1. Januar 2022 | Hauptkirche St. Michaelis

Krippenandacht an Neujahr

01. Januar 2022 von Kirsten Fehrs

Predigt zur Jahreslosung (Johannes 6,37)

Liebe Neujahrsgemeinde,

halten wir also erst einmal inne und treffen uns alle hier gemeinsam an der Krippe, bevor wir losgehen ins neue Jahr. So singt es uns der Chor auf wie immer wunderbare Weise mit Bachscher Musik gerade zu. „Fallt mit Danken, fallt mit Loben“ – anbetend nämlich auf die Knie, das ist das Bild. Vor den „Gnadenthron“ sollen wir fallen. Und der ist ja nichts anderes als ein Futtertrog. Ein Futtertrog wird Gott auf dieser Erde zum ersten Zuhause! Ja, der „Höchste“, der das Wüten und Toben der Welt zur Ruhe bringen will, ist ein winziges Kind in Windeln gewickelt.

Gott, ein Kind! Die Engel besingen dieses Wunder vom Himmel hoch. Fürchten wir uns bloß nicht zu glauben, was da geschehen, sagen sich die Hirten, und rufen uns zu: Lasset uns nun gehen gen Bethlehem, zur Krippe. Et voilà – da sind wir! Hier im Michel, wir lassen uns nicht lange bitten. Denn die Weihnachtsgeschichte will mitten unter uns Gottes Ja zum Klingen bringen. Sie füllt mit ihren Bildern und Worten unsere Tage in dieser Weihnachtszeit. Vertrautes umgibt uns dabei – liebe Menschen, alte Lieder und ein Weihnachtsoratorium, an dem man sich nicht satt hören kann. Das alte Jahr ist zu Ende gegangen mit dem Versprechen, dass Gott ganz nah bei uns sein will. Und das neue Jahr beginnt mit dem gleichen Versprechen: Der Engel singt heute wie gestern unbeirrt sein „Fürchte dich nicht“. Glanzlichter und Stern geben hellen Schein, und nicht nur der romantisch veranlagte Mensch tankt geradezu diese zärtliche Stimmung der Zuversicht.

Wer sich auf diesen ganz besonderen Zauber der Weihnacht einlässt, nimmt davon etwas mit über die Schwelle des neuen Jahres. Denn natürlich ist es kein Weihnachtskitsch, der das Fest ausmacht. Sondern eine sagenhafte, innige Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte zwischen Gott und uns Menschen. Eine, die die Kraft hat, Menschen aufzurichten. Wie nötig ist das jetzt! Und so stehen wir an deiner Krippe hier …

… und hören dein Ja! Denn Christus spricht: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Was für eine Jahreslosung. „Wer zu mir kommt“, das sind Sie, sind wir, die wir uns auf den Weg machen ins neue Jahr mit unseren heutigen Hirtenstäben, mit unserem Weihrauch und Gold, mit unseren Hoffnungen und unserem Dank für so vieles im Leben. „Wer zu mir kommt“, das sind wir, die wir auch erschöpft sind von zwei schwierigen Jahren und die wir uns doch unsere Zuversicht nicht nehmen lassen wollen. Deshalb sind wir doch hier, liebe Geschwister, oder?

Weil wir nicht einfach so in ein neues Jahr stolpern möchten, sondern weil wir uns nach echter Hoffnungskraft sehnen, die den Ängsten und Spannungen, die der Müdigkeit und den Empörungen etwas entgegenzusetzen weiß. Dieses: „Fürchtet euch nicht“, „Frieden den Menschen!“ Das ist die Botschaft des Krippenkindes in der Welt jetzt. Wer zu ihm kommt, hat Anteil an dieser zarten, anrührende Liebe, die die Kraft hat, den Hass zu überwinden.

„Wer zu mir kommt“, das sind deshalb die, die etwas erwarten. Die sich weder niederdrücken noch aufstacheln lassen wollen. „Wer zu mir kommt“, das sind die, die unbeirrt festhalten daran, dass Menschen menschlich zusammenleben können. Mit offenem Blick füreinander. Die sich dem Misstrauen nicht ergeben. „Wer zu mir kommt“, das sind die Menschen, die sich ihren Frust, ihren Schmerz, ihre Trauer verwandeln lassen wollen. Auch dann, wenn es ganz tief geht und ganz ernst ist. „Wer zu mir kommt“, will nicht versinken und aufgeben, wenn das bisherige Leben so angefochten ist oder gar in Trümmern liegt. „Wer zu mir kommt“, muss nicht flüchten in Feindbilder und Verschwörungsvorstellungen. Wer hier zu Jesus kommt, vertraut, will vertrauen, trotz allem.

