Impulsreferat beim CDU-Mitgliederforum Hamburg
01. Juni 2012
„Welche Bedeutung hat das christliche Menschenbild in einer modernen Großstadt?“
Sehr geehrter Herr Weinberg,
lieber Herr Schira, liebe Frau Koop,
lieber Erzbischof Werner Thissen, meine sehr geehrten Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung! Ich bin gerne hier hergekommen und freue mich sehr auf den Austausch und die Gespräche mit Ihnen. Das hat auch damit zu tun, dass ich einige von Ihnen ja schon vor einer Woche im Wirtschaftsrat der CDU kennenlernen durfte – und ich war wirklich sehr angetan von der angeregten, teilweise kontroversen, allemal aber wertschätzenden engagierten Debatte. Und es war zu spüren: Die Bedeutung des christlichen Menschenbildes ist wahrlich kein Randthema. Es geht vielmehr ums Ganze menschlicher Existenz. Individuell und in der Gemeinschaft. Es geht um Religiosität, christliche Verantwortung und Herzensdinge, die einen naturgemäß nicht nur intellektuell, sondern auch emotional bewegen. Als glaubender Mensch allzumal.
Ich meine, es ist dringend geboten, das wir wieder mehr darüber reden, was wir glauben und was nicht. Dass wir also in Sprache fassen, welchen Grundlagen wir uns innerlich verpflichtet fühlen – welchem Menschenbild wir in Politik, Wirtschaft, Kirche innerlich folgen. Nicht umsonst stellen Sie das Thema Ihren „Leitlinien“ als CDU voran.
Ich möchte die Frage nach dem christlichen Menschenbild in vier Abschnitten behandeln, in thematischen Kreisen, die sich vom Allgemeinen zum Besonderen hin bewegen
1. Der Mensch geht nicht im vorhandenen auf.
Unser christliches Menschenbild ist religiös bestimmt. Das mag selbstverständlich klingen, dennoch: Wir sehen den Menschen in einer grundlegenden Beziehung zum Unendlichen, zu einer überweltlichen Instanz. Das unterscheidet uns von allen nicht-religiösen oder religiös unmusikalischen Deutungen und verbindet uns zugleich mit den anderen Religionen.
Diese abstrakte Beschreibung des religiösen Bezugs lässt sich leicht im eigenen Leben wiederfinden. Wenn wir selbst unmittelbar den Grenzen des Lebens begegnen. Wenn wir ein Neugeborenes im Arm halten und ehrfürchtig sind ob seiner Schutzlosigkeit. Wenn gerade noch einmal etwas gut gegangen ist, Gott sei Dank. Wenn man jemandem sagt: „Ich denke an dich“ und eigentlich doch meint: „Ich bete für dich“. Und wenn man in einer Kirche ganz still eine Kerze anzündet und für jemandes Gesundheit, Kraft, Erlösung bittet. In all dem lässt sich erfahren, dass es neben dem, was ich entscheide und will, das Unplanbare gibt, das Unverfügbare. Es entzieht sich unserem Einfluss und bestimmt doch unsere Geschichte. Und so erlebt sich der Mensch angewiesen auf eine Kraft, die gerade nicht aus ihm selbst herauskommen kann.
Diese allgemein-religiöse Beschreibung nun drängt dazu, konkreter ausgefüllt zu werden und da sind wir beim
2. Allgemein-christlichen Menschenbild:
Wir haben die Fähigkeit und den Auftrag, über uns selbst bestimmen zu können, zugesprochen bekommen. Wir sind frei von knechtendem Geist, heißt es im Römerbrief. Weil Kinder Gottes. Was für ein Bild! Vom Mutterleib an geschaffen mit unzähligen Gaben sind wir belebt vom Atem, vom Geist Gottes. Sein höchstpersönliches Ebenbild. Und deshalb heilig, also: unantastbar. Jede und jeder. Es ist der erste Artikel nicht nur des Grundgesetzes, sondern auch unserer Religion. Die Geschöpfe Gottes sind in ihrer Würde unantastbar. Nicht zur Zerstörung freigegeben. Im Gegenteil: Sie sind frei von knechtendem Geist. Befreit also davon, entwürdigend und abwertend zu sein, anderen oder auch mir selbst gegenüber. Christus hat uns davon befreit, warum fühlen und zeigen wir es bloß oft nicht?
