22. Mai 2022 | St. Petri zu Rostock

Ökumenische Andacht zum Abschluss der Tagung der Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

22. Mai 2022 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen, um zu erreichen, was heute geschieht: ein Volk am Leben zu erhalten. (Genesis 50,20)

I

Am Leben bleiben, irgendwie. Für Menschen in Haft, die in einer Diktatur nicht nur ihrer Freiheit beraubt werden sollen, sondern: ihrer Würde, ihrer Widerstandskraft, ihres Mutes, ihres Menschseins, oder sagen wir: ihrer Seele, wird es im Laufe der Jahre das einzige Ziel. Am Leben bleiben. Körperlich. Seelisch.

Am Leben bleiben: die Dramatik dieser Worte wird wohl vielen von uns aufs Neue bewusst, wenn wir an die gegenwärtige Realität des Krieges in der Ukraine denken. Am Leben bleiben. Bei vielen älteren Menschen rufen diese Bilder leidvolle Erinnerungen an ihr Leben unter zwei Diktaturen wach. Vor zwei Wochen war ich in Warschau, wo man immer wieder auf Spuren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ihrer Vernichtung von Menschenleben trifft. Spuren, die sich tief ins Gedächtnis der Menschen und der Stadt eingegraben haben. Dort sagte ein Mann zu mir: „Nie wieder. Nie wieder wollen wir Opfer von Gewaltherrschaft, Terror und Diktatur werden. Mehrfach haben wir unsere Freiheit erkämpft, wir geben sie nie wieder her. Nie wieder. Auch deshalb darf die russische Aggression keinen Erfolg haben. Nicht bei unseren Nachbarn in der Ukraine und nirgendwo.“

Am Leben bleiben. Körperlich. Seelisch. Ich denke heute stellvertretend für so viele an den Rostocker Walter Kempowski. Er hatte als junger Mann das Urteil 25 Jahre Haft erhalten - eine unvorstellbare, unerträgliche Strafe für einen jungen Menschen, eine Strafe, die er im berüchtigten „Gelben Elend“ in Bautzen absitzen sollte. Dazu das Grübeln, wer ihn wohl verraten hat. Und das Wissen, dass auch seine Mutter Margarete hier in Rostock verhaftet worden war, sein Schuldgefühl, die Angst um ihr Schicksal. Die Stahltür jener Zelle des Untersuchungsgefängnisses, in der seine Mutter hier in Rostock inhaftiert war bevor sie ins Frauengefängnis Hoheneck kam, haben manche von Ihnen an diesem Wochenende vielleicht gesehen. Am Leben zu bleiben, wird für Walter Kempowski auch eine seelische Herausforderung.

II

Am Leben bleiben. Am Leben bleiben, obgleich andere es böse meinen mit einem: dafür steht die biblische Erzählung zu Josef. Er überlebt den Neid seiner Brüder, ihren Verrat und ihren Anschlag auf seine Gesundheit, und auch die Willkür, durch die er eingesperrt wird. Eine wichtige Rolle beim Überleben spielt dabei seine Fähigkeit, Erlebtes zu deuten und so zu Erfahrung werden zu lassen, die bearbeitet und mit der weiter gelebt werden kann.

Josef deutet die Träume des Pharao. Er deutet sie, indem er sie in Beziehung zum Geschehen seiner Zeit setzt. Was die sieben fetten und sieben mageren Kühe in den Träumen des Pharaos bedeuten, kann er nur verstehen, weil er auf seine Umwelt sieht und auf das, was geschieht. Josef denkt langfristig: er versteht die Klimazyklen und deren Auswirkungen auf die gesamte Region und zieht daraus die richtigen Schlüsse, in diesem Fall: den Aufbau eines stabilen Netzes von Bevorratung.

Aber nicht nur diese konkrete Schlussfolgerung sorgt dafür, dass er und viele andere in der langen Zeit der Dürre am Leben bleiben. Sondern vor allem die dahinterstehende Fähigkeit, über den Augenblick hinaus zu sehen und zu denken: So wie es ist, wird es nicht bleiben. Das, was war, wird mein Leben nicht bis ins letzte Bestimmen. Und niemand, auch nicht meinen Brüdern, gestehe ich zu, über mich und mein Schicksal zu entscheiden. Sondern das lege ich allein in Gottes Hand. Auf diese Weise wird Geschichte, auch persönliche Geschichte in die Zukunft hinein offen. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen, um zu erreichen, was heute geschieht: ein Volk am Leben zu erhalten.“

III

Geschichte als für uns Menschen offenen Prozess deuten und verstehen, auch die eigene Lebensgeschichte, und so mit ihr arbeiten und leben, das ist eine anstrengende Aufgabe. Sie erfordert Mut und Widerstandsfähigkeit gegen zuweilen überwältigend klar und einfach daherkommende Modelle historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Zugleich aber kann sie Hoffnung und innere Kraft über gegenwärtiges Erleben hinaus schenken. Einfordern kann man eine solche Haltung nicht, an sie und die ihr innewohnende Kraft erinnern aber sollte man sehr wohl.