Am Heiligabend habe ich wie üblich die Tagesaufenthaltsstätte der Diakonie für Obdachlose besucht. Am festlich gedeckten Essenstisch traf ich auf Menschen, die schon viele Jahre auf der Straße leben. Ich begegnete aber auch nicht wenigen, die zum ersten Mal dabei waren. Die durch die Pandemie ihre Existenz verloren haben, und dann auch ihre Wohnung. Manche, die ihre Fassungslosigkeit versuchten mit lockeren Sprüchen aufzufangen, nach dem Motto: „Krönchen richten, weitergehen“. Das war ehrlich anrührend. Weil ganz klar war: Wenn es wirklich ernst wird, braucht es mehr. Da braucht es ein echtes Gegenüber, nahbar, hörbereit und zugewandt. Dann braucht es einen, der sagt: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“

In diesem Jahreswort liegt so viel Lebensenergie! Wenn du mit deiner Kraft am Ende bist, mühselig und beladen, und du kannst kommen und dich fallen lassen, und die Last wird leicht. Wenn du mit geplatzten Hoffnungen aus Afghanistan fliehen musst, und du triffst auf Menschen, bei denen du in Sicherheit bist und bleiben kannst. Wenn du um dein Land und deine Angehörigen in Belarus bangst, und du wirst begleitet von Leuten, die wissen, was Solidarität mit politischen Gefangenen bedeutet. Wenn du in der furchtbaren Dürre Ostafrikas nicht weißt, wie du die nächsten Tage überleben und dein Kind durchbringen sollst – und du spürst tief in dir: Alle Ungerechtigkeit der Welt kann und darf mir meine Würde nicht nehmen. Menschen mögen wegschauen, Gott schaut hin. „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Ein Menschenrecht ist das!

Wer zu ihm kommt, also dem Leben vertraut und dem Zusammenhalt der Weltfamilie, wird nicht zurückgestoßen. Punktum. Das ist so unerhört stark an dieser Jahreslosung. Denn wir erleben doch derzeit, dass offenbar verlorenes Vertrauen schnell zu Wut führt, ja, Hass wird. Gute Güte, was ist auf den Straßen in Deutschland los, teilweise solch bedrückende Aggression und Unzugänglichkeit. Doch, liebe Geschwister, lassen wir uns davon nicht beirren. Halten wir fest am Vertrauen. Wer Vertrauen wagt, baut mit an einer menschlichen, zukunftsfähigen Welt, die für die Pandemie – aber auch den Klimawandel – friedliche Lösungswege sucht und sie auch finden kann. Wer Vertrauen wagt, investiert in die Zukunft der Demokratie, in der ja von ihrer Grundidee her niemand abgewiesen wird. Jeder zählt, jede zählt.

Ich wünschte, wir könnten wirksamer verhindern, dass Menschen innerlich daraus aussteigen und sich in eigene Welten verabschieden. Denn die durch viel Leid hindurch errungene Demokratie ist es doch wert, dass wir sie achten, pflegen, weiterentwickeln! Also bitte, liebe Geschwister: Geben wir keinen verloren in die Einsamkeit ihrer Welten. Bleiben wir besonnen und reden doch noch einmal mit denen, die wir einfach im Moment überhaupt nicht verstehen und die uns dennoch am Herzen liegen. Setzen wir auf den Mut zur Veränderung.

Eine kleine Geschichte passt dazu. Sie erzählt von mutigem, ja eigentlich sogar leichtsinnigem Vertrauen. Ich habe sie irgendwo aufgeschnappt und weiß gar nicht genau, ob sie wahr ist. In jedem Fall aber wäre sie sehr gut erfunden:

In Berlin soll einmal eine alte Dame in der U-Bahn gesessen haben, als eine Gruppe junger Männer einstieg, die grob und brutal die Fahrgäste beraubte und dabei ganz offensichtlich gewaltbereit war. Ängstlich gaben ihnen die Menschen Geld, Uhren, Schmuck. Und jeder war froh, wenn er hinter sich hatte, was unvermeidlich war. Entkommen konnte schließlich niemand. Nur die alte Dame sitzt ganz ruhig mit der Handtasche auf dem Schoß auf ihrem Platz und sieht sich das Ganze an, geradezu entspannt. Einem der jungen Männer fällt das auf, und also soll sie die nächste sein, die er beraubt: „Na, Oma, du hast wohl keene Angst, wa?“ Die alte Dame sieht ihm ins Gesicht und antwortet: „Warum soll ich Angst haben? Du bist doch bei mir!“ Sie behielt ihre Handtasche, die kluge alte Dame.

Vertrauen, das mit Findigkeit dem Bösen widersteht. Das sich vom Widerwärtigen nicht schrecken lässt. Solches Vertrauen verändert die Welt. Weil es getragen ist vom „Fürchte dich nicht“. Gehalten von ihm, dem Allerhöchsten in seinem Futtertrog, der genau weiß von unserer Verletzlichkeit und unserer Ohnmacht, aber erst recht von unserer Sehnsucht nach klugem Frieden. Also: Vertrauen wir ihm wagemutig, denn er ist mit uns, Gott Immanuel, und sagt ein ganzes Jahr hindurch: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Damit, liebe Geschwister, lässt sich‘s doch wahrlich losgehen! Ein gesegnetes, behütetes, vertrauensmutiges Jahr 2022 wünsche ich Ihnen von Herzen!
Amen.

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