Predigt am 1.Christtag 2011 zu 1.Joh 3,1-6 im Dom zu Schwerin

25. Dezember 2011 von Andreas von Maltzahn

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

ein starker Hauch von Kindheit liegt über diesen Weihnachtstagen: In unseren Erinnerungen,  in den biblischen Texten und Liedern dieser Zeit lebt das Kindliche wie selten sonst im Jahr.  Und in Meditationen liest man schöne Sätze wie diese: Wer ein Kind umarmt, schließt die  Augen, vergisst von einem Moment auf den anderen all die Zwänge von  Zeit, Raum und  Realität, löst sich vom Unrecht, begreift etwas von Gottes Blick auf diese Welt und wie unser  Leben darin gemeint sein könnte. . . . Wer ein Kind in die Arme schließt, weiß sich von Gott  umarmt und erfüllt.  

Und unser Predigttext? Der 1.Johannesbrief sagt es auf diese Weise: Seht, welch eine Liebe  hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen  – und wir sind es auch! Aber er setzt hinzu: ES IST NOCH NICHT ERSCHIENEN, WAS WIR SEIN WERDEN.

Wie hören Sie diesen Satz: ES IST NOCH NICHT  ERSCHIENEN, WAS WIR SEIN  WERDEN? Als eine Aussage, in der ein Rest Zweifel mitschwingt,  eine Aussage,  die  uns  davor warnt, uns vorschnell mit dem abzufinden, was ist? Oder als einen Hoffnungssatz voller Möglichkeitssinn, der uns daran erinnert, dass wir noch nicht festgelegt sind – so alt wir auch  sein mögen –, sondern immer noch im Werden begriffen?

Wer sind wir  – und was werden wir sein? Wir persönlich, aber auch als Volk in  dieser  krisengeschüttelten Zeit?

VERKANNT sind wir, stellt der 1.Johannesbrief fest. Die Welt kennt weder uns noch Gott.  Wem wäre das fremd, sich verkannt zu fühlen?  Aber von anderen verkannt zu werden, kann man ja vielleicht noch aushalten. Schwerer ist es schon, mit sich selbst nicht im Reinen zu  sein, SICH SELBST NICHT ZU KENNEN: 

WER BIN ICH? fragte sich Dietrich Bonhoeffer in einem seiner Haftgedichte.
 Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
 Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
 . . .
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Es ist nicht  ein  Mangel an Selbstbewusstsein, der sich in solchem Ringen  mit sich selbst  offenbart. Oft sind es gerade die Aufrichtigen, Unerbittlichen, die sich das Fragen nach sich  selbst nicht abkaufen lassen. Einer der Wahrhaftigsten, der am letzten Sonntag gestorbene  Václav Havel, notierte am 5.Dezember 2005, als er schon nicht mehr tschechischer Präsident  war:

Ich fliehe. Ich fliehe immer mehr. Ich fliehe unter den verschiedensten Vorwänden aus  meinem Arbeitszimmer  . . . hinunter in die Küche, wo ich dann aufräume, Radio höre,  Geschirr spüle, mir etwas koche, über etwas nachdenke oder nur so auf meinem uralten Platz  sitze und aus dem Fenster schaue. In Wirklichkeit fliehe ich vor dem Schreiben. Aber nicht  nur davor. Ich fliehe vor der Öffentlichkeit, fliehe aus der Politik, fliehe vor den Menschen . . .  und hauptsächlich wohl vor mir selber. Wovor fürchte ich mich eigentlich? Schwer zu sagen.  Interessant ist, dass ich, obwohl ich hier allein bin und allein sein werde, niemanden erwarte und auch niemand vorhat zu kommen, ständig das Haus in gehöriger Ordnung halte . . . Also:  es sieht so aus, als ob ich ständig jemanden erwarte. Aber wen? . . . Wie kommt es, dass ich  niemanden sehen will und dabei immer jemanden erwarte? Jemanden, der zu schätzen weiß,  dass alle Dinge an ihrem Platz und richtig geordnet sind? Ich habe nur eine Erklärung: Ich  bemühe mich, allzeit auf das Jüngste Gericht vorbereitet zu sein. Ein Gericht, dem nichts  verborgen bleibt, dass alles, was zu schätzen ist, gehörig einschätzt, und ganz von selbst alles  bemerkt, das nicht richtig ist. . . . Warum aber liegt mir so sehr an der endgültigen  Bewertung? Das alles könnte mir doch egal sein. Es ist mir nicht egal, weil ich davon  überzeugt bin, dass meine Existenz – so wie alles, was je geschehen ist – die Oberfläche des  Seins gekräuselt hat, welches nach dieser meiner Welle, wie nebensächlich, unbedeutend und  vergänglich sie auch war, anders ist als vorher und aus Prinzip für immer anders sein wird. 

