6. März 2022 | Hauptkirche St. Michaelis zu Hamburg

Predigt am Sonntag Invokavit

06. März 2022 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Hebräer 4,14-16

Liebe Gemeinde,

als wir uns vergangene Woche in St. Petri zum ökumenischen Friedensgebet versammelten, da stand ein kleiner ukrainischer Engel vor der Tür. Ein Mädchen, vielleicht zehn, elf Jahre alt, das mit seiner Familie für den Frieden unterwegs war. Mit weißem Tüllrock und großen gefiederten Engelsflügeln stand sie da, einen Blumenkranz im Haar – und dicke schwarze Lederstiefel an den Füßen. Stiefel, die mich angesichts der Situation unwillkürlich an Soldatenstiefel erinnerten, was sie natürlich nicht waren. Vielleicht ist Ihnen die Kleine auch aufgefallen, sie war später im Hamburg-Journal zu sehen.

Ein Engel am Eingang zum Friedensgebet. Ein Engel mit der Leichtigkeit des Himmels, und zugleich fest und sicher geerdet. Ein Engel auch, der seine Tränen nicht zurückhalten konnte, weil die Trauer der anderen ihn so berührt hat. Eindrücklicher und bewegender könnte man den Predigttext aus dem Hebräerbrief wirklich nicht auslegen. Ein Engel an der Kirchentür, der als Bote aus der himmlischen Welt den Verstörten in dieser Welt vom Frieden kündet wie der Weihnachtsengel: Friede auf Erden! Und: Fürchte dich nicht!

Dem man zugleich ansah: Das ist kein naiver Träumer, kein Leichtgewicht, dieser Engel kennt Schmerz und kalte Füße und schlammigen Boden. Er kündet vom Frieden und weiß von Gefahr. So ein Engel stand da an der Kirchentür und schien zu sagen: Hierher könnt ihr kommen mit eurer Angst und Verzweiflung, mit eurer Wut und euren Tränen und eurer Sehnsucht nach Frieden.

Hier, hinter der Kirchentür in diesem heiligen Raum, könnt ihr erleben, wie der Frieden des Himmels und die Aufgewühltheit der Seelen sich berühren, wie es Frieden wird, wenigstens einen Moment lang. Frieden inmitten der schlaflosen Unruhe. Und wir haben es erlebt, anrührend, wie Gebet und Gemeinschaft der Brutalität des Krieges für einen Augenblick die Übermacht genommen haben. Im Kyrie eleison waren wir vereint. Im Ruf um Gottes Erbarmen trafen sich Christinnen und Christen aus Ost und West, Menschen allen Alters und unterschiedlichster Herkunft, trafen sich die ukrainische Generalkonsulin und der russische Kirchenmusiker. Alle waren wir von Spannungen durchschüttelt und zugleich vor dem Altar im Gebet versöhnt und verbunden.

„Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“ Ja, wir haben sie jetzt nötig. Hilfe und Gnade und Barmherzigkeit. Wir, aber vor allem auch die Menschen in der Ukraine, die einem völlig unvertretbaren, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ausgesetzt sind und standzuhalten versuchen. „Wir lieben unser Land. Und wir lieben unsere Freiheit. Mehr als unser Leben.“ So hat es Iryna Tybinka vor einer Woche gesagt, die ukrainische Generalkonsulin. Und sie brauchen wirklich Hilfe und Solidarität jetzt, gelbblaue Fahnen und Tausende in den Städten Europas, die gegen diesen Krieg Putins und für den Frieden demonstrieren. Sie brauchen Anteilnahme, Medikamente, Unterkunft, Zuflucht und Hilfsbereitschaft und, ja auch dies: praktische Hilfe zur Selbstverteidigung.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen ging: Vergangenen Sonntag bei der Rede des Bundeskanzlers, als er die Waffenlieferungen ankündigte, hat es mich förmlich zerrissen. Als Friedensbewegte der Achtzigerjahre lehne ich Waffen und Krieg ohne Einschränkung ab, aus tiefer innerer Überzeugung. Aber kann und darf ich mich hier wirklich der Solidarität verweigern? Und zwar der Solidarität mit einem Volk, das sich täglich immer brutaleren Angriffen ausgesetzt sieht: Raketen auf Wohnhäuser, Bomben auf Schulen und Krankenhäuser, belagerte Städte. Ein Volk, das mit einem Despoten kämpft, der vernichten will und jede Grenze verletzt, auch die des Anstands. Der jedes Menschen- und Völkerrecht mit Füßen tritt und Verhandlungen missachtet.

Wir können sie nicht allein lassen, die Menschen in der Ukraine, die sich mit enormer Widerstandskraft diesem irrsinnigen und machthungrigen Diktator entgegenstellen. Die sich mutig auch mit Straßendemonstrationen zeigen und deutlich Wirkung erzielen. Die dabei nicht nur für ihr Land kämpfen, sondern auch einstehen für eine Friedensordnung in Europa, die Spannungen abzubauen und die Demokratie zu schützen sucht. Ehrlich beeindruckt von den Ukrainer:innen und voller Respekt frage ich zugleich: Können die Waffen zur Verteidigung angesichts der militärischen Übermacht Putins wirklich zu Frieden, zu Gerechtigkeit verhelfen – oder zumindest zur Abschreckung? Ist nicht trotzdem die Gefahr sehr groß, dass noch mehr Städte in Grund und Boden zerbombt werden, noch mehr Menschen sterben – so wie in Tschetschenien? Gott, was für ein furchtbares Dilemma. „Lasst uns hinzutreten zum Thron der Gnade“, denn wir werden schuldig – so oder so. Entweder wir wehren dem Unrecht nicht und lassen die Schwächeren im Stich. Oder wir handeln gegen mindestens einen Teil unserer Überzeugung und riskieren weiteres Leid und Eskalation.