Wie gut ist es deshalb, dass es Tagungen wie die Ihre gibt, die zum Nachdenken auffordern über das, was Menschen in der DDR geschah, welches Unrecht Ihnen angetan wurde, was geholfen hat, in einem System von Bedrängung, Unterdrückung und Willkür zu überleben - körperlich wie seelisch - und auch darüber, was all das für Gegenwart und Zukunft bedeutet.

Wir müssen deshalb weiter davon erzählen, wie und wie viele Menschen zu Opfern der SED-Diktatur gemacht wurden und deren Leben gleichwohl genau darin nicht aufgeht. Wir müssen weiter erinnern an die rund 75.000 Menschen, die einzig und allein wegen versuchter angeblicher „Republikflucht“ inhaftiert waren. Wir müssen denen zuhören, die überwacht und denunziert wurden, deren Leben „zersetzt“ werden sollte. Wir müssen denen Gehör verschaffen, die ihre eigenen Lebensträume aufgeben mussten, weil sie ihnen allein aufgrund ihres Bekenntnisses zum christlichen Glauben verwehrt wurden. Und wir dürfen mit Respekt, Anerkennung und Dankbarkeit auf die Wege und weiteren Entwicklungen ihres Lebens sehen, an denen sie uns Anteil geben möchten.

Erzählen und erinnern müssen wir auch, was in der Kirche in der Diktatur geschah. Wer sich nach Wahrheit und Gerechtigkeit sehnt, wird auch wissen wollen, wie Unrechtsbeseitigung in und durch die Kirchen geschieht. „30 Jahre Unrechtsbeseitigungsgesetz“ bedürfen auch eines kirchlichen Kapitels. An vielen Stellen und Orten, so wird es mir immer wieder erzählt, war unsere Kirche ein Raum für Schutz und Freiheit, für offene Worte und freie Gedanken, für vertrauensvolles Miteinander und geschwisterliche Gemeinschaft. Wo aber innerhalb der Kirche Menschen Verletzungen erlitten haben, wo sie Solidarität oder Klarheit vermisst oder sich im Stich gelassen gefühlt haben, muss auch das zur Sprache kommen.

IV

Unrechtsbeseitigung: Wie geschieht das in der biblischen Geschichte von Josef und seinen Brüdern? Nicht so, indem Josef erlittenes Unrecht beiseiteschiebt und so scheinbar aus der Welt schafft. Im Gegenteil: Er schaut es an, erzählt davon, aber lässt sich davon nicht beherrschen. Er stellt sich in den Machtbereich Gottes, dessen weiter Blick ihn inspiriert. Gott will nicht nur ihn am Leben erhalten, sondern ein ganzes Volk. Das von ihm bevorratete Getreide wird zwar nicht freigiebig verschenkt, aber doch über die Grenzen des eigenen Landes hinaus allen Hungernden zugänglich gemacht. Damit das auch für Josefs Brüder möglich wird, sind zuvor Vergebung und Versöhnung nötig. Die aber sind alles andere als einseitig. Und sie werden schon gar nicht einseitig oder vorrangig von denen gefordert, die Diskriminierung oder Verfolgung erlitten haben. Sondern Vergebung und Versöhnung setzen Schuldanerkenntnis, Schuldbekenntnis und Reue der Täter voraus. Ohne sie geht es auch in der Josefsgeschichte nicht.

Auch über 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution, auch 25 Jahre nach Inkrafttreten des Unrechtsbeseitigungsgesetzes ist es nicht zu spät, dass die für Diskriminierung und Verfolgung Verantwortlichen, dass die, die an anderen schuldig geworden sind, sich ihrer Verantwortung stellen, dass sie Aufarbeitung mit ermöglichen, das ehrliche Gespräch suchen und vielleicht auch die Bitte um Versöhnung aussprechen. Ob dann mit Vergebung und Versöhnung geantwortet werden kann, ist ein zu erhoffendes, aber kein vorher festlegbares Ziel.

V

Am Leben bleiben, irgendwie. Körperlich. Seelisch. Nur eines habe seine Seele in der Zeit seiner Haft in Bautzen am Leben gehalten, schrieb Walter Kempowski rückblickend: das Singen von Chorälen. Wenn wir in sie einstimmen, denke ich, erinnern sie uns daran, dass die Geschichte für uns Menschen offen ist und zugleich bestimmt von und ausgerichtet ist auf Gottes Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe. Das ist eine manchmal kaum auszuhaltende und zu begreifende Spannung. Aber eine, aus der Hoffnung und die Kraft dazu wachsen kann, in größter Bedrängnis am Leben zu bleiben - in dem Vertrauen darauf, dass Gottes Liebe uns in aller Bedrängnis, selbst im Tod, festhält und neues Leben schafft - für uns und seine ganze seufzende Schöpfung.

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