Mythos trifft Wirklichkeit: Die Kirche von Rungholt und ihre Geheimnisse
11. September 2025
Rungholt – seit Jahrhunderten beflügelt dieser 1362 in einer Sturmflut untergegangene Ort die Fantasie der Menschen im Norden. Der Legende nach sei es ein reicher Ort gewesen, aber auch ein Ort, an dem die Menschen ein gotteslästerliches Leben geführt haben sollen.
Ob Rungholt wirklich existierte oder lediglich ein Mythos war, blieb lange Zeit unklar. Im 20. Jahrhundert begann rund um die Hallig Südfall die systematische Suche nach Spuren der einstigen Siedlung.
Auf der Suche nach Spuren im Watt
Doch erst neue Technologien machen seit einigen Jahren gezielte archäologische Untersuchungen möglich. Denn die einstige Auflast der Warftenhügel hinterließ Abdrücke im Wattboden, die noch heute messbar sind und nun nach und nach von Wissenschaftlern erschlossen werden.

Dr. Ruth Blankenfeldt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Leibniz Zentrums für Archäologie (LEIZA) am Standort Schleswig. Seit mehreren Jahren gräbt und forscht sie gemeinsam mit Wissenschaftler*innen der Universitäten Kiel und Mainz rund um die Hallig Südfall nach Spuren der versunkenen Siedlungen.

Die Entdeckung der Rungholter Kirche
Schritt für Schritt wurden Warftenketten und immer neue Siedlungsstrukturen sichtbar – und schließlich wurden 2023 die Spuren einer großen Kirche entdeckt – eine kleine Sensation: „Das war sehr emotional. Mein ehemaliger Chef hatte immer gesagt: ‚Ihr müsst die Kirche finden, dann ist es Rungholt.‘ Als wir schließlich im Messbild die Struktur sahen – Halbrundes im Osten, Eckiges im Westen – war sofort klar: Das ist eine große Kirche. Wir haben an dem Abend tatsächlich mit Champagner angestoßen.“

Neben der großen Rungholter Kirche gab es zahlreiche kleinere Kirchen und Kapellen in der Edomsharde, einem mittelalterlichen Verwaltungsbezirk auf der friesischen Insel Alt-Strand. Das kirchliche Leben prägte den Alltag der Menschen im Mittelalter.
Von der Kirche sind heute nur noch Abdrücke der schweren Steinwände und das Fundament unter dem Turms und unter der Apsis zu sehen, alles andere wurde über die Jahrhunderte weggespült oder abgesammelt und wieder verwertet von den Menschen an der Küste.

Holz war im Mittelalter teuer, also baute man wohl mit Grassoden oder Torf in Kombination mit Holzständern, vermutet die Archäologin. Die Kirche hingegen war ein steinernes Gebäude, vergleichbar mit den heutigen Kirchen auf Pellworm oder in Breklum. „Alles, was nach der Flut noch stand, wurde systematisch abgetragen und wiederverwendet – Recycling war damals selbstverständlich“, so Blankenfeldt.

Während die Archäologin von ihrer Arbeit berichtet, merkt man ihre Begeisterung in jedem Satz. Auch wenn das Graben im Watt mühsam ist, der Weg zur Ausgrabungsstätte kilometerweit durch Watt, Schlick und Priele führt, der Wind stetig bläst und nur bei Ebbe in einem wenige Stunden dauernden Zeitfenster gearbeitet werden kann. „Durch die Funde im Watt spürt man den Menschen hinter den Geschichten. Eine Kirche ist nicht nur ein Bauwerk, sondern ein Raum, der emotional berührt. Und wenn man die Fragmente im Watt findet, wird Geschichte plötzlich greifbar.“

