DOM ZU RATZEBURG

Predigt anlässlich der Bischofskonferenz der VELKD in Ratzeburg

20. März 2011 von Gerhard Ulrich

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen. Gott sei Dank, liebe Schwestern und Brüder, sind uns Worte gegeben, die bergen, was uns sprachlos zu machen droht! – So habe ich eben gedacht und gespürt, als wir miteinander sangen, den Psalm beteten, uns zusammen banden im Hören des Wortes! Welch ein Geschenk, habe ich gedacht, in dieser Zeit, die uns umtreibt, verwirrt, ängstet: da ist noch eine andere Dimension der Welt, des Lebens. Da ist nicht nur Untergang, da ist auch verheißene Überwindung, Rettung. Da sind nicht nur wir: da ist auch Gott.

„Gedenke, Herr, an Deine Barmherzigkeit und an deine Güte,
die von Ewigkeit her gewesen sind!
“Das Leitwort aus dem Psalm 25, nach dem der heutige Sonntag Reminiszere benannt ist, will ich Gott, dem Herrn über Himmel und Erde, geradezu in´s Ohr schreien!

Seit Tagen tobt die Apokalypse in Japan. Bilder beherrschen unsere Köpfe und Sinne, und machen Angst und Schrecken. Da hat sich die Erde aufgetan. Die gewaltige Flutwelle hat alles mitgerissen, was nicht Halt finden konnte. Menschen, Straßen, Häuser, Schiffe: Nichts ist mehr wie vorher.
Menschen irren umher, suchen verzweifelt die Ihren – und Spuren des eigenen Lebens: verschüttet, verschwunden. Ihre Welt ist untergegangen. Und wir sind mit unseren Ängsten ganz dort bei den Menschen und ganz bei uns selbst. Das bleibt nicht fern, was da geschieht.
Und diese entsetzliche Stille über den Bildern, diese Stille!

Atommeiler bersten, Kettenreaktionen sind nicht beherrschbar. Was wir verharmlosend „Restrisiko“ zu nennen pflegten, ist Realität geworden. Alle drei Katastrophen zusammen führen uns vor Augen die Zerbrechlichkeit der Schöpfung, des Lebens. Und die Grenzen unserer Macht. Und die Hilflosigkeit. Die Unverfügbarkeit allen Lebens bedeutet auch: es gibt keine Sicherheit – auch nicht hoch technologisch, erst recht nicht so.

Und: dahinter, daneben: es ist Krieg in Libyen. Bomben fallen, Menschen sterben, die sich auf den Weg gemacht hatten, die Freiheit, das Leben zu suchen. Und die dabei beschossen worden sind von dem Diktator Gaddafi und seinen Truppen.

Reminiscere – sieh doch an: die Not Deiner Menschen, Gott; sieh doch an das Grauen in Japan! Sieh doch an die entfesselten Gewalten, die Tod und Schrecken verbreiten! Und sieh’ nicht vorbei an denen, die in Freiheitskämpfen beschossen, verjagt, getötet werden. Mach End´, o Herr, mach´ Ende – gedenke an Deine Barmherzigkeit und an Deine Güte!

Die Erde hat sich aufgetan, das Beben hat entwurzelt das Leben von Millionen Menschen. Und jenen, die nicht in den Abgrund gestürzt sind, ist das Vertrauen versunken: das Vertrauen in die Technik sowieso; das in die verantwortlichen Politiker wohl auch. Aber auch das Zutrauen in die Macht des Lebens ist erschüttert. Und das Vertrauen in Gott, den Schöpfer aller Dinge! Wo bist du, Gott des Lebens, in all dem Chaos?! Nichts, worauf Verlass schien, ist noch verlässlich.

Ein Fernsehbild der letzten Tage lässt mich nicht los:
Katastrophenhelfer haben irgendwo in einem Lager ein Zelt aufgebaut und darin Telephone geschaltet für Menschen, die auf der Suche sind nach denen, die zu Ihnen gehören.
Eine Frau wählt eine Nummer – und wartet auf Antwort. Und nichts geschieht. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter, die Lippen formen Bitten: melde dich, geh ran. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Abgerissen die Kommunikation. Abgerissen die Verbindung ins Leben. Nicht zu sehen. Nicht zu begreifen.

„Gedenke, Herr, an Deine Barmherzigkeit und an deine Güte,
die von Ewigkeit her gewesen sind!“
Nichts bleibt als dieser Schrei. Nichts bleibt, als dass wir den Mund auftun und laut werden lassen die Klage, die Wut, die Angst. Und dass wir Gott im Ohr liegen. Nur, wenn die Not konkret ausgesprochen wird vor Gott, kann Befreiung, Überwindung sich zeigen.
 Sende aus, Gott, Deinen Heiligen Geist, der stärkt und tröstet, der aufrichtet und wieder Mut macht denen, die niedergeschlagen sind. Den zerschlagenen Herzen hilf´ Du auf, Gott; und mache stark die, die kommen und helfen und aufräumen und trösten. Sieh´ doch alles an, Herr – da ist der Teufel los; also mach auch Du, Gott, Dich los!