In den letzten Tagen habe ich unruhig geschlafen, viel von meinen Eltern geträumt. Nicht von ungefähr, denke ich: Meine Mutter war Kriegsflüchtling. Geflohen – wer weiß mit welchen Qualen – aus Hinterpommern, im harten Winter 1945. Mein Vater, er wäre in diesen Tagen 115 Jahre alt geworden, hat gar zwei Weltkriege überlebt. Am Körper, aber auch an der Seele sichtbar versehrt. Ich erinnere mich noch, wie erschrocken ich als Kind war, die tiefen Narben von Schusswunden zu sehen. Was Menschen einander antun können! Das habe ich ganz früh begriffen und verinnerlicht. Pazifistin von Kind an, wenn man so will. Wie viele in meiner Generation. Friedensbewegt mit „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Schwerter zu Pflugscharen“.

Und schließlich das uns alle prägende Bekenntnis des Ökumenischen Rates der Kirchen nach 1948: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Nie wieder! Und am 24. Februar 2022 geschieht genau dies: Ein Riss geht durch die Weltgeschichte, der uns auch innerlich zerreißt.

So gestimmt höre ich die tröstlich-klare Botschaft des Hebräerbriefs: „Lasst uns festhalten an dem Bekenntnis!“ Lasst uns festhalten daran, dass Gott Leben geschaffen und Frieden gewollt hat auf dieser Erde. Für alle. Lasst uns festhalten daran, dass es friedliebende Menschen gibt überall auf dieser Welt, auch in Russland. Sie, die dort aufstehen mit dem Mut der Verzweiflung und einen hohen Preis zahlen. Lasst uns festhalten daran, dass Menschen nicht zu Feinden werden sollen und erliegen wir nicht der Verführung, den Hass in unser Herz zu lassen. Lasst uns festhalten daran, dass Wunden auch wieder heilen können und Versöhnung möglich ist. Lasst uns daran festhalten und dafür einstehen, liebe Christenmenschen.

Weil es ja Christus zuerst ist, der dafür steht. Er, der alles Menschliche kennt, die höchsten Höhen der Liebe und erst recht die tiefsten Tiefen des Schmerzes. „Denn wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden an unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.“ Christus, der das Böse kennt und im Evangelium mit dem Teufel ringt, er überwindet schließlich das Böse mit dem Guten. Er ist die Gegenkraft gegen jede Verfeindung. Ein Hohepriester des Mitgefühls, der fest an unserer Seite steht, komme was da wolle.

Tja, und so stand er da, der kleine Engel mit seinen schweren Stiefeln. Bereit, mit uns durch dick und dünn zu gehen. Ein Bote des Friedens, der sich auskennt in unwirtlichem Gelände. Der etwas weiß von der Unvereinbarkeit zwischen Friedenssehnsucht und realem Krieg. Der von unserer Angst weiß und von unserer Wut. Aber auch von unserer Entschlossenheit, anderen beizustehen und Zuflucht zu bieten.

Das Himmelswesen, das uns zugleich himmelt und erdet, will uns auf Händen tragen, so wie es der Psalm 91 eingangs wunderschön in Worte gefasst hat. Er will uns tragen, dass wir uns nicht immer an uns selbst stoßen. Tragen, und sei es über zerbrochene Brücken. So stellt der Hebräerbrief sich das vor. Dass so Zerrissenes heilen kann. Versöhnt zum Frieden, den inneren wie äußeren.

„Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade.“ Luther übersetzte es einst mit „Freidigkeit“, also „Freimut“. Das trifft es für mich gut, die ich merke, wie mein Glaube mir in dieser Zeit hilft. Glaube als zuversichtliche Haltung, die frei heraus sagt, was ist. Die der Realität des Bösen in die Augen sieht und Unrecht Unrecht nennt. Eine Zuversicht, die hilft, Ängste an- und auszusprechen, auch die Angst vor dem, was noch alles kommen könnte. Ja, wir sind bedroht – aber wir sind auch mit Christus. Und können festhalten am „freimütig“, am freien Mut der Zuversicht.

Und so beten wir für den Frieden, glauben wir für den Frieden, handeln wir für den Frieden – und gehen auf die Straße für den Frieden. Zehntausende fanden sich allein gestern am Jungfernstieg ein, viele von Ihnen waren dabei. Was für ein starkes Zeichen des Zusammenhalts. Wir haben damit gezeigt, was wir glauben: dass wir der Angst nicht das letzte Wort lassen. Dass am Gnadenthron Recht gesprochen wird. Dass der schwache und gemarterte Jesus – wir gehen ja gerade in die Passionszeit hinein – dass dieser Jesus, der auf das Kreuz zugeht, uns als auferstandener Christus Leben verheißt, das unauslöschlich ist. Leben, das kein Krieg zerstören und keine Angst zerbrechen kann. Lasst uns daran festhalten! An seinem Frieden, höher als alle Vernunft. Der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen
 

 

Datum
06.03.2022
Quelle
Kommunikationswerk der Nordkirche
Von
Kirsten Fehrs
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