16. November 2019 | Grand Elysée Hamburg Hotel

Journalisten-Preis des WEISSEN RINGS

16. November 2019 von Kirsten Fehrs

Grußwort zur 7. Verleihung

Anrede

Schlagartig. Im wahrsten Sinne. Mit einem Schlag ist das alte Leben vorbei, wenn brutale Gewalt einen Menschen an Körper oder Seele verletzt. Da ist nichts mehr, wie es war. Opfer sein, das heißt, auf einmal auf der anderen Seite des Lebens zu stehen. Verstörung und Angst zu kennen. Vereinsamt zu sein. Verunsichert. Und sich selbst als zutiefst verwundeten Menschen zu erleben, der doch zuvor erfolgreich war, vielleicht sogar glücklich, auf dem Weg in den Urlaub oder verliebt, unterwegs zu einem Rendezvous. Vorbei – schlagartig – ist die bisherige Normalität des gelebten Lebens; plötzlich steht man auf der anderen Seite. Nicht selten ein Leben lang.

Es ist mir eine Ehre und erfüllt mich mit Dankbarkeit, dieses Jahr Schirmherrin des bundesweiten Journalistenpreises des WEISSEN RINGS zu sein. Denn dieser Preis rückt den gesellschaftlichen Blick genau auf diese andere Seite. Die prämierten Arbeiten, die wir gleich vorgestellt bekommen, setzen sich mit erschütternder Gewalt und mit Verbrechen auseinander und schauen dabei eben nicht zuerst auf die Täter*innen, sondern auf die Opfer, ein so wichtiger Perspektivwechsel. Auf sie, die die Gewalt als Lebenserschütterung erlebt oder sollte man sagen überlebt haben.

Es ist buchstäblich ausgezeichneter Journalismus, der professionell hinschaut, ins Licht setzt und zuhört, und dabei zugleich sensibel ist und achtsam für die besondere ethische Dimension. So also danke ich heute als Schirmherrin, auch stellvertretend für unsere Zivilgesellschaft, beiden: dem WEISSEN RING, der gewissermaßen aus seiner DNA heraus Gewaltopfer und Betroffene aus dem Schatten des gesellschaftlichen Tabus holt und deshalb Journalismus prämiert, der hilft, Öffentlichkeit herzustellen. Und ich danke den Journalist*innen, die sich erschütternder Geschichten angenommen haben und denen es gelungen ist, all dem Unheilvollen darin angemessen zu begegnen.

Angemessen, das meint zuallererst würdigend. Beim Schreiben und beim Filmen. Da gilt es in besonderem Maße, die Würde eines von Gewalt betroffenen Menschen, angetastet wie sie ist, zu wahren; es gilt, in jeder Hinsicht behutsam zu sein und die persönliche Integrität zu achten. Ist doch mit jeder Gewaltgeschichte tiefe Scham verbunden und großer Schmerz. Sind doch Details stets so höchstpersönlich und potentiell entblößend. Der Grat ist schmal.

Angemessen, das heißt deshalb auch sensible Recherche. Denn bei diesem Thema und dem Zugehen auf Kriminalitätsopfer ist klar: Man hat es mit Verwundungen und seelischer Zerbrechlichkeit zu tun. Bei den Protagonist*innen, aber auch – das dürfen wir ja nicht vergessen – bei Leser*innen, Zuschauern oder Zuhörerinnen. Und nicht zuletzt setzen Sie sich selbst als Autorinnen und Redakteure diesen Gewaltgeschichten aus und damit furchtbaren Traumata betroffener Menschen. Das geht an die Seele. Auch übrigens bei den Mitgliedern der Jury. Ergo: alle Beiträge schmerzen. Und das kann gar nicht anders und soll so sein. Angemessen eben.

Angemessen, weil Sie versachlichend kriminologische Zusammenhänge in das Licht der Öffentlichkeit rücken – und damit nicht selten Ansätze zur Aufklärung liefern. Sie decken Missstände auf, weisen auf Strafverfolgungs- oder Gesetzeslücken hin und beleuchten vor allem die großen Lücken, die ein Verbrechen in ein Leben und in das Leben von Angehörigen reißt. Und so schauen Sie mit Ihren Beiträgen nicht nur hin, sondern stellen Fragen: Wie konnte das geschehen? Was wird warum ausgeblendet, vertuscht, verdreht? Und dann: Wie können wir als Gesellschaft dazu beitragen, dass in Zukunft so weit als möglich Gewalt verhindert werden kann? Stichwort: Gewaltprävention.

