28. August 2021 | Breklum

Jahrestagung des Zentrums für Mission und Ökumene

28. August 2021 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Geistliches Grußwort zur Jahrestagung des Zentrums für Mission und Ökumene (ZMÖ)

Liebe Geschwister,

„Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben“ (Ez 11,19) - so lautet die heutige Tageslosung aus dem Buch des Propheten Ezechiel. Ja, habe ich beim Lesen dieser Worte gedacht — ja, das brauchen wir, ein anderes Herz und einen neuen Geist, wenn wir uns heute auf der Generalversammlung des ZMÖ dem Thema „Kirche und Postkolonialismus“ nähern. Denn den wenigsten von uns ist wohl bewusst — trotz aller Beschäftigung mit Themen der Mission und ihrer Geschichte, auch ihrer kolonialen Geschichte, wie sie hier in Breklum gut verankert ist — dass mehr als 85% des Globus eine koloniale Vergangenheit haben.[1] Deshalb muss die Kolonialgeschichte auch unseres Landes und müssen die Themen der postkolonialen Debatte in vielen Kontexten mit bedacht werden — weit mehr als bisher auf jeden Fall.

In der breiten deutschen Öffentlichkeit findet diese Debatte zu Kolonisation und Postkolonialismus mittlerweile mehr Aufmerksamkeit. Öffentlich diskutiert wurde die Aufarbeitung des Genozids an den Herero und Nama, der von deutschen Truppen unter Generalleutnant Lothar von Trotha während der Kolonialzeit in Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908 verübt wurde. Damals wurden über 65 000 Herero und 10 00 Nama ermordet. Öffentlich wahrgenommen wurde und wird auch die Diskussion um die Rückgabe der Benim-Bronzen, die sich in deutschen Museen befinden, an den nigerianischen Staat. Und in diesem Sommer findet die vom Historiker Götz Aly angestoßene Raubkunst-Debatte um das Luf-Boot aus Papua-Neuguinea, das prominent im neuen Humboldt-Forum in Berlin präsentiert werden soll, eine relativ breite Aufmerksamkeit. Dieses Boot, das bisher als rechtmäßig erworben galt, steht, so zeichnet es Götz Aly in seinem Buch „Das Prachtboot. Wie Deutsche Kunstschätze der Südsee raubten“[2], nach, mit einem Massaker in Zusammenhang, das die deutsche Kolonialmacht 1882/83 an den Bewohnern der Insel Luf im Bismarck-Archipel verübte. Diese sechs Quadratkilometer große Insel, auf der 400 Menschen lebten, sei zunächst mit Kanonen aus zwei deutschen Kriegsschiffen beschossen und dann von 350 deutsche Marineinfanteristen durchkämmt worden. Dabei seien „alle Häuser niedergebrannt, die Schiffe zerschlagen, Frauen vergewaltigt und etliche Menschen ermordet worden. Einzig zwischen 50 und 100 Inselbewohner sei es gelungen, zu überleben. Diese bauten sich ein neues Boot: Eben jenes, das ihnen 20 Jahre später unter - wie nun bekannt wurde - fragwürdigen … Umständen `abhanden kam` und seitdem Teil der Berliner Sammlung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist.“[3] 

Die genannten Debatten machten in den letzten Jahren immer wieder deutlich, wie sehr die Kolonialgeschichte unseres Landes und der Zusammenhang von Missions- und Kolonialgeschichte noch immer einer intensiven Aufarbeitung bedürfen. Die ambivalente Rolle deutscher Missionsgesellschaften, die die europäische Zivilisierungsidee und damit emanzipatorische Gedanken in die Kolonien brachten, aber auch zur gewaltsamen Durchsetzung kolonialer Interessen beitrugen, braucht weiter eine genaue historische Bearbeitung.[4] Die Forschungs-bereiche von Postkolonialismus und Dekolonisation, die auch in den Missionswissenschaften bzw. in interkulturellen Studien wahrgenommen und rezipiert werden, machen dabei nicht nur auf vergangene koloniale Taten und Strukturen aufmerksam. Sie weisen darauf hin, so Sebastian Pittl, „dass die Tätigkeit der Missionare nicht nur die Gesellschaften außerhalb Europas massiv prägte, sondern auch wesentlich zur Formierung des Selbst- und Weltbildes in Europa beitrug.“[5]

Wenn wir uns heute auf der Generalversammlung mit „Postkolonialismus und Kirche“ beschäftigen, geht es also keinesfalls ausschließlich um ein Thema der Vergangenheit, sondern um eine grundlegende Bedingung, unter der sich bis heute Begegnungen zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen vollziehen. Mir liegt deshalb sehr daran und ich bin dafür dankbar, wenn sich das ZMÖ insbesondere hier in Breklum zukünftig verstärkt den Themen Postkolonialismus und — verbunden damit — Antirassismus widmen und dafür in unserer Kirche ein entsprechendes Kompetenzzentrum sein wird. Leitende Fragen und Themen sollten dabei aus meiner Sicht  sein: die Entwicklung eines Missionsverständnisses, das Erkenntnisse der postkolonialen Debatte reflektiert und einbezieht, die Reflexion und Erhebung der Zusammenhänge von evangelischem Glauben, Mission und Kolonialgeschichte sowie deren Auswirkungen bis in die Gegenwart, z.B. auf unsere heutigen Partnerschaftsbeziehungen und die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit und ebenso die Mitarbeit an einer Theologie, die die kolonialen und postkolonialen Erfahrungen in ihre Gedanken mit einbezieht, z.B. im Blick auf die Rede von Gott,  auf das Verständnis der Schöpfung oder wirtschaftsethische Fragen.  Wichtig wird vor dabei allem sein, die Themen und Stimmen unserer Partner:innen aus der ganzen Welt wahrzunehmen, auf sie zu hören und sie an der Themensetzung einer entsprechenden Agenda entscheidend mit zu beteiligen.

