25. Dezember 2013 | St. Petri-Dom zu Schleswig

In der Mitte der Zeit

25. Dezember 2013 von Gothart Magaard

1. Weihnachtstag, Predigt zu Gal 4, 4-7

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

heute ist der Tag danach. Der Heiligabend liegt hinter uns. Das graue, nüchterne Licht des Wintermorgens hat uns wieder. So lange haben wir gewartet. So lange haben Kinder und Enkelkinder darauf hingefiebert. Wir alle haben geplant, geschmückt, gebacken, gekocht, Karten geschrieben, Geschenke gebastelt oder gekauft. Und gestern Abend dann der Zauber dieser so besonderen stillen Nacht. Wir haben miteinander gesungen und gebetet. Hier im Dom, in den anderen Kirchen in Stadt und Land, in unseren Häusern. Wir haben auf die Weihnachtsgeschichte gehört, diese vertraute Erzählung aus dem Lukasevangelium. „Es begab sich aber zu der Zeit…“

Ich selbst durfte hinter Gittern Gottesdienst feiern. Im Gefängnis. In der Justizvollzugsanstalt in Kiel. Für mich öffneten sich die Türen vor und zum Glück auch nach dem Gottesdienst wieder. Die Gemeinde musste bleiben, keiner schloss ihnen das Tor auf. Die Botschaft des Engels „Fürchtet euch nicht“, die er den Hirten auf dem Felde zuruft, klang in diesem Gottesdienst ganz anders in meinen Ohren. Irgendwie eindringlicher, persönlich und bedingungslos.

O du fröhliche, O du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Das singen wir in dem vielleicht bekanntesten Weihnachtslied. Aber was heißt das, wenn man für eine Straftat verurteilt wurde und nun hinter Gittern sitzt? Zusammen mit lauter fremden Menschen, sicher: lauter Schicksalsgenossen, aber getrennt und abgeschnitten von lieben, vertrauten Menschen? Nicht jeder hat das Glück, in den Genuss der Weihnachtsamnestie bei uns oder in Russland zu kommen.  Und was heißt gnadenbringende Weihnachtszeit, wenn man ein unspektakulär-normales, bürgerlich-anständiges Leben führt, wie die meisten von uns? Was ist dann das Besondere an der Weihnachtszeit, was ist das Geschenk der Gnade, die uns gebracht wird?

Der Predigttext für heute sind Verse des Apostel Paulus. Niedergeschrieben in seinem Brief an die frühen Christen in Galatien in der heutigen Türkei:

„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.“

Liebe Weihnachtsgemeinde,

das ist auch die Weihnachtsgeschichte, genauso wie wir sie kennen. Aber eben in den Worten des Apostels. Paulus will nicht anschaulich und einprägsam schildern und ausmalen, wie das der Evangelist Lukas mit den uns seit Kindesbeinen vertrauten Worten tut. Paulus reflektiert und argumentiert, wie er das gelernt hat, nüchtern und intellektuell, theologisch auf hohem Niveau und ganz verdichtet auf den entscheidenden Punkt gebracht!

Gott ist Mensch geworden. Einmal und Ein-für-alle-Mal. Er hat „Ja“ gesagt zu Menschlichkeit, ein ewiges „Ja“, das niemals zurückgenommen werden wird. DAS ist das Geheimnis von Bethlehem und der springende Punkt, um den es dem Apostel geht. Das ist gemeint, wenn er schreibt, „geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan“.

Im Klartext: Gott weiß nichts Besseres, als menschlich zu werden. Weniger nicht und mehr nicht.  Gott ist zum Wickelkind in der Krippe geworden, zum Wanderer unter Wandernden, zum Sterblichen unter Sterblichen. Gott ist Mensch geworden, ganz und gar, er muss essen, schlafen und verdauen, er erlebt die Freuden des Erdendaseins und genauso auch die Ablehnung, Härte und Bosheit der Mitmenschen. Gott ist Mensch geworden, hungrig und durstig, leidensfähig und stirbt den Kreuzestod – doch das Grab ist leer, und dieser Tod ist der Tod des Todes.