II
Es gibt ihn, diesen Schrei nach Leben, es gibt ihn diesen Schrei des neugeborenen Kindes nach Luft. Genau so kann der Glaube ringen nach Luft, ringen um Worte dann, wenn es einem die Sprache verschlägt.
Wenn ich höre die Hiobsbotschaften aus Japan und wenn ich sehe die Bilder von der Trümmerwüste, die der Tsunami hinterlassen hat, dann verschlägt es mir tatsächlich die Sprache. Weil: natürlich werden die Lebens-Ängste hier geweckt angesichts der bedrohlichen Technik um uns herum. Und diese Ängste werden laut und müssen sich verdichten in Forderungen nach Umkehr - nicht nur in Mahnung. Aber im Vordergrund stehen doch die, denen die Welt untergegangen ist ganz real und jetzt. Und die ausgesetzt sind unmittelbar der Tod bringenden Macht. Dies ist, finde ich, nicht die Zeit für politische Taktiererei oder für triumphales „Siehste“! – Rufen. Dies ist Zeit für Demut – die einzige angemessene Haltung angesichts der vielfältigen Katastrophe. Demut vor dem Leben und Demut vor dem Leid. Demut ist die Haltung, mit der wir uns selbst zurück nehmen, Einsicht wagen in die Macht, die höher ist als unsere Vernunft.

Aber dennoch, liebe Schwestern und Brüder: Auch wenn der Teufel los ist – Angst und Schrecken sollen nicht herrschen! Gewiss, Angst und Schrecken sind da – aber herrschen, die Oberhand behalten, sollen sie nicht. Angst und Schrecken wollen wir teilen, das ja, und wir teilen all das miteinander auch dadurch, dass wir Angst und Schrecken konfrontieren mit Gottes Aufstand gegen die Mächte es Todes! „Gedenke, Herr, Deiner Barmherzigkeit“! Es ist die notwendige Fluchtbewegung des Glaubens – weg von dem Gott, der sein Antlitz verborgen zu haben scheint und der die Verbindung zu sich gekappt zu haben scheint – hin zu dem Gott, der sich seiner Schöpfung unverbrüchlich versprochen hat: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ (Genesis 8, 22 ff.)

Wenn es hier unsteuerbar geworden ist, wenn Leid und Todesmacht ihren Lauf nehmen, dann ist da nicht nichts. Dann ist da der, der mit seinem Geist des Lebens, mit dem er der Schöpfung Atem gegeben hat, Leben steuert auch in seiner Bedrohung. Auch angesichts des Todes. Auch angesichts der Abgründe. Was uns entgleitet, ist ihm in die Hand zu geben. Anschluss suchen und finden bei ihm und seinem Wort. So, wie es seit Jahrtausenden unsere jüdischen Glaubensgeschwister taten und tun mit dem Gebetbuch der Bibel, den Psalmen: „Gott, der du die Erde bewegt und zerrissen hast, heile ihre Risse, denn sie wankt! … Schaffe Du uns Beistand in der Not … Mit Gott wollen wir Taten tun.“ (Psalm 60) Das ist es, was von Anbeginn der Geschichte der Menschen mit ihrem Gott uns gegeben ist, was uns verbindet über Zeiten und Entfernungen, über Kulturen und Erfahrungen; in Ängsten, in Not und in Hoffnung zugleich: dass wir vor Gott bringen, was auf uns lastet; dass die Verlassenen sich auf ihn verlassen mögen – trotz allem. Dass wir in ihm glauben die einzige Macht über Leben und Tod.

Ich will nicht davon lassen, dass ich auf Gottes Allmacht und Liebe vertraue. Auf was denn sonst? Ja, es gibt sie, diese Frechheit des Glaubens, in der ich Gott festlege auf das Versprechen, das er selbst gegeben, nämlich treu und gerecht zu sein und zu bleiben immer und ewiglich.

IV
Wir können gleich den Chor singen hören, unsere Herzen und Sinne für Gott und sein Wort zu öffnen.„In jeder andächtigen Musike ist Gott in seiner Gnaden Gegenwart“ – so schreibt es Johann Sebastian Bach in seine Lutherbibel, die er zum Komponieren benutzt hat. In der Musik, Atem des Glaubens, begegnet die Gnade Gottes, sind wir hinein gesetellt in den Kraftstrom des Geistes – ein Kraftwerk erster Güte. So hören wir gleich aus „Jesu, meine Freude“ vertonte Worte aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes. Es gibt ihn, diesen Übermut des Glaubens, der nicht übermütig ist gegen die Realität der Welt – sondern der trotz allem und immer wieder hineinspricht oder hinein singt die Realität Gottes in die Realität der Welt.

