6. September 2020 | Hauptkirche St. Michaelis

Ich setze auf die Liebe

06. September 2020 von Kirsten Fehrs

Gottesdienst am 13. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Lukas 10,25-37

Kanzelgruß

Liebe Gemeinde!

Liebe deine(n) Nächsten. Das hält alles zusammen. Uns, die Gemeinde Jesu Christi – hier und in aller Welt. Aber auch diese Gesellschaft. Liebe deinen Nächsten. Das ist ein ergreifender Satz, der in allen Weltgegenden, in allen Sprachen, in allen Kulturen verstanden wird. Sofort. Da muss man nicht viel reden. Das muss man einfach tun, sagt Jesus. Liebe üben. Ja, genau, üben, ganz konkret, Mundnasenschutz tragen, um der anderen willen, auch wenn es müht. Üben, ja, auch mit einer gewissen Disziplin üben, diese Liebe, die selig macht und Arbeit; Liebe, die uns ergreift und nicht wir sie. Liebe, die stärker ist als die Angst etwas verkehrt zu machen. Im Gegenteil, es ist eine Liebe, die gerade heraus ist und Taten folgen lässt, allemal in dieser Zeit der Corona-Pandemie, in der so schwer zu erfassen ist, was richtig ist und was falsch.

Doch wie geht das, jetzt, mit der Liebe und dem Üben? „Wie handeln wir richtig?“ lautete deshalb eine Online-Debatte der Evangelischen Akademie vergangenen Montag mit namhaften Expert*innen aus der Medizinethik, Philosophie, Traumaforschung und Theologie. Es ging um die drängenden ethischen Fragen unserer Zeit; und wir haben als Kirche, liebe Gemeinde, hier unbedingt die Aufgabe, uns mehr einzubringen. Gerade angesichts der verstörenden Bilder, die wir vergangene Woche sehen mussten, vor dem Reichstag in Berlin, und die gesamtgesellschaftlich etwas mit uns machen: Wir müssen reden. Foren schaffen. Verständigung erreichen. Und also diskutierten wir über viele Dilemmata dieser Coronazeit. Wie Liebe üben, wenn die demente Mutter vor Sehnsucht nach einer Umarmung vergeht, man sie aber nicht gefährden möchte? Was ist tätige Nächstenliebe, wenn man sieht, dass für den kleinen Blumenhändler nebenan kein Rettungsschirm greift? Was tun im Angesicht der globalen Tragödien, die wegen Corona aus dem Blickfeld geraten, aber nach wie vor Menschen in furchtbares Elend treiben? In den Flüchtlingslagern und Kriegsgebieten?

„Es war ein Mensch“,so beginnt Jesus sein Gleichnis. Es war doch ein Mensch, der im Elend lag, der unter die Räuber gefallen ist. „Und sie zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen.“Da liegt er im Straßengraben, der Mensch. So mancher Mensch, halbtot und in seelischer Not. Links liegengelassen, zuallererst von dem Priester, der gerade vom Gottesdienst kommt. Vielleicht hatte er im Jerusalemer Tempel just diese Worte der Thora gehört: „Du sollst deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem Gemüt und deinen Nächsten wie dich selbst.“

Offenbar reicht bei ihm die Kraft nicht? Das Herz zu klein? Die Bequemlichkeit zu groß? Wir wissen es nicht. Außer, dass es der Levit genauso macht. Und ich vielleicht auch, fragt mein Gewissen. Ein verletzter Mensch fordert einem die ganze Kraft ab, das wissen alle, die schon einmal jemanden gepflegt haben. Und also: Wie soll ich das schaffen? Und außerdem ist da auch noch die Familie, die Zeit ist knapp, die Diakonie viel professioneller …

Ja, wir kennen den Priester und Leviten in uns. Das Gleichnis sitzt. Liebe ist wirklich eine Übung. Und was ist mit denen, die wir in diesen Zeiten zunehmend auch kennen, lenken wir dann von uns ab. Sie, die an dem Verletzten vorbeigehen, weil sie selbst Not leiden? Die sich selbst ohnmächtig fühlen, wie in den Straßengraben gefallen, und niemand kümmert sich oder nicht genug. Ich glaube, viele Menschen in Pflege- und Behindertenheimen und ihre Angehörigen erleben dies genauso: Wir werden nicht gesehen. Die jungen Menschen auch, denen es reicht mit Corona und die voller Lebenshunger sind, wer würde das nicht verstehen. Oder sie, die unter echter Existenznot leiden und die, die Angst haben um ihre Gesundheit. Also, sagte jemand in der Online-Diskussion, es gibt doch Gründe, dass sich da jeder selbst der Nächste ist …

Alles, was ich erlebe, ist das genau andere. Die, die es im Moment hart trifft, sind besonders sensibilisiert, haben einen Blick für den Nächsten. Weil sie hautnah erfahren haben, wie verletzlich und vergänglich unser Leben ist und immer schon war, sind sie besonders aufmerksam. Und ich höre das alte kluge Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Wenn wir in den vergangenen Monaten etwas gelernt haben, liebe Gemeinde, ist es doch, dass wir alle eine tiefe Bedürftigkeit in uns tragen. Alle sind wir angewiesen auf eine/n Nächste/n, angewiesen darauf, in Liebe angesehen zu werden. Berührung zu erfahren. Freundliche Worte zu hören und Suppengemüse vorbeigebracht zu bekommen, was weiß ich. Nächstenliebe lebt vom Geben und Nehmen, vom Lieben und Sich-Lieben-Lassen. Der Mensch vergeht ohne diese Gegenseitigkeit.

