10. Februar 2013 | Dom zu Schleswig

Liebe macht sehend

10. Februar 2013 von Gerhard Ulrich

Sonntag Estomihi, Predigt zu Lukas 18, 31-43

Liebe Gemeinde!
I
„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn…Sie aber begriffen nichts davon…“

Eine misslungene Kommunikation, diese dritte Leidensankündigung Jesu auf dem Weg nach Jerusalem.
„… ich werde überantwortet werden den Heiden, und ich werde verspottet und misshandelt und angespien werden; und sie werden mich geißeln und töten.“

Die Jünger konnten das nicht verstehen. Sie hatten ihren Meister ja erlebt in der Zeit, die sie nun schon mit ihm durch die Lande gezogen waren: wie er Kranke geheilt hatte, wie er vom Reich Gottes erzählt und den Frommen die Welt und Gott ganz neu erklärt hatte. Er hatte die bittende Witwe zum Vorbild erhoben, Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, mit Outcasts gesucht; er hatte mit allen Konventionen gebrochen und den reichen Jüngling mit Ernst auf Gottes Gerechtigkeit verwiesen und auf die Verantwortung vor Gott und der Welt derjenigen, die viel haben. Er hatte die Kinder gesegnet, sie in die Mitte gestellt als Vorbilder für die, die sich für groß achten. Er hatte die Werte auf den Kopf gestellt! Er hatte Streit hervorgerufen und Hass. Und großen Jubel: ein Quotenbringer ganz eigener Art!

Ihnen, den Jüngern, hatte er die Dimensionen des Lebens weit gemacht: sollte bei Gott nicht möglich sein, was den Menschen unmöglich ist?!

Blind sind die Jünger, betriebsblind. Von all dem Gewese um sie herum ist ihr Blick gehalten. Sie verstehen nicht. Und wollen auch nicht verstehen Jesu von dunkler Vorahnung gesprochenen Worte. Denn nie war es ihnen so gut gegangen wie mit diesem Menschen Jesus von Nazareth. Nie waren sie so im Licht gestanden, hatten teil an seiner Macht, an seiner Frechheit, an seinem Mut, seiner befreienden Klarheit: das Gesetz ist für den Menschen da – nicht umgekehrt.

Sie selbst spürten etwas von dem Glanz seines Rufes auf sich liegen. Der, der den Mächtigen entgegengetreten war, der würde eine neue Welt schaffen, würde die Unterdrücker verjagen. Der war doch noch lange nicht am Ende mit seinem Latein. Sieh du hin, Jesus: die Leute sind außer sich vor Freude über Wundertaten und Wunderworte.

Da passt das Gerede vom Tod nicht. Das stört. So, wie die stören, die zu Jesus gebracht werden: die Kinder, die noch nichts wissen vom Ernst des Lebens; die Lahmen und Blinden, die nicht mitkommen; die Besessenen, die alles durcheinander bringen. Die Armen, die nur unnötig den Lauf der Dinge aufhalten.
So ist es doch: wir staunen über den Glanz der Welt, freuen uns an Fortschritt und Wohlergehen. Haben Anteil an den Errungenschaften, an Bildung, Fortkommen, Reichtum. Und wenn uns dann vor Augen tritt tatsächlich die Realität der Welt, die dunkle Seite; der garstige Graben, der die Reichen von den vielen Armen trennt; das Ungleichgewicht auch in unserer Gesellschaft, das die Schwachen zu Abhängigen macht, zu Kostenfaktoren; wenn ganze Länder in den Bankrott zu trudeln drohen, wie Griechenland oder Spanien – dann sind wir gestört. Dann werden Rettungsschirme aufgespannt von gigantischem Ausmaß, die uns auch schützen davor, das Elend mit ansehen zu müssen.

Und wenn das Kreuz der Elenden, der Flüchtlinge und Hungernden, der Verfolgten und Gedemütigten uns vor Augen geführt wird, dann fällt es schwer, das auszuhalten, dann geben wir zwar gern etwas her zur Linderung. Aber schnell gerät auch wieder in Vergessenheit das Kreuz der Elenden als Mahnung: Seht, wir gehen nach Jerusalem. Unter dem Eindruck des Leids, das uns umgibt, scheint der Glaube manchmal kraftlos, sinnlos.