Diesen Glauben, liebe Schwestern und Brüder, finde ich wieder in dem Text des Apostel Paulus aus dem 8. Kapitel des Römerbriefs und ich finde ihn wieder in J. S. Bachs wunderbarer Motette „Jesu, meine Freude“: „Es ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind.“ Oder: „Weg mit allen Schätzen! Du bist mein Ergötzen, Jesu meine Lust!“ – Welch eine Verheißung, welch eine kraftvolle Glaubens-Klarheit, die nicht im Zweifel stecken lässt den Suchenden. Radikal und kühn sind die Gedanken, die Paulus seiner Gemeinde in Rom übermittelt: Ihr seid verwandelte Leute, neu. Nicht mehr in Gefangenschaft. Nicht länger unter dem Gesetz, das euch die Erfahrung vermittelt, klein zu sein. Nicht dem Tod seid ihr ausgeliefert. „Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“ Eine notwendige Kurskorrektur in den Ängsten, die uns lähmen.
Nach Paulus gilt, dass die Lebenswende schon vollzogen ist, die Freiheit der Kinder Gottes ist schon erworben, der Herrschaftswechsel weg von der Macht des Todes, hin zu der Macht des Lebens ist schon geschehen! „So ist nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.“ In ihnen – in den getauften Christenmenschen – wohnt Gottes Heiliger Geist; und wir sollen ihn bloß nicht von uns aus wieder aus dieser Wohnung vertreiben und zu einem Wohnungslosen machen!

Das ist mir wichtig und eine Hilfe in diesen Tagen: mich zu erinnern, wes Geistes Kinder wir sind, welcher Geist uns treibt: der Geist des Lebens und des Friedens. Zu erinnern, wer und was Macht über unser Leben beansprucht. Das ist der Geist der Liebe, der uns an die Seite derer stellt, die alles verloren haben und nicht wissen, wohin. Der eine Geschwisterschaft der Solidarität erbaut über alle Grenzen hinweg der Kontinente und Kulturen und Religionen; der teilen lässt, was wir zum Leben haben mit jenen, denen nur wenig geblieben ist; dass wir Ängste teilen aber auch unsere Hoffnungen! Der Geist stellt uns an die Seite derer, die aufstehen gegen die Gewalten ihrer Herrscher und eintreten für Freiheit und Recht. Und er treibt uns an die Seite derer, die anfangen aufzuhören, auf Techniken zu setzen, deren Rest-Risiken ganze Teile dieser Erde unbewohnbar machen können.

Das ist der Geist, der unterscheiden lehrt das, was dem Leben dient von dem, was es bedroht immer neu. Das ist der Geist, der loslassen hilft alles, was bindet und der festhalten lehrt an den Verheißungen unseres Gottes, der sich seiner Barmherzigkeit und Güte erinnern wird – auch jetzt.Nein, diese Leitung ist nicht unterbrochen, hier gibt es Anschluss. Wenn wir Verbindung suchen, dann wird Verbindung, dann antwortet ER, dann singt es vielleicht am anderen Ende mit Johann Sebastian Bach, singt uns Rettung, singt uns Heil: „…Weg mit allen Schätzen, du bist mein Ergötzen, Jesu, meine Lust!...Elend, Not, Kreuz, Schmach und Tod soll mich, ob ich viel muss leiden, nicht von Jesus scheiden!“

Einer ist da, der uns hört, der uns sieht in allem Elend, aller Ratlosigkeit. Der redet. Der dem Tod nicht das letzte Wort überlässt. Und der lehrt, aus Erfahrungen zu lernen, dass der Mensch sich nicht überheben solle; dass der Mensch ein fehlbarer Mensch bleibe – und Gott allein den unfehlbaren Gott sein lasse!
Darum, so der Apostel Paulus, sind wir frei, weil dieser Glaube uns frei macht, anders zu leben, mit dem Erschrecken lebend auf die Suche zu gehen nach dem, was dem Leben dient, Wege der Liebe zu gehen, nicht des Todes. Umkehr nennt die Bibel das. Umkehr zum Leben. Zum Leben, das sich speist aus der Hoffnung, die lebendig geworden ist in Christus selbst: „So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.“ In ihn dürfen wir uns fallen lassen, hinein geben in die Melodie des Glaubens, der immer ein „Trotzdem“ singt, von Freude angesichts des Leides, von Überwindung. Und zwar mittendrin. „Der Glaube ist ein Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist“, sagt ein Afrikanisches Wort.

Also: Umkehr zum Leben im Geist ist möglich für uns verstörte Gotteskinder: nicht also Flucht aus der Welt, sondern hinein in die Welt, hinein in die Schrecken, hin zu denen, die im Finstern wandeln und über Trümmer stolpern. Das heißt auch: Sehen inmitten der Todeskreuze auch das Kreuz Jesu. Sehen den, der überwindet.
Wir gehen ja zu auf den Tag als zu Jesu Todesstunde die Erde bebte, wie das Evangelium erzählt, als auch die Erde ihren Schlund aufgerissen hatte, um zu verschlingen Gottes Sohn. Der Geist Gottes, diese Lebenskraft, ist bei denen, die hineinsehen müssen in den Abgrund. Der Glaube in dieser Geisteskraft kann aushalten und kann weiter suchen die Verbindung zur Quelle. Der Glaube ist ein Suchdienst, der findet!

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