Und so ist’s der Samariter, ausgerechnet er, der aus der jüdischen Gesellschaft Verstoßene, der sich kümmert. Er, der selbst in seiner Würde verletzt ist, erkennt den Schmerz des anderen sofort. Es jammerte ihn, heißt es. Wörtlich übersetzt: „Es rührte ihn bis an die Eingeweide“. Und so kann er gar nicht anders als von seinem Esel zu steigen, sich zu dem Verletzten hinab zu beugen und seine Wunden zu verbinden.

Das ist Liebe, wie Jesus sie meint. Eine impulsive Bewegung, die nicht anders kann als sich zuzuwenden. Ohne zu zögern und ohne vorher ein Konzept zu schreiben. Das ist die Liebe, die Jesus meint, die die Nächsten erfasst oder die, die einem zufällig begegnen, die Ferneren, die Unsympathischen und den Feind auch. Und noch eine andere Bewegung gehört zu dieser Liebe, die zunächst ganz unspektakulär daher kommt: das Absteigen vom Esel. Das Runterkommen. Auch von Gewohnheiten. Das Absteigen zeigt: Jetzt ist jemand anderes dran. Es steht für den Verzicht auf die eigene Bedeutsamkeit und Macht, auf den Status. Gott selbst ist dafür das Muster. Denn so sehr hat Gott uns geliebt, dass er hinabsteigt in die Niederungen menschlichen Lebens. In aller Konsequenz ist er ein Mensch. In Jesus Christus.

So also ist es keine Moral, die uns sagt, was gut ist. Kein Zeitgeist, der uns mal hierhin, mal dorthin treibt. Sondern unser Glaube. Eine Gottesvorstellung. Absteigen und Herabbeugen vor lauter Liebe, das ist die Bewegung unseres Glaubens. Die Tradition nennt es humilitas, niedrig werden. Humus steckt darin. Wir haben auf der Erde, humus, zu bleiben, sozusagen auf dem Teppich. Nur indem wir dort unten bleiben, mit Verstand und Gefühl und unserem Gott an der Seite, verstehen wir, was andere bewegt und was zu tun ist. Du wirst keinen verstehen, den du nur auf Distanz hältst oder gar ablehnst. Und du wirst mit keinem solidarisch sein, wenn du oben bleibst.

Solidarität, liebe Gemeinde, ist ja das Wort dieser Tage. Parteinahme für die Schwachen meint es, und Fürsorge für die, die’s schwer erwischt hat. Der Nächste bitte, fällt unser Evangelium zustimmend ein, setzt aber zugleich einen eigenen Akzent: den des Gefühls, des Mit-Gefühls, das dich innerlich verändert. Und so geht’s in christlicher Ethik ums berühmte Ganze, um eine Barmherzigkeit, die das Ganze sieht: den Jammer, die Scham, mein Unvermögen. Aber auch die Liebe, diese sehnsüchtige Liebe, die in uns ist und heraus will. Jesus weiß das. So will er uns gerade nicht in die Pflicht nehmen, zu fragen: Was muss ich tun? Sondern er will in die Freiheit entlassen: Was will Gott in mir an Kräften freisetzen, damit seine Liebe und Güte Wirklichkeit wird?

So viel wurde kraftvoll wirklich in den vergangenen Monaten. Medizinethikerin Dr. Alena Buyx, Vorsitzende des deutschen Ethikrates, brachte das in der Online-Debatte auf den Punkt: „Während der Pandemie haben die Menschen in unserem Land eine großartige Leistung vollbracht. Durch gegenseitige Anteilnahme, Aufmerksamkeit und Solidarität. Eine Gemeinschaftsleistung, die ich so nie erwartet hätte.“

Und genauso ist es doch! Lassen wir uns nicht irre machen von merkwürdigen Verschwörungstheoretikern, sondern lassen wir uns überraschen: von wunderbaren Nachbarschaftsaktionen, die nach wie vor existieren, von kreativen Hilfen für Künstler*innen, von Kontaktbörsen von jungen für alte Menschen. So viele sind’s, die sich in der Liebe üben, (und Mundnasenschutz tragen) – es ist die Mehrheit!

Es gibt im Moment viel Schmerz in der Gesellschaft, ja. Aber es gibt auch Seelsorge und Hoffnungsworte, Musik, die tröstet und barmherzige Samariter*innen. Nicht zuletzt doch gibt’s uns, Christenmenschen, die eines weltweit zusammenhält: Liebe, die den anderen sucht. Auf sie setze ich, Sie merken es, zum Schluss mit geliehenen Worten von Hanns-Dieter Hüsch (Aus: Hanns-Dieter Hüsch: Ich setze auf die Liebe. Moers 2000, S.44.)

Ich setze auf die Liebe
das ist das Thema
den Hass aus der Welt zu entfernen
[...]

Ich setze auf die Liebe
wenn Sturm mich in die Knie zwingt
und Angst in meinen Schläfen buchstabiert
ein dunkler Abend mir die Sinne trübt
ein Freund im anderen Lager singt
ein junger Mensch den Kopf verliert
ein alter Mensch den Abschied übt

Ich setze auf die Liebe,
das ist das Thema
den Hass aus der Welt zu vertreiben
ihn immer wieder neu zu beschreiben

[…]

Es kann mir sagen was es will
es kann mir singen wie er’s meint
und mir erklären was er muss
und mir begründen wie er’s braucht
Ich setze auf die Liebe! Schluss!
Und: Amen.

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