Predigt am Ostermontag, 13. April 2009 im St. Petri-Dom zu Schleswig über Lukas 24, 13 – 35
13. April 2009
Liebe Gemeinde! Eine wunderbare Ostergeschichte haben wir gerade gehört. Zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus. „Da wurden ihnen die Augen geöffnet.“ Der Auferstandene ist der Augenöffner. Sie können ihn erkennen, weil er sich ihnen zu erkennen gibt. Sie können wieder glauben, können aufbrechen, können sich neu auf den Weg machen. Eine Auferstehungsgeschichte.
Und doch anders. Kein Jubel, kein Halleluja, wie wir eben gesungen haben, nichts von der unbändigen Freude darüber, dass Jesus nicht im Tod geblieben ist. Es ist nicht der Ostermorgen, sondern schon irgendwann gegen Abend. Die Worte der Frauen, die „vor Freude und Entsetzen“ vom leeren Grab geflohen waren, hatten sie, den ganzen Tag beschäftigt, ratlos gemacht. Diese Geschichte hat sie so eigentlich erst bekannt gemacht mit ihrer Trauer, mit diesem Verlust, der sie ihre Verlassenheit schmecken ließ.
Sicher: ein Osterspaziergang, aber nicht voller Frühlingsfreude wie Fausts berühmter Spaziergang: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden belebenden Blick…“ Stattdessen ein Spaziergang im Abendlicht. Am Abend eines furchtbaren Tages, voller Rätsel. Merkwürdiges hatten die Frauen berichtet: Zwei Männer mit glänzenden Kleidern, dafür kein Stein mehr und der Leib des Herrn: ein- fach weg. Diese eigenartige Frage „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?“ Und noch geheimnisvoller „Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ Weggegangen wa- ren sie vom Grab – zu den anderen, die zusammen saßen in ihrem Schmerz; „und denen schien es wie ein Geschwätz und sie glaubten ihnen nicht.“ Wieder kein Halleluja – so schnell trocknen die Tränen nicht. So schnell singen sich Glaubenslieder nicht.
Wie mögen sie sich die Köpfe heiß geredet haben da in Jerusalem? Wie groß mag der Schmerz gewesen sein, die Bitterkeit, die Hoffnungslosigkeit? Wo sollten sie jetzt hin? Wo war der Weg? Sie hatten die Schiffe verbrannt, alles hinter sich gelassen – nur wegen Jesus. Und jetzt? Heimatlos, ortlos, trostlos. Kein richtiges Grab, kein Platz, wo man ihm hätte nahe sein können, weinen, Zwiesprache halten?
„Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa zwei Wegstunden entfernt; dessen Name ist Emmaus.“
Unter dem Schock der Trauer marschieren sie los. Irgendwie ist ihnen alles zu viel. Zur Trauer gehört die Sehnsucht nach Abstand vom Schrecklichen. Sich zurückzie- hen, niemand sehen wollen. Sich neu finden. Das ist Trauer. Die wunde Seele sucht den Ort, der sie birgt. Diese furchtbaren Bilder im Kopf, diese Wut und Enttäuschung im Herzen. Wir kennen Emmaus nicht, aber zwei Wegstunden – das ist weit genug, um Abstand zu bekommen. Schon das erleichtert: gehen, sich bewegen, frische Luft. Aber wichtiger noch: Sie reden. Schütten sich ihr Herz aus. Also: Nicht bei sich selbst bleiben mit dem, was nicht in den Kopf will. Nicht bei sich selbst bleiben – enttäuscht und ratlos… Nicht bei sich behalten, was drückt und quält. Nein, die Realität anneh- men, sie zur Sprache bringen, sie im Gespräch durcharbeiten. Die beiden Männer lassen die Vergangenheit nicht einfach hinter sich. Sie machen sich viel Arbeit. Sie graben tief. Sie suchen nach dem Sinn in den Geschichten. Und finden keinen.