Die Jünger sehen nichts. Obwohl sie nah dran sind. Und schnell hatten sie, die sie selber aus dem Finstern gekommen waren, vergessen, wie es da ist, in der Finsternis; hatten verdrängt die Kälte, die dort herrschte, die Ablehnung, die Ausgrenzung, die Angst machte. Hatten vergessen auch, dass sie ihm alles verdankten, der sie herausgerufen hatte. Der ein Auge auf sie geworfen hatte. Sie wollten nicht verstehen, dass das alles einmal zu Ende gehen sollte, dass der, auf den sie alle Hoffnung gesetzt und für den sie alles stehen- und liegengelassen hatten, von ihnen genommen werden könnte! Nein: es kann nicht sein, was nicht sein darf!

Jesus nimmt ihnen nicht übel, dass sie nicht verstehen. Er braucht sie, deren Blick noch gehalten ist. Kleinlaute und Euphorische, Blinde und Sehende, Etablierte und Unverschämte, Treue und Überraschende haben in der Nachfolge Jesu ihren Platz, ihren Sinn und ihren Wert. Er lässt sie nicht. Wird nicht müde, sie zu ermuntern:
„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem.“ Also gehen sie weiter.

II
„Es begab sich aber, als Jesus in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als der aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er solle schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 

Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott.“

Der Blinde da am Wegesrand, der sich nicht hat wegdrängeln lassen, der, dem die Nicht-Behinderten gesagt haben, er solle hier den Mund halten, der kann zwar mit den Augen nicht sehen, aber er kann hören und spüren, was Sache ist. Und wie! Seine Sinne sind in einem hohen Maße sensibilisiert für den, der da kommt. Dieser Blinde hatte vernommen das gute Gerücht von Gott und seinem Gesandten, der da bringen will Glück und Heil für die Weggedrängten, für die Kranken und Ausgegrenzten.

Und wieder verstehen die Jünger nichts. Sie wollen den Mann von Jesus fern halten. Der hat – so meinen sie – Wichtigeres zu tun, muss die Welt retten, kann sich doch nicht um jeden kümmern, der da hockt. Das passt nicht ins Bild der Welt der Gesunden.

Ganz bei sich sind die Jünger. Und weil sie den, den sie begleiten, so lieben, schützen sie ihn. Vor allem Argen. Vor aller Last und Belästigung. Jesus ist was Besonderes. Und etwas für Besondere.

Genau, jemand für Besondere. Wie der Blinde ein Besonderer ist. Der hatte was verstanden. Konnte in dem Jesus den sehen, der ihm würde helfen können - konnte sehen trotz seiner Blindheit. Der glaubte und war gewiss: Seine letzte Hoffnung kam da des Weges. Wohl Jahre lang hatte er nicht teilhaben können, mit dem Sinn des Sehens jedenfalls nicht, am Treiben um ihn herum. Hatte nur gehört, das aber sehr genau. War mitten drin im Weltgeschehen. Hatte gelernt, sich mit seinen gesunden Sinnen zu konzentrieren auf das Wesentliche. Sein Sehnen hatte ja nicht aufgehört. Er hört Jesu Schritte. Und er weiß genau, wer da kommt. Der Blinde ergreift die Initiative. Und er tut den Mund auf. Er schreit nach Jesus. Er liegt Jesus in den Ohren.

Das Rufen der Schwachen soll nicht zum Schweigen gebracht werden! Ihre Stimme ist Gott genehm; sie ist dem Sohn genehm, der gekommen ist, das Kranke zu suchen, die Barmherzigkeit denen zu bringen, die der Gnadenlosigkeit der Starken und Gesunden ausgeliefert sind. Die ihm nachforschen, die sich auf den Weg machen, die all ihre Hoffnung auf ihn setzen und sein Wort für wahr halten, sind Jesus nahe.  Die blind mehr sehen als die, die sich für sehend halten.

Dieser Mann lässt sich nicht abwimmeln, beiseite drängeln. Er hat nichts zu verlieren. Und er hat begriffen, wer da vor ihm steht: der Sohn Davids, der, der von Gott gesandt ist, alles neu zu machen. Der, mit dem alles noch einmal anfängt. Der ihm die Augen öffnen kann.

