25. Dezember 2020 | Hauptkirche St. Michaelis Hamburg

Krippenandacht am 1. Weihnachtstag

25. Dezember 2020 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Jesaja 52,7-10

Liebe Krippengemeinde,

wie dankbar bin ich, dass wir hier zusammen sind – und diese wunderschöne Musik hören. Das ist doch Labsal für die aufgewühlte Seele, oder? Die Musik gibt Trost und Freude zugleich – in einer Zeit, die uns hin- und herreißt. Zwischen Bangen und Hoffen, zwischn Schwachwerden und Neuwerden.

Dieses Weihnachtsfest werden wir wohl nie vergessen. Weil es viel Verzicht gibt und schmerzhafte Trennung. Zugleich wird uns besonders klar, wie bedeutsam für unser Leben Beziehungen sind, die tragen. Ob in Familien oder Freundschaften. Wie wichtig der Mensch ist, der abstandslos neben mir sitzt. Wir lernen neu unsere Schätze schätzen. Und dazu gehört unbedingt auch das Weihnachtsoratorium, Sprache des Glaubens und der Hoffnung. Jauchzet, frohlocket, auch in schwerer Zeit.

Wie tief mich diese Sprache tröstet und erreicht, habe ich allerdings erst richtig begriffen, als ich vor einigen Jahren – in einem Dezember, in dem beglückenderweise die Kultur ungebremst die Bühnen bespielen konnte – das Ballett zu Bachs Weihnachtsoratorium von John Neumeier gesehen habe. Stellen Sie sich vor, liebe Gemeinde, lauter junge Tänzer, die alles geben in einem fliegenden Tempo: grazile Sprünge, Pirouetten, schwebende Engel. Bewegung, Bewegung, Bewegung, auch der Gefühle. Vom ersten „Jauchzet, frohlocket!“ an bin ich atemlos, weil ich so schnell gar nicht erfassen kann, was da gleichzeitig passiert. Die Ebenen, Geschichten, Zeiten, Menschen kreuzen sich unaufhörlich. Heute ist gestern und ehemals ist immerdar. Lauter bewegte Menschen mit ihren Lebenskoffern in der Hand ziehen durch die Geschichte der Weihnacht. Alle sind sie auf der Suche danach, anzukommen. Heimat zu finden. Ruhe für die Seele, so wie wir ja jetzt auch.

Plötzlich halten alle inne. Der Chor setzt langsam ein mit: „Wie soll ich dich empfangen?“ Getanzt nicht von der Compagnie, der Gemeinde auf der Bühne, sondern getanzt von einem, von Josef. Wie soll ich dich empfangen? Wie begegn ich dir? Gesungen, wie wir eben hörten, nach der Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“. Die Passion, das Leiden Jesu klingt schon bei seiner Geburt an. Und das heißt ja bis heute: Die Erlösung weiß so viel vom erlittenen Schmerz. Josef übersetzt das einfühlsam in seinen Tanz. Sein ganzer Körper zeigt Zerrissenheit. Hin und her, ein Ziehen und Sehnen. Klar. Kann doch gerade Josef sich nicht unbeschwert über die Geburt des Krippenkindes freuen. Da ist vielmehr sein Zusammen-Reißen von Zweifel, Enttäuschung, Zukunftsangst und hingebungsvoller, tiefer Liebe, alles zugleich. Treu bleibt dieser Mann an der Seite der Mutter Maria, bis zuletzt, und wirkt doch immer ein wenig einsam dabei. Der eine Fuß hüpft und der andere weiß nicht wohin. Josef ist die Unsicherheit auf zwei Beinen. Oder besser: auf einem Bein. Gefangen von der bohrenden Frage, was denn da – um Gottes Willen – kommen wird.

Dieser Josef zeigt mir eindringlich: Weihnachten versteht alles von uns. Es versteht etwas von dem Verzicht, den wir in diesem Jahr vielfach erlebt oder erlitten haben. Von unserer Unsicherheit, was werden wird. Es versteht unsere Dankbarkeit, Liebe zu erfahren. Es versteht, dass wir gerade eine Zeit erleben, in der sich das Leben nicht mehr nur auf bewegten Straßen, sondern auch in vielen, vielen stillen Kammern ereignet.  

Und mitten hinein nun in diese Nachdenklichkeit kommt das impulsive Prophetenwort; wir haben es eben gehört: Seid fröhlich und jubelt miteinander, als gäbe es keine Pandemie. Denn, so stellt uns Jesaja vor Augen, es ist zu sehen, heute und hier: Der Herr hat sein Volk getröstet und die Welt erlöst! Ein „literarisches Oratorium der Hoffnung“, so werden jene Kapitel des Jesajabuchs genannt, bei dem unser Predigttext den furiosen Schlusschor bildet. Übertitelt: Die frohe Botschaft.

