Predigt im Festgottesdienst anlässlich des 50-jährigen Jubiläums
22. Mai 2025
Ps 36, 6-10
Liebe Festgemeinde, liebe Freundinnen und Freunde des Ev. Kurzentrums Gode Tied,
was für ein wunderbarer Anlass: 50 Jahre Gode Tied – 50 Jahre Leben. Jeden Tag. Jeden Tag Lachen, Tränen, Erschöpfung, Himmelsmomente.
Und was für ein wunderbarer Text aus dem Buch der Psalmen, den wir gerade in der Lesung gehört haben und der heute über unserem Fest steht: Psalm 36. Eine Lobpreisung Gottes in überwältigenden Bildern.
Ich möchte einige dieser schönen Worte gern ins Gespräch bringen mit dem ganz schnöden Alltag. Also dem, was unser Leben ist. Mit dem, was Mütter, Kinder – und Väter! – tagtäglich tragen und nicht zu selten – ertragen.
„HERR, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist.“
Und wie weit reicht meine Güte, wenn ich grad in der Wohnung einigermaßen Klarschiff gemacht habe. Dann kommen die Kinder nach Hause und Schuhe, Jacken, Taschen und Dreck ziehen Spuren des lebendigen Lebens durch Flur und Wohnzimmer.
Noch immer sind es in Deutschland zum großen Teil die Mütter, die die Last der Care-Arbeit tragen.
Und die gesellschaftlichen Ansprüche daran, wie ein gelingendes Leben zumindest von außen aussehen sollte, steigen. In einem gelingenden Familienleben sind die Schubladen natürlich mit Methode sortiert und für jede Jacke und jeden Schuh gibt es einen Platz. Kinder eskalieren nicht und die Hausaufgaben sind immer gemacht.
Und ich scheitere nicht morgens am Design des Brotdoseninhalts, weil mittlerweile Inhalt, Farbenvielfalt und Fülle des Brotdoseninhalts während der Frühstückspause in der Klasse durchaus zum Kriterium dafür gemacht wird, wie lieb Mama einen eigentlich hat.
Und meine eigene Güte, da spreche ich jetzt nicht als Bischöfin, sondern als Mutter, reicht dann nur sehr selten bei unserem Grundschulkind bis dahin, dass ich die Butterbrote auch wie die Mama von Jackson in Sternchenform aussteche, sondern ich packe das Brot als Brot in die Dose. Weil das früher doch auch niemanden umgebracht hat. Um es mit großer Sicherheit in genau diesem Zustand mittags wiederzubekommen.
Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist.
Und wie schön und heilsam ist es, wenn es Orte hier am Meer gibt, in denen diese Güte himmelsweit ist. Und Mütter loslassen können und sollen: Die Ansprüche, die perfekten Brotdosen und aufgeräumten Wohnungen. Die Anspannung und den Erfolgsdruck.
Und, nicht zu vergessen: Kinder auch! Denn auch Kinder haben ein stressiges Leben. Sie müssen funktionieren. Schnell sein. Manchmal schneller, als es ihnen gefällt. Anziehen, Zähne putzen, Hausaufgaben, nicht streiten, vor allem: nicht die Taktung der Erwachsenen stören. Und damit umgehen, dass die Erwachsenen nicht immer die Güte in Person sind, weil sie ihre eigenen Pläne und ihre eigenen Sorgen haben. Und Kinder feine Sensoren dafür haben, wie es Mama oder Papa gerade geht.
Dieser Psalm, dieses uralte Gebet, öffnet uns den Horizont. Er weitet den Blick.
Und genau das ist es, was Menschen hier seit 50 Jahren erleben durften:
Erst einmal. Atem holen. Ankommen.
Schlafen. Und wissen, dass das Kind in guten Händen ist.
Mich aufrichten, um den Blick zu weiten, kann ich eben erst, wenn ich mich nicht mehr um das kümmern muss, was mir unmittelbar vor den Füßen liegt.
Den Blick weiten. Damit ich spüren kann, dass ich angesehen werde. Von Gott. Mit liebendem Blick.
„Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben.“
Zufluchtsorte. Wo sind Ihre Zufluchtsorte? Und wo waren diese Orte, als Sie Kind waren? Kinder haben häufig Höhlen. Betthöhlen, Höhlen aus Sofakissen und Decken, Höhlen unter Büschen oder auf Bäumen. Bei mir waren es Abseiten auf dem Dachboden.
Sich verkriechen an einem sicheren Ort.
