„Ich nicht – du bist schuld!“

Predigt im Gottesdienst „Greifbar“

25. April 2004 von Hans-Jürgen Abromeit

Warum fällt es uns eigentlich so schwer zu sagen: „Jawohl, diesen Bockmist habe ich verschuldet. Es tut mir ausgesprochen leid; ich bitte um Entschuldigung!“ Daran leiden unsere Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen, dass wir nicht wissen, wie wir einen neuen Anfang machen sollen. Warum fällt uns der erste Schritt so schwer? Warum fällt es so schwer, zu seiner eigenen Schuld zu stehen?

Wir haben es in dem Theaterstück gesehen: Da wissen zwei nicht, wie sie einen neuen Anfang machen können und leben damit, dass ihre Beziehung dem Untergang zutreibt. Ja, manchmal ist es so, dass Menschen sich und andere zu Grunde richten, weil sie die Schuld immer nur bei den Anderen sehen und nicht bei sich. Und dieses innere Gesetz scheint in einem Jeden von uns zu liegen. Wir wollen die Schuld möglichst bei jemand Anders suchen.

Darf ich Sie heute Abend einmal fragen: Fällt es Ihnen leicht, zu Ihrem Schatten zu stehen, das Dunkle in Ihrem Leben zu akzeptieren? Oder gehören Sie auch zu denen, die den Schatten verdrängen und das Dunkle unterdrücken? Warum uns die Größe fehlt, zu unserer Schwäche zu stehen, erhellt eine Geschichte, die ich Ihnen gern erzählen möchte. Für mich ist es eine der phantastischsten und klarsten Geschichten, in denen das Geheimnis des Menschen zum Ausdruck kommt. Wahrscheinlich kennen Sie diese Geschichte. Vielleicht wissen Sie aber nicht, dass diese Geschichte von uns, von Ihnen und von mir handelt. Denn die Hauptpersonen dieser Geschichte haben Namen und das sind nicht unsere Namen. Und doch sind wir gemeint. Diese Geschichte ist eine der bekanntesten aus der Bibel. Eigentlich ist es auch gar keine richtige Geschichte, sondern ein Theaterstück. Es ist wie mit unserem Leben: Wir alle spielen Theater. In diesem Stück gibt es zwei Hauptpersonen: Die Geschichte erzählt von zwei Menschen, einem Mann und einer Frau. Der Mann heißt „Adam“. Aber man müsste eigentlich hebräisch können, um zu verstehen, was damit gemeint ist. „Adam“ ist kein Eigenname; „Adam“ heißt im Hebräischen „Mensch“. Eva heißt: „Mutter alles Lebendigen.“ Es gibt nichts, was lebt, das nicht von einer Frau geboren wäre. Unsere Geschichte meint darum nicht irgendeinen Menschen, irgendwann einmal, sondern sie möchte etwas aussagen über alle Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort. Darum kommen Sie und ich darin vor. –

Zuerst wird erzählt, woher der Mensch kommt und wozu er da ist: Gott hat uns geschaffen, um die Welt zu „bebauen und zu bewahren“. Gott in seiner Kreativität hat es gefallen, den Menschen dazu als Mann und Frau zu schaffen. Gott gefiel die Schöpfung so und den Menschen gefiel es auch. Als Gott dem Mann die Frau zuführte, brach der Mann in Jubel aus. Dieser erste Akt des Schauspiels schloss dann so:

„Und sie waren beide nackt,
der Mensch und seine Frau
und sie schämten sich nicht!“ (1. Mose 2, 23) -

 Dann fällt der Vorhang. Der letzte Eindruck, der uns bleibt, ist eine schamlose Freude. Doch danach geht es weiter. Wie in einem Theaterstück geht der Vorhang wieder auf zum zweiten Akt: Da wird erzählt, wie Adam und Eva versucht werden. Wer versucht wird, meint im Leben zu kurz zu kommen.