Also: Seid fröhlich. Jetzt. Nicht morgen. In dem Hoffnungsoratorium spürt man eine brennende Ungeduld, dass die Friedensverheißung zu unserer Wirklichkeit wird. Und wenn man weiterliest und genau hinhört, erklärt sich diese Ungeduld: Seid fröhlich und jubelt miteinander, „ihr Trümmer Jerusalems“, heißt es. Die Trümmer des zerstörten Tempels sind gemeint. Und mehr noch: Auf den Trümmern, im Blick auf den Schmerz, den Menschen über den Verlust des Allerheiligsten in ihrem Leben empfinden können, gehen, was sage ich: tanzen die Füße des Freudenboten. Fast trotzig klingt seine frohe Botschaft: Gott ist der König. Nichts und niemand anders. Weil er in Liebe kommt. Nicht mit Militärstiefeln, sondern auf lieblichen Füßen. Er ist Freudenbote in der Not. Denn es ist genug. Längst ist es genug mit all dem Leiden und dem Schmerz. Himmel noch mal, komm auf die Erde! In diese Realität mit ihren Brüchen und Rissen, ihrer Fragilität und unserer so überdeutlich gewordenen Verletzlichkeit.

Was für eine Kraft steckt in diesen Prophetenworten. Jesaja versteht es, sein Volk, das sich im Finstern befindet, aufzurichten, aus den Ängstlichen und Entnervten aufrichtige Menschen zu machen. Die, weil getröstet, auch getrost sind. Erfüllt von einer Energie der Hoffnung, die sich nicht einschüchtern lässt.

Wie gut tun mir gerade jetzt diese Trostherbergen aus Bachscher Musik und aus Zukunftsbildern wie Jesaja sie malt – mit einer tiefen Freude, die den Trost kennt. Mit dieser Hoffnung, die weiß, was Trümmer sind. Dem Frieden, der immer wieder ersehnt sein will. Und alles das, alles weist nach vorn. Auch wenn uns manches hin und herreißt: Gehen wir mit! Lassen wir uns locken von dem Freudenboten und seinen lieblichen Füßen; so klein sind sie beim Kind in der Krippe. So zart ist er, der Friedenskönig dieser Welt, und so kraftvoll sein Licht. Hoffnungsleuchten, Menschenskind.

Vergangene Woche konnte ich es real erleben, das Hoffnungsleuchten, als ich gemeinsam mit zwei Pfadfindern das Friedenslicht von Bethlehem in einem Krankenhaus überreichen durfte. Abgekämpfte Pfleger und Krankenschwestern stehen mir, selbstverständlich in sicherem Abstand, gegenüber. In den Augen der Ärztinnen und Ärzte liegt unendliche Müdigkeit. Der Direktor erzählt aus dem Klinikalltag. Alle sind besorgt. Die Botschaft vom Impfstoff hat – klar – die Hoffnung auf Besserung steigen lassen, doch die Inzidenzzahlen dämpfen diese dann doch immer wieder. Inmitten dieser Erschöpfung ist die Hoffnungssehnsucht übergroß. Zum Glück sind wir nicht allein, uns begleitet ein Posaunist. „Wie soll ich dich empfangen“ spielt er in diese übermüdete Geschäftigkeit hinein. Er gibt alles. Posaunenmusik mit Inbrunst. Und alle merken, wie sich die Anspannung löst und wie die vertrauten Töne die Menschen erreichen und, wenn natürlich nicht gleich hellauf jubeln lassen, so aber ein Lächeln hervorzaubern. Zartes Hoffnungsleuchten, das man hören und sehen kann.

Empfangen wir ihn jetzt, den Gottessohn mit seinen kleinen Füßen. Er ist das Hoffnungslicht in Person inmitten der pandemiegeplagten Welt, das sich nicht mehr vertreiben lässt. Es leuchtet hinein in Krankenhäuser, in stille Wohnstuben, in die Flüchtlingslager mit ihren elenden Zuständen, ja leider immer noch.

Dafür, liebe Gemeinde, ist Gott auf die Erde gekommen. Damit wir energisch hoffen und zärtlich lieben, einander aufmerksam schützen und denen im Elend beistehen. Und – wer weiß? – irgendwann werden wir wieder beginnen zu tanzen.

In Frieden, höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, Freudenbote und Friedenskönig.
Amen.

Datum
25.12.2020
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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