17.10.2021 | Dom zu Lübeck

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis

17. Oktober 2021 von Kristina Kühnbaum-Schmidt

zu Prediger 12, 1-7

I

„Gut, dass ich den Oskar, meinen Hund habe“, sagt der ältere Herr zu mir. „Sonst würde ich mich jetzt wohl einigeln und nur noch selten rausgehen.“ Wir sitzen bei einer Tasse Tee in seinem Wohnzimmer. Vom Fenster aus kann man in den Garten sehen. Ein paar Herbstastern blühen noch tapfer, senden Farbtupfer ins herbstlich welkende Laub. Während er Tee nachschenkt, beginnt er, mir von früher zu erzählen: Von den Kindern, die hier großgeworden sind. Ihren Spielen im Garten, dem Lärm bei Tisch. Dann schwärmt er von den Herbstfeuern seiner eigenen Kindheit: „Die Kartoffeln haben wir direkt in der Glut gegart, dann ein par Tropfen Öl und Salz dazu - einfach wunderbar! Und der Duft vom Pflaumenmus, das meine Frau immer gekocht hat - ich konnte es kaum abwarten, bis es endlich fertig war.“ Vor zwei Jahren ist seine Frau gestorben, sie war lange krank. Die Kinder sind längst aus dem Haus. Ab und an kommen sie mit den Enkeln zu Besuch. Der Raum zwischen uns ist jetzt voller Erinnerungen. „Wissen Sie, da ist eigentlich vieles, was schön war in meinem Leben,“ sagt er nachdenklich. „Vieles, wofür ich dankbar bin. Auch vieles, was ich früher gar nicht als Anlass für Dankbarkeit gesehen habe.“

II

So heißt es im Predigttext aus dem Buch Kohelet:

Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: »Sie gefallen mir nicht«; ehe die Sonne und das Licht, der Mond und die Sterne finster werden und die Wolken wiederkommen nach dem Regen, – zur Zeit, wenn die Hüter des Hauses zittern und die Starken sich krümmen und müßig stehen die Müllerinnen, weil es so wenige geworden sind, wenn finster werden, die durch die Fenster sehen, wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leise wird und sie sich hebt, wie wenn ein Vogel singt, und alle Töchter des Gesanges sich neigen; wenn man vor Höhen sich fürchtet und sich ängstigt auf dem Wege, wenn der Mandelbaum blüht und die Heuschrecke sich belädt und die Kaper aufbricht; denn der Mensch fährt dahin, wo er ewig bleibt, und die Klageleute gehen umher auf der Gasse; – ehe der silberne Strick zerreißt und die goldene Schale zerbricht und der Eimer zerschellt an der Quelle und das Rad zerbrochen in den Brunnen fällt. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Alt werden ist nichts für Feiglinge. Dieser Buchtitel des früheren Fernsehmoderators Joachim Fuchsberger könnte auch eine gute Überschrift sein für den heutigen Predigttext. Denn es sind weniger verlockende als vielmehr mahnende Worte, wenn auch in poetischem Gewand, die uns hier begegnen: Denke an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen. Es werden Tage kommen, die einem nicht gefallen, so heißt es weiter. Klageleute gehen dann auf den Straßen umher, und kostbare Dinge zerreißen, zerschellen, zerbrechen. Der Mensch fährt dahin, der Staub muss wieder zur Erde kommen. Tod und Sterben klingen hier an. Die wenigen Müllerinnen, die kaum noch etwas zu tun haben, und von denen im Text die Rede ist, das sind die wenigen Zähne, die im Alter im Mund verbleiben und die Nahrung kaum noch zerbeißen und zermahlen können. Die Augen können immer schwerer sehen, sehen nur noch finster oder gar blind durch ihre Fenster, die Pupillen hinaus in die Welt. Und die Ängste vor Höhen oder auf Wegen beschreiben, wie es gehen mag, wenn im Alter der Gang unsicherer wird oder man aus dem Gleichgewicht gerät. Kurzum: Im ganzen Text geht es ums Älterwerden, um die Vorbereitung auf das hohe Alter, auf schwindende Kräfte, und in einer Deutlichkeit, die uns in unserem heutigen Lebensgefühl vielleicht irritiert, um Gebrechlichkeit, Sterben und Tod.