Ich bin überzeugt, nur wenn man sich der Verbrechen und ihrer Folgen aussetzt, wird evident, dass nicht so bleiben kann, was nicht sein darf. Dass die Macht der Gewalt durchbrochen werden muss. Dazu braucht es, liebe Gäste, Sprechräume, die offene Rede über das, was an Gewalt passiert ist – und dass sie manchmal jahrelanges Martyrium bedeutet. Die offene Rede darüber, wie perfide Gewalt sein kann und wie Täter ein Macht- und Abhängigkeitssystem etablieren, das die Opfer immer tiefer in Verzweiflung treibt. Wir müssen offen darüber reden, dass Gewalt in Familien stattfindet, in Schulen und – für mich in besonderem Maße klar zu benennen und besonders schmerzlich – in der evangelischen Kirche. Seit meinem ersten Tag als Bischöfin rede ich mit Betroffenen; das sind jetzt acht Jahre. Ich bin über die Jahre hin immer dünnhäutiger geworden und gerade deshalb war keine einzige Minute vergebens. Denn es geht um Lernprozesse. Persönlich, aber auch institutionell und gesamtgesellschaftlich. Nur wenn das Thema Gewalt herauskommt aus dem Tabu, nur wenn wir das Schweigen, das Betroffenen aufgezwungen wurde, brechen, nur indem man gesellschaftliche Sprechräume ermöglicht, schützt man nicht mehr die Täter*innen, sondern potentiell Betroffene.

Deshalb dieser Journalistenpreis. Weil Sie genau mit Ihren Beiträgen das Schweigen brechen. Und weil das Thema mitten in die Gesellschaft gehört. Es muss uns klar werden: Gewalt ist nicht nur das Thema der anderen, sondern findet mitten unter uns statt, in der Nachbarschaft, auf der Straße, im Cyberraum und hinter den Gardinen bürgerlicher Wohlanständigkeit. Und so steht dieser Journalistenpreis, der sich alle zwei Jahre herausragenden Arbeiten widmet, für genau diesen Anspruch: den Opfern eine Stimme zu geben. Deshalb ist dieser heutige Abend nicht allein eine Preisverleihung. Er ist auch ein Innehalten und ein Gedenken an die Opfer.

Den Verstummten und Entrechteten, den Opfern eine Stimme zu geben – das entspricht zentral dem christlichen Auftrag. Denn es geht mit jedem Erinnern auch um die Zukunft, um die Frage, wie es wieder Schritte ins Leben geben kann. Bei den Gottesdiensten, die wir jedes Jahr zum Tag der Kriminalitätsopfer gemeinsam vorbereiten, erleben wir in anrührender Weise, wie betroffene Menschen und Angehörige dafür ihre Stimme erheben. Dabei mag unser Leitwort von Michelangelo auch heute passen: Gott hat der Erinnerung eine Schwester gegeben, sie heißt Hoffnung.

Mit Schwester Hoffnung beharrlich neue Perspektiven suchen – diese Idee verbindet mich mit dem WEISSEN RING und all den Ehren- und Hauptamtlichen, die sich engagieren. Denn Sie begleiten in der Krise, dies zuallererst, aber behalten immer auch das Ziel im Auge, dass die betroffenen Menschen herauskommen aus Angst und Ohnmacht, ja aus dem Stigma, Opfer zu sein und nicht doch auch ein Mensch, der Liebe ersehnt und Gemeinschaft, der lachen will und das Leben begehrt. Sie stehen mit dem WEISSEN RING für Hoffnungsmut und klare Rede, und das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, für die Ihnen Dank gebührt.

Mit Hoffnung neue Perspektiven eröffnen, indem man Klartext redet, so ist es auch bei Ihnen, liebe Journalist*innen. Sie sind drangeblieben, haben hingeschaut und aufgemerkt. Deshalb: ausgezeichnet! Jede Auszeichnung zeigt unseren Respekt und die große Anerkennung Ihnen persönlich und Ihrer journalistischen Leistung gegenüber. Und mehr noch: Jede Auszeichnung wird zu einer Stärkung all der Menschen, die Ihnen ihre Geschichte anvertraut haben. So gratuliere ich von Herzen Ihnen allen und bitte Sie und uns alle: Bleiben wir dran. Schauen wir hin. Merken wir auf und setzen Zeichen der Hoffnung, um der betroffenen Menschen und einer humanen Gesellschaft willen. Ich danke Ihnen.

Datum
16.11.2019
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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