Wo aber verkriechen wir Erwachsenen uns? Wo sind sie, unsere Zufluchtsorte? Wo dürfen wir unsere Verletzlichkeit zeigen und die Risse in unserer Seele? Wo darf sein, was in eine Welt voller medial perfekt inszenierter Lebensentwürfe nicht reinpasst?
Wo hat mein Scheitern Platz und wo meine Fragen.
Ich weiß, Gode Tied ist für unzählige Frauen zu so einem Zufluchtsort geworden. Zu einem Schutzraum. Und ist es bis heute. Vielleicht auch – zu einem Ort, an dem sie Gott begegnet sind. Ganz neu oder zum ersten Mal.
Zufluchtsorte. Wir brauchen sie. Dringend. Wir alle brauchen sie.
Weil es eben nicht möglich ist, immer und jederzeit voll im Wind zu stehen.
Weil wir den Alltagspanzer, der uns hilft zu funktionieren, auch mal ablegen müssen.
Weil es auch in uns verletzliche Seiten gibt, die Schutz brauchen.
Gott schenkt uns diesen Raum.
Und ich bin sicher: Auch Gode Tied eröffnet immer wieder Zeit und Raum genau dafür. Dass Menschen Gottes Flügel über sich spüren – manchmal auch ganz leise, durch ein Gespräch, durch ein Lied, durch einen Blick oder eine Stille.
„Sie werden satt von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkst sie mit Wonne wie mit einem Strom.“
Satt werden.
Gerade Mütter stellen sich selbst häufig ans Ende der Nahrungskette. Essen das, was übrigbleibt. Oder dann, wenn alle anderen satt sind. Meine Schwiegermutter hat 6 Kinder großgezogen und auch jetzt im Alter kann sie es kaum ertragen, sich mit an den Tisch zu setzen. So sehr ist das Sich-Kümmern um die anderen, das Räumen und Abräumen in ihre DNA übergegangen …
Der Psalm stellt dem gegenüber: Satt werden. Genug zu trinken haben. Nicht einfach schnödes Wasser, sondern: Wonne. Wonne trinken. Freude, Leichtigkeit. Genährt werden an Leib und Seele.
Auch das ist Gode Tied: Ein Ort zum Sattwerden. An Leib und Seele.
Sattwerden. Ganz praktisch: Essen, ohne dafür einkaufen zu gehen, zu kochen, abzuwaschen. Sich einfach an den gedeckten Tisch setzen.
Sattwerden. Ganz praktisch: Weil mir jemand zuhört. Sich Zeit nimmt. Mich jemand sieht. Mein Leben, wie es ist. Meine Einsamkeit, weil ich eigentlich nur noch funktioniere.
Sattwerden. In einer unersättlichen Zeit ist das von hohem Wert. Wo sich Menschen in Süchte flüchten, weil ihre Sehnsucht so unersättlich ist und niemand sie stillt.
„Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Licht sehen wir das Licht.“
Was für ein Schlusssatz.
Hier ist nicht nur von Wasser die Rede, sondern von Quelle – vom Ursprung.
Bei Gott beginnt das Leben – wirkliches, erfülltes Leben.
Bei ihm finden wir, wer wir wirklich sind.
Und: In seinem Licht erkennen wir das Licht.
Viele Menschen, die hierher kommen, sind am Rand ihrer Kräfte. Haben Dunkelheit erlebt – Krankheit, Einsamkeit, Überlastung, Lebensbrüche.
Viele haben vielleicht gar nicht viel erwartet von ihrer Zeit hier. Aber dann haben sich doch Dinge neu geordnet. Haben sie einen Funken Licht gesehen – nicht, weil plötzlich alles gut war, aber weil Gott da war.
Liebe Gemeinde,
ich höre diesen wunderbaren Psalm wie einen Spiegel dessen, was hier seit 50 Jahren an segensreicher hilfreicher Arbeit geschehen ist – und als einen Wegweiser für die Zukunft.
Denn auch wenn sich Zeiten ändern, Strukturen wandeln und Aufgaben neu verteilt werden, vieles bleibt.
Unsere Sehnsucht bleibt. Die Erschöpfung, die überhöhten Ansprüche, unsere Liebe.
Vor allem aber: Die Quelle bleibt. Der Gott, der Zuflucht schenkt, bleibt.
Seine Güte reicht so weit der Himmel ist – damals, heute und auch morgen.
Zum 50. Jubiläum sagen wir heute:
Danke, Gott. Für deine Güte, deine Nähe, deine Kraft.
Und wir bitten:
Lass Gode Tied weiterhin ein Ort sein, wo Menschen unter deinen Flügeln Zuflucht finden, satt werden an deiner Fülle und aus deiner Quelle leben.
Amen