Nicht der Mensch verleiht einem anderen Leben seinen Wert, welch Erleichterung. Sondern allein Gott, allein aus sich heraus, unabhängig von Geschlecht, Handicap, gesellschaftlichem Ansehen oder individuellen Vermögen.
Diese allgemein-christliche Überzeugung erhält dann in unserer evangelischen Grundüberzeugung eine weitere Zuspitzung:
3. Spezifisch protestantisches Menschenbild
Nicht unsere Leistung, nicht was wir erwirtschaften, nicht die Summe unserer guten Taten entscheidet über unseren Wert. Sondern Gott spricht ihn zu. Theologisch gesagt: Allein aus Gnade lebt der Mensch. Und diese Gnade ist maßlos. Jeder einzelne Mensch ist deshalb mit seinen je eigenen Grenzen unendlich wertvoll, darauf angelegt, dies auch maßlos freundlich dem Nachbarn zu unterstellen und ihn entsprechend zu würdigen. Konkurrenz ist demnach in diesem Menschenbild nicht vorgesehen und hat, wenn sie dennoch passiert wie etwa bei Kain und Abel, furchtbaren Brudermord zur Folge. Heißt: Der oder die Einzelne ist geschaffen für eine Gemeinschaft, die ausnahmslos alle in ihrer Verschiedenheit zu ihrem Recht kommen lässt. Das Verschiedene ist normal. Auch das ist schon schöpfungstheologisch angelegt: Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde und siehe er schuf sie als Mann und Frau. Nicht allein die Gleichheit, auch die Differenz, das Unterschiedlich-Sein ruht in Gott selbst. Das Interkulturelle, wenn man so will. Und das verlangt nach Beziehung, nach Inklusion. Der Mann, die Frau wird zum Menschen nur im Verhältnis, im Gegenüber zum anderen. Identität entsteht nur aus dem Dialog.
Und diese alte weise Theologie findet ja durchaus auch in unserer täglichen Erfahrung Anhalt: Nichts doch macht unsicherer, allein auf sich geworfen zu sein. Wenn man keine Resonanz erfährt. Wort ohne Antwort mono-logisiert, hält gefangen in den eigenen Gedankenkrümmungen und macht unerhört unfrei. Deshalb gibt es „Freiheit nur in Verantwortung“. Eine Chiffre ist dies inzwischen geworden und hat doch genau besehen so viel Tiefgang.
Verantwortung ist also kein moralischer Appell, sondern sie ist die natürliche Folge der Erfahrung, gehört, gesehen, akzeptiert zu sein. Von anderen. Vor allem aber von Gott. Im Gefühl dieser Verantwortung wächst der Sinn für ein menschliches Miteinander. Etwa für die Kunst, mit Macht ausgestattet zu sein - sei es als Vorgesetzte, als Dienstherr, als Lehrerin oder als Vater – mit Macht ausgestattet zu sein und trotzdem feinfühlig zu kommunizieren. Andere nicht zu bemächtigen, sondern sie gut sein zu lassen. Mit der Freude am Unterschied.
Spätestens hier kommt der besondere thematische Aspekt zum Tragen, den Sie der Beschäftigung mit dem christlichen Menschenbild gegeben haben: „Welche Bedeutung hat das christliche Menschenbild in einer modernen Großstadt?“
Zum Spezifikum der Stadt gehört die höchste Steigerung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit, wie sie eh gegeben ist im menschlichen Zusammenleben. Schon bei Aristoteles (ca. 350 v.Chr.) ist zu lesen: „Ähnliche Menschen bringen keine Stadt zuwege.“ Zur Stadt gehört also von Anfang an die Begegnung mit dem Fremden. Heterogenität ist quasi Merkmal einer Stadt. Das drängt nach Einigung, Verbindung. Integration. Doch wie und wohin? Hier lebt in Christen die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem, dem Ideal einer christlichen Stadt, in der Gerechtigkeit und Friede endgültig zur Herrschaft gelangt sind. Es ist der kritische Maßstab für die Humanität der irdischen Städte. Ansporn für die Christen bis heute, mitzutun, Mitgestalterin zu sein.
