Kirchenglocken: "Ein Ort in der Stadt, an dem es um Gott geht"
28. August 2016
Sonntagvormittags schallen Kirchenglocken durch Stadt und Land. Sie laden zum Gottesdienst ein und haben ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Im schleswig-holsteinischen Neumünster gibt es 34 an der Zahl - und eine von ihnen bekommt zum 300. Geburtstag sogar ihr eigenes Hörspiel.
Tief durchdringend schallt "Dominica" vom Turm der Vicelinkirche. Im September feiert die Kirchenglocke ihren 300. Geburtstag und gehört damit zu den ältesten der Stadt. Von ihrer wechselvollen Geschichte erzählt ein Live-Hörspiel, das am Sonntag, 11. September, um 19 Uhr in der Vicelinkirche uraufgeführt wird.
Viele Historische Glocken für Kriegswaffen eingeschmolzen
Was sonst so bimmelt und bammelt, ist meist in den 60er Jahren angeschafft worden oder war ursprünglich überhaupt nicht für Neumünster bestimmt.
Schuld daran ist der Zweite Weltkrieg. In ganz Deutschland ließen die Nationalsozialisten die Glocken abhängen. Auch die Glocken der Anschar- und der Vicelinkirche verfrachteten sie 1942 auf den Hamburger Glockenfriedhof. Lediglich Dominika durfte bleiben, weil sie als historisch wertvoll angesehen wurde. Dort im Freihafen stapelten sich schließlich an die 90.000 Glocken. Rund 75.000 wanderten in die Schmelzöfen, darunter die Neumünsteraner Glocken. Aus dem wertvollen Rohmaterial, aus Kupfer und Zinn, schmiedete die Rüstungsindustrie neue Kriegswaffen.
Patenschaft für Glocken aus dem Osten
Was 1945 noch übrig war, gab man den Kirchengemeinden zurück. Darüber hinaus erhielt die Anscharkirche Glocken aus Arnswalde in Pommern, die katholische Kirche St. Maria St. Vicelin welche aus der Nähe von Danzig und aus Schlesien. Diese ehemals deutschen Landstriche fielen nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen. "Damals hat auch die Anscharkirchengemeinde eine Patenschaft für die Glocken übernommen", weiß Propst Stefan Block. "Es wurde vereinbart, sie zurückzugeben, sollte die frühere Gemeinde irgendwann in der Lage sein, die Glocken heimzuholen."
Doch wenn in Neumünster die Glocken läuten, hat das für Stefan Block mehr als eine historische Dimension: "Das ist öffentliche Religionsausübung", stellt der Propst klar. "Die Glocken machen akustisch spürbar: hier ist ein Ort in der Stadt, an dem es um Gott geht." Das nehme auch wahr, wer nicht zum Gottesdienst gehe oder gar nicht der Kirche angehöre.
Propst Block: Klangzelt ist "öffentliche Religionsausübung"
Diesem Klangzelt, wie Block es nennt, kann man in Neumünster kaum aus dem Weg gehen. Jede der elf lutherischen Kirchen hat drei Glocken im Turm. Ausnahmen sind die Bugenhagenkirche, dort verrichten vier ihren Dienst und die Dietrich-Bonhoeffer-Kirche, wo es überhaupt keine Glocken gibt. "Das hängt hauptsächlich mit unserer Lage zusammen", erklärt Bonhoeffer-Pastor Tobias Gottesleben. Wegen der hohen Häuser hätte der Klang der Glocken nicht weit getragen. "Außerdem ist unsere Kirche im Wohnzimmerstil konzipiert. Sie will ein Ort für alle in der Nachbarschaft sein. So etwas braucht nicht unbedingt einen Glockenturm", findet Gottesleben.
Nun schallt der Klang von den umliegenden Kirchtürmen in den Stadtteil Ruthenberg. In der Regel erklingen die Glocken zur Mittagszeit zum Friedensgebet und dann noch einmal am Abend zum Vespergeläut - was auf die Gebetszeiten der Klöster zurückgeht.
Läuten geht heute vollautomatisch
Starke Muskeln brauchen die Küster dafür schon lange nicht mehr, das Läuten und auch das Schlagen der Uhrzeit geht vollautomatisch. Die Zeiten, als sie wortwörtlich in den Seilen hingen, um die Glocken in Bewegung zu setzen, waren in Neumünster Anfang der 50er Jahre zu Ende. Nun setzen Elektromotoren die bronzenen Riesen in Schwingung. Die größte Glocke hängt im Turm der Anscharkirche und wiegt knapp 2,4 Tonnen. Sie bringt auch den tiefsten Ton zustande. Am anderen Ende bimmelt die kleinste Glocke mit ihren 320 Kilo ein hohes Fis vom Turm der katholischen Kirche St. Maria St. Vicelin über die Stadt. Und die evangelische Vicelin-Glocke Dominica stimmt mit ihren dreihundert Jahren in der Nachbarschaft mit ein.