III

Der ältere Herr, den ich besucht habe, hat eine andere Perspektive auf sein Leben im Alter. Durchaus mit der Trauer um Verluste wie den Tod geliebter Menschen. Und ebenso mit dem Wissen um die Veränderungen des eigenen Körpers und seiner Möglichkeiten. Aber doch anders, mit Klangfarbender Dankbarkeit. Vielleicht würde er sein Leben eher so beschreiben wie Henning Scherf, der frühere Bremer Bürgermeister. Der hat seine Perspektiven auf das Alter mit den Worten überschrieben: Grau ist bunt.

Scherf benennt auch positive Aspekte des Älterwerden: eine gewisse Gelassenheit, Lebenserfahrung und Weisheit und eine neue Art, aktiv an der Welt teilzunehmen. Neue Formen von Gemeinschaft zu erleben, auch des Zusammenlebens von Alt und Jung. Und mir fallen auf Anhieb gleich eine ganze Reihe Menschen ein, die auch im hohen Alter aktiv und mit Freude am Leben teilhaben, die wichtige Gesprächspartner:innen für Jüngere oder in ihrer Familie sind. Und Dank moderner Zahnmedizin kann man heute auch im Alter vielen Müllerinnen genug zu tun geben…

IV

Trotzdem, zwei Sätze schwirren beharrlich weiter in meinem Kopf herum: Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen. … Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Vielleicht, denke ich, hat schon der nachdenkliche Prediger Kohelet aus dem Ersten Testament mit seinen Worten auf eine Erfahrung reagiert, die uns Menschen über Jahrtausende hinweg verbindet und prägt – und in gewisser Weise auch kränkt, beunruhigt, und traurig macht: Die Erfahrung nämlich, dass diese Welt nicht endet, wenn unser eigenes Leben zu Ende geht.

Weltzeit und Lebenszeit klaffen auseinander, so sagte es der in Lübeck aufgewachsene Philosoph Hans Blumenberg.[1] Und weil das so ist, versuchen wir Menschen mit aller Macht, diesem Leben möglichst viele Möglichkeiten und Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen – eben weil wir wissen, was schon Johann Wolfgang von Goethe seinem Faust durch den Teufel ausrichten lässt: „Doch nur vor einem ist mir bang: Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.“ Aber mit welchen Mitteln wir auch immer versuchen, die Zeit auszukaufen, sie auszuschöpfen, immer wird da dieser uneinholbare Überschuss von Möglichkeiten bleiben, die sich nicht realisieren lassen. Eine Einsicht, die melancholisch stimmen kann.

V

Gegen diese Art der Melancholie empfiehlt der Prediger Kohelet, sich zu erinnern. Nicht nur im Alter, sondern lebenslang, immer wieder: Denke an deinen Schöpfer in deiner Jugend. Erinnere dich daran, dass du ein Geschöpf Gottes bist. Versteh dein Leben in allen seinen Phasen als ein Geschenk, eine Gabe Gottes. Und erkenne, dass dein Leben in Gottes Händen liegt, die es von Anfang an und über deinen Tod hinaus umfangen und halten. Das wird deine Vergänglichkeit zwar nicht aufhalten. Aber es kann Angst und Furcht auffangen – auch vor dem Alter, vor dem Sterben und dem Tod. Denn am Ende wartet der, der dir dein Leben geschenkt hat – mit offenen Armen und voller Liebe.

VI

Bei meinem Besuch im Haus des älteren Herrn war der Tee mittlerweile ausgetrunken. Ich wollte mich wieder auf den Heimweg machen. "Wissen Sie was", sagt er, "der Oskar und ich bringen Sie noch ein Stück". An einer kleinen Weggabelung haben wir uns schließlich verabschiedet. „Seltsam“, sagte er noch, „seltsam, dass mir ausgerechnet jetzt mein Konfirmationsspruch wieder einfällt: Lobe den Herrn, meine Seele und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat. Aber das passt schon, das passt schon.“ Dann dreht er sich um und geht seinen Weg nach Hause.

VII

Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend. Denn der Staub muss wieder zur Erde kommen, wie er gewesen ist, und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Amen.

[1] Vgl. Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt/M 1986.

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