Nun denn: Eine der größten Herausforderungen in unserer Stadt ist die soziale Spaltung – verursacht durch oder verbunden mit sich immer stärker verändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen. Und hier haben wir gemeinsam eine Aufgabe, als Unternehmen, Institutionen, Organisationen, Politik und Kirchen. Es muss uns gemeinsam gelingen, dass möglichst wenig auf der Strecke bleiben. Dass den Spaltungsmechanismen und Radikalisierungen Einhalt geboten wird. Wir sitzen hier gemeinsam im Boot, das wird mir immer deutlicher. Wenn auch vielleicht mit unterschiedlichen Rollen.
Traditionell hat Kirche die der Mahnerin – zugegeben eine wichtige Rolle innerhalb einer immer traditionsungebundeneren Gesellschaft. Einer Gesellschaft auch, die seit Jahren eine eigentümlich „fleischlose“, weil ziellose Wertedebatte führt. Es braucht uns also als Instanz, die sich einmischt, wenn die Würde von Geschöpfen und Schöpfung gefährdet ist. Wenn Zäune errichtet werden, symbolisch und real, wenn religiöse Intoleranz einher geht mit rechtsradikalem Gedankengut, wenn nicht mehr fein unterschieden wird zwischen Sterbebegleitung und Sterbehilfe, wenn Sonntagruhe gefährdet ist. Es braucht die Instanz, die für wohltuende Stille in einer klangtosenden Welt eintritt und die wachsam macht für die seelische Verlorenheit der Erschöpften. Das alles umfasst die Rolle der Mahnerin Kirche. D´accord. Und ich denke, letztlich erwarten Sie dies von ihr, respektive vom Erzbischof und mir auch.
Doch – ehrlich gestanden – allzu sehr müssen wir die Rolle nicht strapazieren, meine ich. Denn das, was ich hier in Hamburg in direktem Kontakt mit Wirtschaft und Politik bisher erlebt habe, hat mich immer wieder positiv beeindruckt. Nicht zuletzt die Arbeit am runden Tisch St. Jacobi zusammen mit der Handelskammer hat mir gezeigt, dass es längst ein vielfältiges Engagement gibt, Profit und Gemeinwohl wenn schon nicht in ein Gleichgewicht, so doch wenigstens in ein Verhältnis zu bringen. Und dies durchaus auch aus dem Motiv der Nächstenliebe heraus. Gut hamburgisch nicht so „gefühlig“, aber allemal reell. Ehrbar. Sicherlich geht da immer noch mehr. Aber es ist dies zu würdigen: Dass es viele gibt, die das Gute, was sie erlebt haben, zurückgeben wollen. Auf welche Art auch immer sinnstiftend Weitermachen, sage ich da…
Und so führt mich dies zum 4. Kreis, der von Ihnen befragt ist.
4. Welche Bedeutung hat das christliche Menschenbild „für mich“?
Genau dies. Dass Menschen sich nicht scheuen gut zu sein. Vor lauter Gutmenschen-Gerede, das immer suggeriert, als würde man vieles gut meinen, schlecht machen, das dafür aber umso grandioser zu finden – gegen diese Gerede bin ich eine flammende Vertreterin des: Liebe deinen Nächsten, er ist wie du. Und das ist mehr als Tat. Das ist eine Haltung. Nämlich mit dem Guten zu rechnen, unverdrossen. Mit dem Guten zu rechnen auch bei den schlecht Riechenden. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt viel von dieser inneren Haltung. Sie umfasst zwei Bewegungen: Die eine geht aus dem Menschen heraus – raumgreifend und impulsiv –, das ist die Liebe. Sie erfasst ihn. Überfällt ihn. Liebe meint, berührbar zu bleiben von dem Jammer eines anderen. Nicht zu fragen, ob er nicht doch irgendwie selbst schuld ist? Denn die andere Bewegung, die unbedingt zur Liebe gehört, ist das Absteigen vom Esel. Das Herunterkommen vom Esel der Perfektion. Das Absteigen steht für den Verzicht auf die eigene Bedeutung, die eigene Macht, die Unversehrtheit, die eigenen Ansprüche. Das Absteigen ist Statusverzicht. Dieses aufregende Modell der Mitmenschlichkeit spiegelt wider, was Zentrum unseres Glaubens ist. Nämlich dass Gott als der heftig Liebende hinabsteigt in die Niederungen menschlichen Lebens. In aller Konsequenz. Und so ist es keine Moral, die uns sagt, was gut ist. Sondern ein Glaube. Eine Gottesvorstellung. Absteigen und Herabbeugen vor lauter Liebe – die Tradition nennt es humilitas. Niedrig sein. Wir haben auf der Erde, Humus, zu bleiben, sozusagen auf dem Teppich. Nur indem wir dort unten bleiben, mit Verstand und Gefühl, verstehen wir, was andere bewegt und was zu tun ist.