Liebe Schwestern und Brüder,

wir Heutigen können uns kaum begreiflich machen, wie unglaublich skandalös diese Botschaft vom menschgewordenen Gott auf die antiken Menschen wirkte. Das war wie ein Schlag ins Gesicht ihrer ganzen Glaubenswelt und Frömmigkeit. Wie, das Göttliche schwebt nicht in entrückter Schönheit, Wahrheit und Güte über den Dingen, sondern macht sich mit Zöllnern und Sündern gemein und endet am Galgen? Das war für sie nicht nachvollziehbar.

Paulus, dem großen Denker des Glaubens, geht es immer wieder um diese grundstürzende Wende in der Geschichte zwischen Gott und Mensch. Deshalb tritt er analytisch und deutend zum Krippengeschehen hinzu. Und er reißt mit seinen wenigen Worten den ganz großen weltgeschichtlichen Horizont auf und trifft zugleich den Kern der Geburtsgeschichte.

„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.“

Ja, Christus wird in die harten Fakten und nicht immer erfreulichen Gesetzmäßigkeiten dieser Welt hineingeboren.  

Das Edikt des Kaisers erlaubt keinen Widerspruch und keine Ausnahmen. Also auf nach Bethlehem. Der Vater und die Mutter finden kein Obdach. Sind angewiesen auf Menschen guten Willens, die ihnen zumindest ihren Stall öffnen. Auch wenn man damals dichter mit Ochs und Esel zusammenlebte als heute - ein guter Ort für die Geburt des Kindes war der Stall auch damals nicht. Mit Besuch darf das junge Paar nicht rechnen, woher auch? Die Verwandten sind weit entfernt, Unterstützung durch Eltern oder Großeltern bleibt aus.

Heute wäre eine solche Geburt ein Fall für „frühe Hilfen“ gewesen. Für eines der Schutzengel- oder wellcome-Projekte, die überforderte Eltern nach der Geburt entlasten oder unterstützen. Vielleicht auch ein Fall für einen Winter-Wohncontainer des Diakonischen Werkes oder für die Initiative „Brot und Rosen“, die Flüchtlinge bei sich aufnimmt und beherbergt. Und wenn Maria und Joseph nicht in Nazareth, sondern auf der Insel Sylt gewohnt hätten, dann hätten sie sich jetzt auch auf den Weg nach Flensburg machen müssen, weil auf der Insel seit Neuestem offenbar keine Geburten mehr stattfinden können.

Liebe Schwestern und Brüder,

Gott ist Mensch geworden, das ist der springende Punkt,  und er kommt eben nicht in einem Palast mit rotem Teppich oder in einer gutbürgerlichen Mittelschichtfamilie zur Welt – nein, ganz am unteren Rand der damaligen Gesellschaft. Solidarisch mit den Kleinen und Schwachen. Auch bei ihnen zog und zieht bis heute jedes neugeborene Menschenleben die Menschen ganz natürlich in seinen Bann und macht sie glücklich. Aber bei ihnen besteht zugleich wenig Grund zur Hoffnung auf grundlegenden Wandel. Nein, an Weihnachten ist schon damals nicht alles gut, wir bestaunen keine heilige Idylle, als der Sohn Gottes in diese Welt hineingeboren wird. „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.“

Wir befinden uns in der Mitte der Zeit. Es gibt ein Vorher und ein Nachher, die genau an diesem Punkt voneinander unterschieden sind. Gott nimmt sich der zerbrechlichen Menschlichkeit in dieser Nacht an. Von nun an dürfen wir Menschen alle als Kinder Gottes leben. Die unter uns, die den Gesetzmäßigkeiten des Menschenlebens gewachsen sind und die, die daran zu zerbrechen drohen. Und wir alle dürfen ganz wörtlich in der Kindersprache „Papa“ sagen. „Papa, lieber himmlischer Vater.“ Denn nichts anderes meint „Abba, lieber Vater!“. Das aramäische Wort „Abba“ ist bedeutungsgleich mit unserem „Papa“.  – Um Missverständnissen vorzubeugen: Was hier gemeint ist, hat nichts mit Patriarchat und Männerherrschaft zu tun, die oft zu recht kritisiert worden sind. Es meint die liebevolle Aufmerksamkeit Gottes. Wer Gott „Papa“ nennt, glaubt ihn so groß, dass er die Augenhöhe mit uns nicht scheut.

