch die geringer werdenden Finanzmittel – und Sie, die Mitglieder der sechsten Kirchenleitung, haben sich diesen Herausforderungen gestellt. Sie haben die Augen vor der Realität nicht verschlossen, sondern haben den begonnenen Reformprozess aufgenommen und eine tiefgreifende Neuordnung unserer Kirche auf den Weg und zur Entscheidung gebracht. Und Sie haben nicht nur Herausforderungen angenommen, sondern auch Chancen erkannt – vor allem die Chancen, die in einer Kirche im Norden liegt, einer Kirche, in der Menschen von Breklum bis Greifswald, in Hamburg und Lübeck, in Schwerin und Rostock gemeinsam unter einem Dach Gott loben und nach Gottes Willen in der Welt fragen. Sie, die Mitglieder der neuen, siebenten Kirchenleitung, haben nun die Verantwortung übernommen, auf dem eingeschlagenen Weg weiter zu gehen, umzusetzen und auszugestalten, was in den Grundlagen ausgearbeitet wurde und vorhanden ist. Und wenn auch die zeitliche Perspektive für diese Kirchenleitung mit Blick auf die mögliche Konstituierung der „Nordkirche“ 2012 verkürzt ist, so fordert doch die Fülle der Aufgaben und die Bedeutung dessen, was getan und entschieden werden muss, auch von dieser Kirchenleitung viel Kraft, Einsatzbereitschaft und Mut.
III
Gerade angesichts der vielen Dinge, die es zu bedenken gilt, und der vielen Interessen, die ins Gespräch gebracht und im Gespräch gehalten werden müssen, gerade angesichts auch der Zwänge und des Drucks, die auf die Kirchenleitung wirken und damit auf die Menschen, die diese Funktion übernommen haben, gerade angesichts all dessen hilft es, sich immer wieder einmal klar zu machen: Wie es bei der Frage, was Kirche ist, ein einfache Antwort gibt, so gibt es auch eine einfache Antwort auf die Frage, was Kirchenleitung ist. Und diese Antwort lautet: Die Kirche wird geleitet durch die Auslegung des Wortes Gottes! Das Wort, das Gott in Jesus Christus gesprochen hat, ist ja Grund der Kirche – die Kirche ist creatura verbi, Geschöpf des Wortes Gottes, wie die lutherische Dogmatik sagt. Dort, wo von Jesus erzählt wird, wo im Namen Jesu geglaubt und gehofft, gebetet und gehandelt wird, da, wo Menschen sich von den Geschichten und der Geschichte Jesu leiten lassen, da ist Kirche, da wird Kirche geleitet. Deshalb kann eine Kirchenleitung im Kern nichts anderes leiten als die Frage, was das Wort Gottes in Jesus Christus in unserer Zeit, an unserem Ort zu sagen, zu fordern, zu verheißen hat, wie es immer neu Fleisch werden kann, um sich daran auszurichten und verantwortliche und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Und das ist ja keine trockene exegetische Übung, das Wort Gottes auszulegen, um sich davon leiten zu lassen. Sondern es ist eine umwälzende Erfahrung, denn – wie es im Hebräerbrief heißt – das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen. Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben. Es ist das Evangelium eine Kraft Gottes, dynamis Gottes. Wenn Gott sich zu Wort meldet, dann bröckeln die Fassaden. Dann fallen die Masken, und der Nebel von Lüge und Selbsttäuschung wird weggeblasen. Wenn Gott spricht, dann entstehen Freiräume – auch für den, dem das nicht passt! Wenn Gott ruft, dann wird selbst das, was tot und begraben und ein für allemal erledigt zu sein schien, neu und lebendig und zu einer Quelle von Erneuerung, die nicht mehr versiegt. Mit diesem Gott und seinem Wort haben wir es also in der Kirche zu tun – in der Leitung und immer und überall. Und da kann es einem schon durch „Mark und Bein“ gehen – die Erschütterung darüber, wie nahe der Gott ist, der beides sagt: „Fürchte dich nicht“ und „Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt.“ Gottes Zuspruch und Gottes Anspruch können einem durch Mark und Bein gehen, weil beides eben nicht nur so daher gesagt ist, sondern ernst gemeint, nicht nur fromme Floskel, sondern Worte, die mich treffen. Ich, liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder, kann mich gut an Situationen erinnern, in denen mir das deutlich geworden ist, wo ich gemerkt habe: Hier und jetzt spricht Gott mich an. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich. Und dann ist es mir eine Hilfe, dass die Radikalität des Wortes Gottes seine Radikalität ist, in deren Schutz mein Glaube, meine Radikalität aufgehoben sind. Vor aller falschen Harmonie und Ausgewogenheit hören wir das Schneidende, das Trennende des Wortes Gottes – das Klärende also. Wie gnädig und barmherzig kann gerade diese Schärfe, diese Eindeutigkeit sein, die unserem Hang zu Harmonie und Ausgewogenheit hilfreich entgegen tritt! Wie schmerzhaft, aber auch wie gnädig zugleich kann es sein, wenn die Dinge offen liegen, nicht verborgen; wenn Dissense nicht verborgen, sondern scharf heraus geleuchtet vor uns sind: dann werden sie bearbeitbar, dann also werden sie leitbar! Und gerade in solchen Situationen ist es dann eben wirklich auch so, wie es der Predigttext beschreibt – dass vor Gott [nichts] verborgen [ist], sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen. Sicherlich eine zwiespältige Erfahrung. Erlösend und erleichternd auf der einen Seite, weil uns Menschen die Wahrheit am Ende doch am meisten hilft. Aber auf der anderen Seite ernüchternd und erschreckend, weil auch die Wahrheiten ans Licht kommen, die nur schwer auszuhalten sind.
IV
Allerdings – gerade auch mit unserer Erschütterung und Ernüchterung sind wir nicht allein und werden von Gott nicht allein gelassen. Sondern wir haben auch dafür und dabei einen „großen Hohenpriester“ der mit leiden kann mit unserer Schwachheit. Wir haben da also einen Sympathisanten an unserer Seite – einen Sympathisanten ganz eigener Art: Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat. Das war und ist seit den Anfängen der Christenheit eine Revolution, die so ganz und gar nicht passt zu dem, was man sich so für ein Bild gemacht hat von einem „richtigen“ Gott. Ein mit leidender Gott, ein Gott, der Schmerz und Sympathie. Aber so lautet es, unser Bekenntnis: Wir haben da einen an unserer Seite, der eben nicht sich herausgehalten hat aus dem Getümmel der Welt, der eben nicht welt-abgewandt geblieben ist im friedlichen Himmel – nein, wir haben da einen an unserer Seite, der Himmel und Hölle durchschritten hat, der kennt und erfahren hat am eigenen Leibe Schwachheit und Grenzen – ja, so heißt es, der selbst versucht worden ist in allem wie wir… Wir haben einen an unserer Seite, der auch gekämpft hat mit Gott und der Welt – der aber, und das macht bei aller Ähnlichkeit nun tatsächlich die Andersartigkeit Jesu aus – der aber eben blieb – „ohne Sünde“, wie der Text sagt. Jesus also als der, der bei allem Zweifel, und bei allem Kampf auch mit Gott, sich nicht trennen ließ von seinem Vater im Himmel, der an Gott festhielt und Kind Gottes bleiben wollte, trotz allem und in allem. Und da wird es am Ende nun wieder so „kinderleicht“, wie es am Anfang begann. Weil wir uns im Glauben an die Seite Jesu stellen können, um selbst Kinder Gottes zu werden und zu sein – mit unseren Licht- und Schattenseiten, mit Fähigkeiten und Ideen, mit Grenzen und Versagen. Weil wir uns gelassen und erleichtert sagen können: Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben. Zu Gott kommen, sich Gott anvertrauen, bei Gott Gnade finden, wenn wir solche Hilfe nötig haben, – das ist die Grundbewegung des Glaubens, die sich zwar nicht von selbst versteht, aber die jedes Kind verstehen kann, weil jedes Kind weiß: Vertrauen und die Erfahrung, dass der, dem ich vertraue, verlässlich ist, sind im Leben unersetzlich. Wenn wir uns von dieser Bewegung des Glaubens tragen lassen, dann entsteht eine Glaubensbewegung, die Menschen und Welt verändern kann. Dann entsteht eine Kirche, die sich ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen bewusst ist. Dann finden diejenigen, die in der Kirche besondere Verantwortung tragen, und wir alle, die wir uns für unsere Kirche einsetzen, Orientierung und Kraft für den Weg in die Zukunft.
Amen.