Wir werden nichts von Armut erfahren, wenn wir oben bleiben. Wir werden keinen aus einem anderen Kulturkreis verstehen, den wir nicht anschauen oder gar ablehnen. Mehr noch: Will man wirklich jemanden aufrichten, der gefallen ist, muss man sich hinknien und sich unter den Verwundeten begeben. Nur von ganz unten vermagst du ihn aufzuheben. Die Heilung oder die Pflege eines Menschen verlangt einem viel ab, vor allem aber Ehrlichkeit. Auch die gegenüber den eigenen Grenzen.
Das ist für mich elementar: Das christliche Bild des Menschen lehrt uns die Akzeptanz des Menschlichen. Dass wir eben nicht vollkommen sind. Im Gegenteil. So fragmentarisch ist Leben. So voller Dilemmata. Und das kann der Mensch mal besser, mal schlechter aushalten. Deshalb schafft er sich Gott zu seinem Bilde. Nicht aus Hybris, ich bin sicher. Sondern weil er sich sehnt. Es gibt in uns ein tiefes, manchmal herzzerreißendes Sehnen nach Licht und Trost und Freude. Danach, mehr von Gott zu verstehen. Teilzuhaben an seiner Vollkommenheit. Deshalb holen wir Gott manchmal ins allzu Irdische herunter: damit wir Unvollkommenen uns mehr mit uns selbst zurechtfinden. Es liegt Begehren in diesem Sehnen und Eros und Schmerz – alles zugleich. Denn in dem Maße, wie uns die Lieblosigkeit, das Unrecht und die Friedensferne ans Herz geht, in dem Maße steigert sich das Sehnen nach heilsamer Veränderung. Nach klaren Verhältnissen. Wer sich sehnt, bleibt nicht stehen, wo er ist. Wer sich sehnt, geht. Mit großer Kraft.
5. Folgerungen und Conclusio
Deshalb sollte Kirche nicht nur Wächterin sein, sondern als Partnerin mitwirken. Kirche, die nichts anderes ist als die Gemeinschaft der Christinnen und Christen. Mit dem Ziel, das Trennende zusammen zu bringen. Menschrecht zu würdigen. Beziehungen zu halten. Dialoge und Trialoge zu initiieren. Nächstenliebe zu lieben. In Konflikten vermitteln. Heraus kommen aus eindimensionaler Sicht und klischeehaften Zuschreibungen – davon kennen wir alle hier wahrlich genug.
- - Deshalb in puncto: Wohlstand für alle - mit den Reichen wie den Armen reden, nicht über sie.
- - In puncto demografischer Entwicklung: Formen des Zusammenlebens zwischen Jung und Alt so gestalten, dass man nicht nur koexistiert, sondern einander begegnet, kennenlernt, unterstützen lernt.
- - In puncto Lebensgrundlagen: Verantwortung für gute Bildung übernehmen: in Kitas, Schulen, Religionsunterricht, gern Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung, ein gutes Modell in einer multikulturellen Großstadt.
- - In puncto Pluralität: Aktives Eintreten für eine Kultur der Toleranz – dazu gehört, dass man in der Gesellschaft die Stimme erhebt, wo Menschenwürde mit Kampfstiefeln getreten wird. Wohlgemerkt: überparteilich, interkulturell, couragiert. Am liebsten Morgen schon.
Damit Gott in der Stadt bleibt.