Der Schrei des Blinden ist der erste Schritt der Heilung. Die Psalmen lehren uns diese Haltung – wie der heutige: sei mir ein starker Fels! Der Ruf nach Gott, die Hinwendung zu ihm steht am Beginn des Weges mit Jesus hinauf nach Jerusalem. Dass wir den Mund auftun und Gott suchen, ihm im Ohr liegen: das ist die Bewegung des Glaubens, der sich ausstreckt über die eigenen Wirklichkeiten  hinaus.

„Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ – fragt Jesus den Mann (als ob das nicht auf der Hand lag). Sehen will er, nur, dass es wieder hell werde. "Sei sehend!"

III
„Liebe macht blind“ – sagt das Sprichwort. Aber hier gilt: Liebe macht sehend – Liebe öffnet die Augen! Ja, Liebe macht wache Herzen und Sinne! Die Liebe Gottes entzündet den Glauben, macht, dass wir aus dem Häuschen geraten – macht auch, dass wir aus dem Haus kommen und gehen dorthin, wo das gute Gerücht von Gott laut wird und weitererzählt wird. Das schon ist das Wunder. Der Glaube, der mit Gott rechnet und mit seiner Kraft, die höher ist als unsere Vernunft, öffnet die Augen für die Welt. Sei sehend: Schau hin, wohin diese Welt treibt, was sie braucht. Macht nicht die Augen zu vor der Realität. Seid sehend: Leute, die offen sind für das Leid dieser Welt. Leute, die offen sind aber auch für Gottes Realität in der Welt.

Der Blinde in unserer Geschichte ist ein Störenfried im besten Sinne. Ja, er stört die Szene. Er gibt sich nicht zufrieden mit dem, was alle sein Schicksal nennen. Aber: Der Störenfried bringt Frieden – man staunt: Der Störenfried pries Gott -  „und alles Volk, das es sah, lobte Gott“ auch.
Störung ist erwünscht und nötig, um wahren Frieden zu schaffen. Offenbar ist es nötig, gegen die Betriebsblindheit der Eingeweihten und derjenigen, die sich schon immer mit Jesus auf gutem Fuße wähnten, auf den Impuls von außen zu hoffen. Dass wir es uns nicht zu gemütlich machen im Hause des Herrn. Denn dieser Herr, der Hausherr selber, tritt gelegentlich als Störenfried auf und verscheucht den Weihrauch der Glückseligkeit.  Und macht den Blick frei auf die Welt, die schreit nach Gerechtigkeit und Frieden.
Seht, wir ziehen hinauf nach Jerusalem…

Liebe Gemeinde! In dieser Geschichte löst sich das Rätsel der Worte Jesu an seine Jünger zuvor. Sie bringt seine Verheißung ins Leben: der Blinde hat den gesehen, der den Tod überwinden wird, der den Weg der Barmherzigkeit geht mit allen Konsequenzen. Dem die Schwachen und Elenden so nah und so wichtig sind, dass er auf sich nimmt, was sie mit Blindheit geschlagen und taub und lahm gemacht hat. Da ruft er den blinden Störenfried zu sich, weil er sich nicht zufrieden geben will mit der Logik dieser Welt; weil er gekommen ist, aufzurichten, was gekrümmt ist und daniederliegt. Da wird sichtbar der Gott, der an die Seite der Armen und Elenden tritt und der sich nicht beirren lässt in seiner Liebe zu seinen Geschöpfen. Da gehen die Augen auf, wo er ruft: „Sei sehend“!
„Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.“ 

Wir gehen hinauf nach Jerusalem, sagt Jesus. Der euch sendet, bleibt bei euch. Gott selbst geht den Weg mit – bis zum Kreuz und dann weiter über das Kreuz hinaus.
Das ist, liebe Schwestern und Brüder, das große Versprechen Gottes, das wir uns gesagt sein lassen wollen.
Geh mit auf dem Weg des Glaubens, denn beim Gehen mit ihm wird wachsen und aufblühen das Samenkorn der Hoffnung, das in dir steckt. Sei sehend! Amen.

Datum
10.02.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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