23. November 2022 | St. Nicolai, Mölln

Predigt zum 30. Jahrestag der Brandanschläge in Mölln

06. Dezember 2022

Predigt von Bischöfin Kirsten Fehrs zu Matthäus 5, 3-10

Friede sei mit euch.
Gut, dass wir jetzt zusammen hier sind. Allem voran Sie, liebe Familien Arslan und Yilmaz mit Ihren Angehörigen. Gut, dass wir zusammen sind, als Religionsgemeinschaften, die wir uns voller Achtung und Respekt verbunden wissen und dieses Gedenken begehen. Aber natürlich auch Sie als Verant-wortliche in Politik und Gesellschaft, als Mitbürger:innen dieser Stadt – und als Trauernde, die immer noch und immer wieder fassungslos vor dem Grauen der Nacht des 23. November 1992 stehen.
Gut, dass wir jetzt zusammen hier sind, um zu gedenken. Und das heißt ja zuallererst auch: emotio-nal auszuhalten, was letztlich unaushaltbar ist. Zusammen aushalten – weil auch das Zusammenhalt bedeutet. Deshalb führt uns heute Abend über politische, weltanschauliche, religiöse und nationale Grenzen hinweg der Wille zusammen, diesen menschenverachtenden Brandanschlägen vom 23. November 1992 etwas entgegenzusetzen.
„Selig sind die Friedensstifter“ – so fasst die Bergpredigt ihr Gegenprogramm in vier Worte zusam-men. In diesen Kriegszeiten, mit der neuen sinnlosen Gewalt, ganz besonders bedeutsam – und an diesem Ort Mölln allemal. Und so entbiete ich, wie es dem interreligiösen Dialog stets voransteht, zunächst den Friedensgruß. Salam! Shalom. Friede sei mit uns.
„Selig sind die Friedensstifter“ – das ist nicht nur ein schöner Satz. Er ist nichts weniger als ein politi-sches Handlungsgebot. Deshalb hat man immer schon all die Seligpreisungen, die Jesus damals auf dem Berg den Menschen ins Herz gesprochen hat, versucht zu entschärfen, zu bagatellisieren, zu verhöhnen – aber vergessen, vergessen hat man sie nie.
Vergessen, nein, vergessen dürfen wir es nie. Das Grauen und den Hass, der damals in Mölln – und heute ja wieder! – Menschen tötet, verletzt, niedermacht, diskriminiert. Nein, niemals vergessen, aber immer erinnern, das ist unser Auftrag. Nicht nur an Gedenktagen wie heute. Viele unserer Reli-gionen sind Erinnerungsreligionen, ganz unterschiedlich, ja, aber immer da, um zu erinnern, dass das Böse uns nicht in die Ohnmacht treiben darf, sondern wir es zu überwinden haben. Indem wir das Böse beim Namen nennen. Indem wir der Wahrheit – und damit zuallererst den Opfern von Ge-walt und Hass – Würde geben und die Ehre.
Gut, dass wir dies jetzt gemeinsam tun. Denn der 23. November 1992 ist ja nicht vorbei. Er brennt in der Seele. Am meisten natürlich bei Ihnen, liebe Familie Arslan und Yilmaz, die Sie drei geliebte Menschen hergeben mussten.
Yeliz Arslan, 10 Jahre alt. Sie wäre heute 40. Wie würde wohl ihr Leben aussehen?Ayse Yilmaz, 14 Jahre alt. Sie wäre jetzt 44. Was würde sie wohl tun?Bahide Arslan, 51 Jahre alt. Sie wäre heute 81 Jahre alt. Welche Geschichten würde sie erzählen, wenn sie nicht ermordet worden wäre?
Wir alle hier fühlen sie, die Trauer, auch 30 Jahre später. So unendlich furchtbar, dieses Leid. So abgründig diese Gewalt. Und sofort tritt doch neben die Trauer ihre Schwester: die Wut. Die Wut ist mal kleiner, mal größer. Sie fragt, warum jemand sterben muss, die so klein und so schön war oder so mütterlich und so liebevoll. Und sie kann beben und einen niemals in Ruhe lassen, kann unstillbar sein und drängend.
Und so ist auch diese Wut hier im Raum. Das ist das Grauenvolle an diesem Brandanschlag: Dass es eben nicht vorbei ist hinterher. Dass es sich einbrennt und immer wieder kommt. Als wäre es jetzt.