Mit dieser Geschichte beschäftigt sich auch Professor Dr. Oliver Auge von der Abteilung Regionalgeschichte der Universität Kiel. Wenn die Archäologie und die Naturwissenschaften neue Befunde ans Licht bringen, ist es Aufgabe der Historiker, diese in größere Zusammenhänge einzuordnen. „Wir wissen, was in dieser Zeit passiert ist, und können Vergleiche ziehen. Da wir aber sehr wenige schriftliche Quellen haben – Rungholt wird vor 1362 nur ein einziges Mal in einem Testament von 1345 erwähnt – ist diese Zusammenarbeit entscheidend“, betont der Professor.
Leben im mittelalterlichen Rungholt
Vorträge: Prof. Dr. Oliver Auge spricht am 13. September 2025 im Bibelzentrum Barth, 11:30-12:15 Uhr über "Das Pommersche Klosterbuch" und am 14. September 2025 über "Die Rolle der Rendsburger Christkirche im Wandel der Zeit" im Rahmen des Gottesdienstes zum Tag des offenen Denkmals in der Christkirche in Rendsburg, Beginn des Gottesdienstes um 9:45 Uhr.
Auch er hat sich schon vor den Ausgrabungen im Watt mit Rungholt beschäftigt – als Teil seiner Forschung zur mittelalterlichen Kirchen- und Klostergeschichte in Norddeutschland. „Der Alltag der Menschen im Mittelalter war stark von der Kirche bestimmt. Rund 140 Feiertage im Jahr prägten das Leben. Die Kirche war Zentrum und Lebensanker – in Rungholt gab es sogar ein Kollegium von Geistlichen, also mehrere Priester, was auf den Plan zu einer Stiftskirche hindeutet.“
Der Mythos um den Ort entstand jedoch erst nach dem Untergang. „Ursprünglich bezogen sich die Flutsagen auf andere Orte an der Nordsee. Erst später verband man den Namen Rungholt mit diesen Untergangserzählungen. Und in der frühen Neuzeit machte man aus der kleinen Pfarrei eine ‚Metropole‘ mit Hunderttausenden Einwohnern – völlig übertrieben. In Wirklichkeit lebten dort wohl 1000 bis 1500 Menschen. Für die Zeit war das beachtlich, aber natürlich kein Lübeck, was mit rund 20.000 Einwohnern deutlich größer war“, so der Historiker.

Dennoch war Rungholt ein bedeutender Ort mit Hafen und Handel. „Wir haben Gewichte und Waagen gefunden, für uns Archäologen immer ein Hinweis auf einen Handelsplatz. Außerdem importierte Keramik aus Belgien und dem Rheinland, Metallgeräte. Auch ein Gürtelbeschlag mit dem Wappen der Schauenburger zeigt, dass bedeutende Personen dort waren“, erläutert Archäologin Blankenfeldt.
Der Untergang der Siedlung wurde als Strafe Gottes gedeutet – ein gängiges Erklärungsmuster jener Zeit. „Fluten wurden als Strafe Gottes verstanden – wie eine zweite Sintflut. Es gibt Holzschnitte zur Allerheiligenflut von 1570, die genau dieses Bild zeigen: Arche Noah, Regenbogen, Taube. Dass Rungholt unterging, weil die Menschen dort ‚gottlos‘ lebten, ist also eine Deutung aus späterer Zeit“, sagt Prof. Auge.

Das Leben der Rungholter war kurz vor dem Untergang mit Sicherheit kein leichtes, darin sind sich die Wissenschaftler einig. „Durch die Veränderung der Landschaft machte man diese sehr verletzlich: in Rungholt entnahm man obere Schichten um an die fruchtbare Marsch zu gelangen und legte die Landschaft dadurch tiefer. In der Umgebung der heutigen Halligen baute man den salzhaltigen Torf ab und hinterließ eine sumpfige Fläche. Auch war die Bevölkerung von der Pest dezimiert, es fehlte an Arbeitskräften, um die Deiche instand zu halten. Klimatisch herrschte eine kleine Eiszeit: Es regnete viel, was Boden und Deiche aufweichte“, berichtet die Schleswiger Wissenschaftlerin.
Rungholt zwischen Realität und Faszination
Prof. Auge ergänzt: „Die Arbeit in Rungholt war härteste körperliche Arbeit unter widrigsten Bedingungen. Das Leben dort war einfach nass – es regnete viel, und wenn es nicht regnete, war der Boden trotzdem sehr, sehr feucht. Das waren ungesunde Lebensbedingungen. Die Menschen waren damals nicht zur Sommerfrische am Meer.“

Warum Rungholt die Menschen bis heute so fasziniert? Prof. Auge vermutet, weil es die Verbindung aus Realität und Mythos ist. „Ein Ort, der wirklich existierte und unterging – und der zugleich in Sagen, Gedichten und Liedern weiterlebt. Für die Menschen der frühen Neuzeit war Rungholt ein Sinnbild für göttliche Strafe. Für uns heute ist es ein Stück spannender Regionalgeschichte, das durch die Forschung langsam wieder sichtbar wird.“