Ein Mitwanderer gesellt sich zu ihnen, aber sie sind blind. „Ihre Augen wurden gehalten.“, heißt es im Predigttext. Blind für das Leben, trauerblind. Gut, dass da einer zuhört. Ein offenes Ohr – so wohltuend jetzt, so nötig. Einer, der nicht mit dem Trostpflaster kommt: „wird schon wieder“. Kein Schwätzer, ein echter Zuhörer. Einer, der mit dem Herzen hört. Die richtigen Fragen stellt: „Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt?“ Das weckt den Schmerz auf, aber öffnet auch die Seele. Sie spüren: Der Unbekannte, der Unerkannte, – er sucht nicht nach der Lücke, um endlich seine Meinung zu sagen und die Welt zu erklären. Er geht mit. Nicht nur mit den Füßen. Er will nicht aushorchen, er will teilhaben und mit - teilen. Und dann reden sie, klären ihn auf, worüber die ganze Stadt redet. Erzählen von Jesus von Nazareth, was er getan und geredet hatte; von seiner Vollmacht und davon, wie er ihr Leben verändert hatte. Erzählen, wie die Schwachen aufstehen konnten und wie er die Sünderin und den Sünder angenommen hatte. Erzählen von dieser Liebe, die das Geringe schätzt und das Geknickte aufrichtet; erzählen von dem Licht, das ihnen aufgegangen war über Gott und die Welt; erzählen, wie das nun alles aus ist und, schrecklicher noch, wie die Frauen vom leeren Grab gefaselt hätten und von Engeln.
Jetzt ist alles heraus. Schweigen, Erleichterung. Dann erst spricht der Fremde. Kein Pathos, keine Besserwisserei. Er sagt, wie er die Sache sieht. Er nimmt ihre Trauer ernst. Aber: Er stellt Zusammenhänge her. Lehrt sie das Ganze neu zu sehen. Erin- nert an das Wort Gottes. Lenkt den Blick auf die ganze Geschichte Gottes mit den Menschen. „Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?“ Was da geschehen ist, ist nicht überraschend: alles bekannt aus der Verheißung. Gott war nicht weg. Ihr habt ihn vergessen in eurer Trauer, als er nicht der war, den ihr erträumtet. Ihr wolltet nicht wahrhaben, dass Gott der ist, der er ist. Dass er es ernst meint. Immer schon und auch jetzt.
Da gehen ihnen zum ersten Mal die Augen auf. Dieses verworrene Knäuel von Unglück, Enttäuschung und Verlassen-Werden – es ordnet sich langsam. Bruchstück für Bruchstück fügt sich in das Mosaik.
Spätestens jetzt verstehen wir, dass dieser Spaziergang harte Arbeit ist: Sinnsuche auf dem Weg des Lebens. Das geht nicht allein. Mit-Leiden hilft, nicht sentimentales Mitleid. Einer, der unsere Enge weitet, uns herausholt aus dem Grab und der uns den Blick, der da gehalten ist, heben hilft zum Licht des Tages. Und da kann der Weg nicht lang genug sein, du willst immer mehr hören von dem Unbegreiflichen und doch so Wohltuendem.
Die Sonne sinkt. Der Tag neigt sich. Nein, kein Abschied jetzt von ihrem Weg-Begleiter. Nicht noch eine Trennung. „Bleibe bei uns; denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt.“ Geh nicht, wenn die Nacht kommt, die uns ausliefert den eigenen Gedanken und Zweifeln. Jeder Abend, jede Nacht ein kleiner Tod. Nähe ist wichtig. Ein Abendgebet vielleicht. „Herr, bleibe bei uns.“ Ist das die Sehnsucht nach dem unbekannten Gott? Vielleicht ahnen sie, dass mehr an ihrer Seite ging, als ein fremder Weggenosse? Da hatten sie Dinge gehört, von denen sie am Morgen des Tages gedacht hatten, sie wären hinfällig, sie wären gestorben – wie Jesus. Wie alles in ihnen. Aber nun keimt Leben wieder auf – neu, stark, durch den Tod hindurch. Gedächtnis des Glaubens.
„Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.“ – Da wird der Abend zum Morgen der Erkenntnis, da bricht hinein in das Dunkel der Nacht das Licht des Lebens – wieder einmal. „Da wurden ihre Au- gen geöffnet und sie erkannten ihn.“
Sie erkennen Jesus, weil er sich zu erkennen gibt – derselbe, der er immer war und kein anderer: Brotbrechen, Beten, Tischgemeinschaft halten. „Déjà-vu“ also – und doch mehr: Gewissheit, Vertrauen, Liebe. Du brauchst nichts – du hast schon alles. Christus hat dir schon alles geschenkt. Auch jetzt gibt er dir, was du zum Leben brauchst. Nun wird ihnen klar, was er Tage zuvor gemeint hatte, als er sagte: „für euch gegeben“! Ein Aha-Erlebnis: plötzliches Verstehen, Licht – Aufgehen, Begreifen, Einsehen: Das ist Auferstehung. Darum musste das Grab leer sein. Darum war es kein Geschwätz, was die Frauen erzählten.