II

„Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben“ - beim Hören auf die Stimmen aus der Kolonialgeschichte, der aktuellen Debatte zu Postkolonialismus und Dekolonisation und die Rolle der Mission gehen diese Worte direkt ins Herz. Ja, wir brauchen, wie der Prophet Ezechiel es beschreibt, ein neues Herz. Eines, das unser altes Herz ersetzt. Jenes alte Herz, für das Verleugnung, Verdrängung und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal indigener Bevölkerungsgruppen an der Tagesordnung war. Das neue Herz und der neue Geist, um die es im Ezechiel-Buch, das auch als Literatur zur Traumabearbeitung beschrieben wurde[6], geht, wird Menschen von Gott geschenkt. Neues Herz und neuer Geist sollen sie in die Lage versetzen, Gottes Gebote und Ordnungen zu halten. Um so Raum für Veränderungen und ein neues Miteinander zu schaffen. Der Vers der heutigen Tageslosung wird im 36. Kapitel des Ezechiel-Buches erneut aufgegriffen. Dort heißt es dann: „Ich will euch ein neues Herz geben und euer Inneres mit neuer Geistkraft erfüllen. Das steinerne Herz will ich aus eurem Körper herausnehmen und euch ein fleischernes Herz geben.“

Das neue Herz, um das es beim Propheten Ezechiel geht, löst also nicht ein altes, verbrauchtes oder krankes Herz ab und ersetzt es durch ein neues, gesundes Herz. Sondern ein von Anfang an ungeeignetes, steinernes Organ wird von Gott - endlich - gegen ein neues ausgetauscht. Gegen ein Herz, das so ist, wie ein menschliches Herz sein soll, nämlich lebendig, aus Fleisch und Blut, und also mitfühlend, mitleidend, zur Schuldeinsicht fähig und der Vergebung bedürftig, ein barmherziges Herz, das ausgerichtet ist auf - wo immer möglich - Versöhnung.

Dieses neue Herz und diesen neuen Geist aber schenkt Gott nur unter einer Voraussetzung: dem Empfinden der Scham gegenüber den eigenen Untaten oder denen vorangegangener Generationen. Denn die Auseinandersetzung mit empfundener Scham verhilft zu Mitmenschlichkeit und Auseinandersetzung mit Schuld. Es ist erlebte und bearbeitete Scham, die Menschen vor unmenschlichem Tun schützt, die sie stabile und verlässliche ethische Maßstäbe suchen und finden lässt. Für das Ezechielbuch ist dieser Maßstab die Tora, es sind die Gebote und Ordnungen Gottes: Sie begründen und leiten an zu Mitmenschlichkeit und guten und gerechten Lebensmöglichkeiten für alle Menschen.

III

Wenn wir heute auf die Worte der Tageslosung hören und sie in unser Herz lassen, kann uns deutlich werden, worum es auch bei uns gehen muss. Um die Aufarbeitung von Vergangenheit und Gegenwart, um Scham über begangene Schuld, um die Suche nach neuen Möglichkeiten der Begegnung in einer Geschwisterlichkeit, die Gott uns schenkt, und schließlich um eine neue Verständigung über unser Zusammenleben in der globalisierten Welt, deren Herausforderungen wir nur gemeinsam, als Menschengeschwister und Gotteskinder bewältigen können. Das wir dazu am heutigen Tag miteinander im Gespräch sind, dass wir aufeinander hören und neue Möglichkeiten entdecken, dazu wünsche ich uns allen den Segen Gottes, der auch uns sagt: „Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben“.

[1] Vgl. Sebastian Pittl, Für eine „Globalisierung der Hoffnung“. Zur Relevanz postkolonialen Denkens für Theologie und Missionswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Theologie und Postkolonialismus. Ansätze - Herausforderungen - Perspektiven, (Weltkirche und Mission 10), Regensburg 2018, 9-23, 9.

[2] Götz Aly, Das Prachtboot. Wie Deutsche Kunstschätze der Südsee raubten, Frankfurt/M 2021 und die Diskussion in der ZEIT dazu im Juli/August 2021.

[3] Annabelle Steffes-Halmer, Luf-Boot: Deutschlands grausamer Kolonialismus. Beitrag auf Deutsche Welle vom 16.5.2021, https://p.dw.com/p/3tLCY (letzter Zugriff 1.8.2021).

[4] Vgl. z.B. Rebekka Habermas/ Richard Hölzl (Hrsg.), Mission global. Eine Verflechtungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert, Köln/ Weimar/ Wien 2014.

[5] Sebastian Pittl, Für eine „Globalisierung der Hoffnung“. Zur Relevanz postkolonialen Denkens für Theologie und Missionswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Theologie und Postkolonialismus. Ansätze - Herausforderungen - Perspektiven, (Weltkirche und Mission 10), Regensburg 2018, 9-23, 11.

[6] Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen zu Ezechiel: Ruth Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Literatur, Leiden/Boston 2012 (Supplements to Vetus Testamentum Vol. 154).

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