Und diese besondere Nähe, diese liebevolle Aufmerksamkeit Gottes schenkt uns ungeahnte Freiheit. Sie macht uns vom Knecht zum Kind. Der Dichter Angelus Silesius hat das wunderbar ausgesprochen:

„Die Knechte fürchten Gott, die Freunde lieben ihn,

Die Kinder geben ihm ihr Herz und allen Sinn.“

Der Knecht fürchtet den Herrn, weil er mit wenigen Rechten und vielen Pflichten versehen ist, weil er viel arbeiten muss und wenig Lohn bekommt.

Das Kind fürchtet seinen Vater nicht. Es vertraut und liebt den Papa und wird auch umgekehrt von ihm wie ein Augapfel gehütet und geliebt.

Und was freut Vater und Mutter mehr, als wenn er und sie ihr Kind wachsen und groß werden sehen? Wenn es eigene Wege findet und geht, auch wenn die vom Vater, von der Mutter wegführen? Und wenn sie dem Kind sagen und zeigen können: Was auch immer werden mag, Du bist und bleibt mein Sohn und meine Tochter und darfst immer kommen, solange wir da sind.

Liebe Gemeinde,

„Die Knechte fürchten Gott, die Freunde lieben ihn,

Die Kinder geben ihm ihr Herz und allen Sinn.“

Die Zeit ist erfüllt. Gott ist Mensch geworden, Kind in der Krippe, Wanderer unter Wandernden. Gott ist Mensch geworden, erlebt Lebensfreude und erfährt Ablehnung durch die Zeitgenossen. Gott ist Mensch geworden, hungrig und durstig, leidensfähig und stirbt selbst den Kreuzestod – doch das Grab ist leer. Die Krippe und das Kreuz sind aus einem Holz geschnitzt. Sie sind Hoffnungszeichen in einer Welt, die uns als Gotteskindern zur Gestaltung aufgegeben ist.

So kehre ich mit meinen Gedanken zurück an den Anfang. „Fürchtet euch nicht!“ - diese Worte haben wir gestern in der Justizvollzugsanstalt in Kiel, im Schleswiger Dom und in der St. Pauli-Kirchengemeinde in Hamburg gehört, in der in diesem Jahr viele Flüchtlinge untergekommen sind. „Fürchtet Euch nicht!“, haben die Menschen auch auf Helgoland und den Halligen und Inseln vom Engel des Herrn zugerufen bekommen.

Das ist für mich das Geschenk der Gnade, die uns Gott in der Weihnachtszeit alljährlich neu schenkt, diese Botschaft, die allem Volk widerfahren soll: Ganz gleich ob wir ein unscheinbares, normales Leben führen, oder vor den Bruchstücken unserer Biographie sitzen. Ob wir in Not sind und nicht mehr weiter wissen, ob wir auf der Suche nach Heimat und Halt oder das Gefühl haben, angekommen zu sein in unserem Leben. „Gott hat den Geist seines Sohnes in eure Herzen gesandt“ schreibt Paulus. Er ist uns näher, als wir zu hoffen wagen. Er nimmt unser zerbrechliches Leben an. Als Gotteskinder sind wir berufen, ihn anzusprechen, ins Gebet zu nehmen und selbst die weihnachtliche Freudenbotschaft weiterzusagen:
„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren soll. Denn euch ist heute der Heiland geboren!“

Amen.

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