„Selig sind, die Leid tragen“, so heißt es weiter in den Seligpreisungen – und das meint nicht allein das Leid von vor 30 Jahren. Das sind Leid und Schmerz und Trauer und Wut auch von heute. Wir wissen: Die rechtsextremen Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte haben besorgniserregend zugenommen. Rechte Militanz in Wismar, Sehnde, Bautzen und noch an Hunderten weiterer Orte. Er ist real unter uns, der Rassismus und Rechtsextremismus ebenso wie die stillschweigende Hin-nahme von Ausgrenzung, Pöbeleien und Gewalt gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderen Glaubens, anderer Herkunft. Wir wissen, dass all das leider tiefe Traditionslinien in Deutschland hat. Völkisches Denken, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sind seit vielen Generationen in unse-rer Gesellschaft präsent. Immer wieder und immer häufiger bricht diese destruktive Energie hervor, hetzt, zerstört, verbrennt, tötet.
Dagegen, liebe Geschwister, müssen wir immer wieder aufstehen! Wach bleiben! Haltung zeigen und klar „Nein!“ sagen – zu Gewalt und Rassismus. „Nein!“ zu jeder Menschenfeindlichkeit. So sagt es der Schmerz mit wütender Energie genauso wie mit trauernder Fassungslosigkeit.
Selig sind, die Leid tragen, „denn sie sollen getröstet werden“, so heißt es weiter. Trost – das ist nicht Vertröstung, die letztlich wegschaut und den Schmerz nicht fühlt. Nein, Trost beginnt mit echter Anteilnahme. Mitgefühl. Viele Menschen hier in Mölln zeigen es. Und haben es auch gezeigt, als sie die Opfer vor 30 Jahren zu retten versuchten. Sie stehen ein für eine Stadt, die nicht schweigen will, sondern erinnern. Und ja, es macht bisweilen ratlos, wenn Zeichen von Solidarität nicht ankommen – vielleicht in der Tiefe von Schmerz und Entsetzen auch nicht ankommen können. Trotzdem bleibt da der Wunsch: „Sie sollen getröstet werden.“
Nicht vertröstet! Und das bedeutet: Yeliz Arslan, Ayse Yilmaz und Bahide Arslan – sie rufen uns mit ihrer Stimme immer wieder neu in die Verantwortung. Damit Hass und Menschenverachtung nicht ohne Widerspruch bleiben. Damit Menschen bei uns Heimat finden, ganz unabhängig von Nationali-tät, Religion oder welchen Unterschieden auch immer. Wir sind alle gemeinsam verantwortlich dafür, dass Gewalt unterbunden und Menschenrechte geachtet werden. Deshalb stehen wir ein für eine Kultur, die einen 23. November 1992 nie vergisst. Weil nur eine gedenkende Gesellschaft auch eine nachdenkliche und demokratische sein kann.
Und deshalb sollen an diesem Gedenken auch die erwähnt sein, die in und um Mölln diese Verant-wortung mit Worten, Gesten und Taten übernehmen. Und die damit zeigen: Es ist eben nicht vorbei. Der Schmerz nicht und erst recht unsere Verantwortung nicht.
Aber auch die Hoffnung ist nicht vorbei. Die Hoffnung, dass sinnlos getötete Menschen ihre Würde behalten. Niemand kann sie ihnen nehmen, auch kein verbrecherischer Rassismus. Die Hoffnung auf Heilung und auf ein friedvolles Miteinander der Unterschiedlichen – ich will sie mir nicht nehmen lassen. Und ich möchte sie mit Ihnen teilen. So verschieden wie auch wir hier sind.
Wie schwer diese Hoffnung manchmal errungen werden muss, davon können die ein Lied singen, die die Brandnacht überlebt haben. Die bis heute mit diesen furchtbaren Bildern zu leben versuchen. Und das betrifft auch sie, die die Opfer nicht retten konnten. Ich spüre, wie groß die Sehnsucht aller ist, zur Ruhe zu kommen. Frieden zu finden. Die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, die deshalb trägt, weil sie in der Lage ist zu lernen.
Peter Kelm, einer der Rettungssanitäter von damals, singt es so:
„Was lernen wir aus diesem Land, wo ein Kind nicht mehr sicher lebt?
Wo man möglicherweise morgen schon die rechte Hand gegen mich erhebt?
Gegen die Achtung vor dem Nachbarn, gegen die Achtung vor dem Gesetz,
gegen die Achtung vor der Religion. Jeder Mensch hat ein Recht auf Respekt!“
Diese Sehnsucht und unser Zusammenhalt sind stärker als Hass und Gewalt. Daran lasst uns fest-halten. Gemeinsam. So sei der Friede Gottes, der größer ist als jeder Schmerz und höher als alle Vernunft, in unseren Herzen und bleibe uns Ansporn zur Menschlichkeit. Amen.

Datum
06.12.2022
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