ES  IST NOCH NICHT ERSCHIENEN, WAS WIR SEIN WERDEN. Havels  einander  widerstreitende Gedanken und Empfindungen machen deutlich: Das erlösende Wort kann  niemand sich selber sagen. Es muss von außen kommen. Darin ist sich der 1.Johannesbrief  ganz sicher: Auch wenn das Offenbarwerden noch aussteht – Kinder Gottes sind wir. Seine  Wunschkinder, um genau zu sein. Noch verhüllt zwar, aber seine Kinder! Noch werden  unsere Augen gehalten, aber einst werden wir sehen und verstehen, wie Gott ist. Jetzt noch  eingesponnen in einen unscheinbaren Kokon, werden wir eines Tages verwandelt Gott gleich  sein. All das mutet uns der heutige Predigttext zu und erwartet, dass wir uns das sagen lassen!  Wenn also einsames Fragen Spott mit uns treibt, liegt die erlösende Antwort dort, wo Dietrich  Bonhoeffer sie gefunden hat: Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Liebe Schwester, lieber Bruder, lass es dir gefallen, dass Gott dich so sieht! Kind Gottes! Ein  hoffnungsvoller Fall! Von allerbester Herkunft und mit glänzenden Aussichten! Aus  kinderreicher Familie  – der  Gemeinde Jesu Christi, die sich zwar manchmal kindisch und  zänkisch gebärdet, aber immer wieder gehalten und zurechtgebracht wird durch ihren Bruder  Jesus, den Christus. Es mag schmerzen, tut aber nichts zur Sache, wenn man dich verkennt.  Es ist nicht von letzter Bedeutung, wenn sogar du dich über dich täuschst. Lass es dir sagen,  wer du bist, Kind Gottes! In seinen Augen, in den Augen der Liebe wirst du, was du bist – wie es einem Gedicht von Gabriela Mistral heißt:

Wenn du mich anblickst, werd' ich schön,
schön wie das Riedgras unterm Tau.
 . . .
Senk lange deinen Blick auf mich.
Umhüll mich zärtlich durch dein Wort.
Schon morgen wird, wenn sie zum Fluss hinuntersteigt,
die du geküsst, von Schönheit strahlen.

ES  IST NOCH NICHT ERSCHIENEN, WAS WIR SEIN WERDEN.  Das ist für mich  uneingeschränkt ein Hoffnungs-, ein Verheißungssatz: Aus uns kann, aus uns will noch etwas  werden. Wir sind noch nicht fertig, auch wenn diese Welt völlig fertig zu sein scheint. Wir  können und sollen verantwortlich leben, der Wahrheit verpflichtet. 

So müssen wir  uns  zum Beispiel nicht  damit abfinden, wenn heute vielfach in Kirche und  Gemeinde die Strukturen eher auf die Erhaltung des Bestehenden ausgerichtet sind als darauf,  Bewegung zu sein, Kirche, die sich im Leben mit den Anderen inspirieren lässt, das  Evangelium neu zu verstehen. In der jüngsten Propsteibesuchswoche beschrieb jemand sein  Engagement als Ehrenamtliche in der Kirche mit diesem Bild:  nicht ein Museum hüten,  sondern einen Garten pflegen.  Nicht Museum, nicht Hort historischer Kostbarkeiten sind unsere Kirchgemeinden, sondern ein Ort, an dem man erfüllt leben kann. Mittel zum Leben,  „Lebensmittel“ können hier wachsen. Menschen können kommen, in diesem Garten aufleben und lohnende Aufgaben finden. Und es ist vollkommen klar: Der Garten gehört nicht allein uns. Im Grunde ist er für alle da – so wie Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und  sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (1.Tim 2,4). Von daher stellt sich die Frage, wie  offen wir diesen Garten gestalten. Ich finde, er sollte mindestens die Weite eines großen,  englischen Parks haben – ohne abgrenzende Zäune; anziehend, weil zu jeder Jahreszeit etwas  blüht oder zur Reife kommt; mit Sichtachsen, die den Blick freigeben auf das Wesentliche:  Gott als Geheimnis der Welt, Mensch geworden in Jesus von Nazareth, unter uns wirksam  durch seinen Geist.

Liebe Gemeinde, das hat Folgen auch im Blick auf die  Gesellschaft, in der wir zusammen  leben. So müssen wir uns zum Beispiel nicht damit abfinden, dass man die europäische Idee auf eine Fiskalunion beschränkt – so richtig es  sein mag,  auch in Finanzfragen die Verantwortung füreinander strukturell besser zu verankern. Das alte Wachstumsdenken  – Wachstum um des Wachstums,  Gewinn um des Gewinns willen  – hat ausgedient.  Was  Europa heute sein und  für die Welt leisten könnte, um noch einmal mit  Václav Havel zu  reden,  könnte Inspiration sein. Ein Beispiel für den Versuch, nicht nur an die Quantität zu  denken . . ., nicht nur an den augenblicklichen und kurzfristigen materiellen Nutzen . . .,  sondern auch den qualitativen, indirekten und langfristigen Nutzen . . . Beispiel des sinnvollen  und schonenden Umgangs mit den eigenen Traditionen, der eigenen Kultur, der eigenen  Landschaft, den eigenen Ressourcen. Das Bündnis Europas mit den Entwicklungsländern bei  der Klimakonferenz in Durban ist in dieser Hinsicht ein Hoffnungsschimmer.

Alles zu weit weg? Zwei, drei Nummern zu groß? Schwestern und Brüder,  ES IST NOCH  NICHT ERSCHIENEN, WAS WIR SEIN WERDEN.  Wir sind noch nicht am Ende! Es ist  unsere Welt, unsere Gesellschaft, die darauf wartet, dass wir sie verantwortlich mitgestalten.  Gott traut uns das zu. Denken wir nicht kleiner von uns selbst, als Gott es tut.

Was  dazu gehört, sagt der 1.Johannesbrief so: Ein jeder, der solche Hoffnung auf Gott hat,  der reinigt sich. Reinigen wir uns also! Reinigen wir uns von falschen Selbstzweifeln! Lassen  wir uns gefallen, Kinder Gottes zu sein – liebenswert in seinen Augen, zärtlich umhüllt durch  sein Wort. Und wenn unser Herz zu klein ist, das zu fassen – Gott ist größer als unser Herz (vgl. 1.Joh 3,20)!

So geben wir uns aus der Hand und in die Hand Gottes: Wer wir auch sind, Du kennst uns,  Dein sind wir, o Gott.

AMEN.

Und der Frieden Gottes . . .

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