Sie spüren, wie die Worte dieses scheinbar Fremden ihre Augen geöffnet hatten. Wie ihre Herzen wieder brannten, als er sagte und tat, was sie wieder und wieder gehört und gesehen und geschmeckt hatten, und was doch immer wieder in Vergessenheit gerät.
Wie schnell verlöscht das Feuer des Glaubens angesichts der Realität dieser Welt. Wie sehr brauchen wir fremde, vertraute Worte, die uns wieder und wieder sagen, was Gott verheißen hat: Siehe, ich bleibe bei euch bis an das Ende der Welt. Wie sehr brauchen wir Augenöffner, damit wir die Welt nicht nur so sehen, wie sie ist, sondern auch so, wie sie sein könnte und sollte.
Wie leicht vergessen wir Gott und wie sehr brauchen wir das „Déjà-vu“, in Brot und Wein. „Er zog mit uns in wechselnden Gestalten, uns sehr vertraut, uns völlig unbe- kannt. Zuweilen konnten wir sein Bild behalten, im neu gewordenen sahen wir den alten, und seltsam hat in uns das Herz gebrannt.“ So heißt es in einem Text von Klaus Peter Hertzsch, der den Osterglauben auf den Punkt bringt. Ostern meint: dass wir uns verwandeln lassen von der Verheißung, die über jeden Tod und jede Nacht hinausgreift. Er, unser Gott, bleibt, der er war und an unserer Seite bleibt er.
Immer noch wissen sie nicht, was genau eigentlich geschehen ist. Aber dass der Herr an ihrer Seite ging, weiter geht: das glauben sie fest. Und nun, mit neu brennendem Herzen kennen die Jünger keine Ruhe. Nicht die Ruhe der Nacht – nein: Auf-bruch, Auf-erweckung. Das Leben liegt vor ihnen wieder. Was für ein Aufstand mitten in der Nacht. Der für sie gestorben ist, bringt sie neu auf die Beine. Nun nehmen sie ihren Lebensfaden wieder auf, kehren um – dahin, wohin Jesus sie gebracht hatte. Wieder nach Jerusalem, zurück zu den Freunden. Neuer Aufbruch aus dem Vertrauten hin nach Jerusalem, zurück zu den Freunden. Weitergeben das, was sie empfangen und gesehen hatten: „Er ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.“
Gestärkt an Leib und Glaube, gestärkt nach dem Mahl heißt es jetzt: Zurück zum Schauplatz des neuen Lebens. Zurück zum Schauplatz des Kreuzes - dieses so überraschenden, so unglaublichen Sieges über den Tod. Die Welt ist immer noch der Ort des Kreuzes.
Natürlich ist die Trauer nicht weg. Natürlich bleiben die Opfer von Gewalt und Hass. Natürlich bleibt die Ratlosigkeit angesichts von Krieg und Terror. Das Kreuz in dieser Welt löst sich nicht in Wohlgefallen auf. Aber die, die den Herrn erkannt haben, denen die Augen aufgegangen sind: sie sind andere geworden, sehen anders auf die Welt.
Sie sagen weiter, was verheißen ist. Sie glauben Gott nicht bei den Toten, sondern im Leben! Inmitten von Trauer und Angst der, der mit uns geht, der immer noch und immer wieder über allen Tod hinaus bei uns ist.
Wenn es Abend wird: Er speist uns. Wenn wir nicht weiterwissen: Er stellt die richtigen Fragen und gibt Antwort. Wenn wir nichts mehr sehen: Er öffnet uns die Augen und gibt sich zu erkennen. Osterwege sind oft sehr lang – viel länger als die zwei Stunden nach Emmaus. Nicht immer kommen dabei zündende Ideen. Aber immer wieder gibt es Begegnungen, in denen Gott an unserer Seite geht. Unerkannt zunächst, aber real – im Wort, im Brot. Und: „Brannte nicht unser Herz in uns…?!“
Amen.