In unserem Stück ist es ganz deutlich: Es gibt das Böse. Dafür steht die Schlange.
Sie wird öfter auch als Symbol des Teufels verstanden. J
eder wäre ein Phantast, der die Realität des Abgründigen, des Dunklen und der Schatten in dieser Welt verleugnen und verdrängen würde. Es ist nämlich eine teuflische Eigenschaft, Gott klein zu machen. So sagt die Schlange:

„Ja, sollte Gott gesagt haben,
ihr sollt von keinem Baum
im Garten essen?“

Nein, so kleinlich kann ja Gott wirklich nicht sein! Von keinem Baum im Garten? So antwortet die Frau:

“Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;
aber von den Früchten des Baumes Mitten im Garten
hat Gott gesagt: ‚Esset nicht davon -
rühret sie auch nicht an -,
dass ihr nicht sterbet!’“

Wer den Versucher kennt, der weiß, der Kampf ist schon verloren! Bei dem Versucher darf man sich auf keine Diskussion einlassen! Die verliert man nämlich immer. Eva hat gelogen. Gott hatte nichts davon gesagt, dass der Baum nicht angerührt werden sollte. Eva ist sich im Grund schon nicht mehr sicher, ob das Gebot Gottes richtig ist, darum macht sie das Gebot etwas größer und Gott etwas kleiner. Nein – nicht nur „nicht essen“: - gar nicht anrühren!“ Sicher ist sicher!

Der Versucher hat immer das letzte Wort:

„Ihr werdet keineswegs des Todes sterben,
sondern Gott weiß: An dem Tage, da ihr davon esset,
werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein
wie Gott und wissen, was gut und böse ist!“

Das ist der Anstoß zur Sünde: Gott enthält euch etwas vor. Wo ein Mensch glaubt, Gott gönnt mir etwas nicht, da ist die Gemeinschaft mit Gott bereits zerbrochen. Wer Gott für kleinlich hält, der ist bereits der Versuchung erlegen!

Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre
und dass er eine Lust für die Augen wäre
und verlockend, weil er klug machte.

Die Fortsetzung kann sich jeder denken: Gut zu essen, eine Lust für die Augen, verlockend …

Und sie nahm von der Frucht
und aß und gab ihrem Mann …
und er aß.

Nun ist es geschehen! Der Mensch hat sich auf die schiefe Bahn der Sünde begeben. Er hat sich gegen die Autorität Gottes auflehnt. Er wollte nicht Gott seinen Herrn sein lassen, sondern er wollte sein eigener Herr sein. Der Mensch will nicht Gottes guten Willen für sich akzeptieren, sondern seinen eigenen Willen durchsetzen. Und das ist die Sünde. Nun ist die durch die Schöpfung und Ordnung Gottes gestiftete Gemeinschaft zerbrochen. Sünde heißt: Die Gemeinschaft mit Gott ist zerstört. Aber auch die Gemeinschaft der Menschen ist gestört.

Das ist die Tiefe unserer Beziehungskrisen. Weil die Gemeinschaft mit Gott gestört ist, geraten auch unsere menschlichen Beziehungen aus dem Lot.

Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan,
und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren.

Hier fällt der Vorhang. Und Geschichte der menschlichen Schuld hat begonnen. Diesmal bleibt lediglich ein abgegessener Apfelrest auf der Szene, aber schon der nächste Akt schließt mit einer Leiche in einer Blutlache.

Nun Vorhang auf zum Zweiten Akt, zweite Szene: Die Verantwortung

Die Personen: Gott, der Herr; Adam, der Mensch schlechthin, und Eva, seine Frau.

Und die Menschen hörten Gott, den Herrn,
wie er im Garten spazieren ging,
als die Abendkühle hereingebrochen war.
Und Adam versteckte sich mit seiner Frau
vor dem Angesicht Gottes unter den Bäumen im Garten.

Da hocken die Kumpanen im Gebüsch und verstecken sich vor dem Angesicht Gottes.

Und Gott, der Herr, rief Adam und rief zu ihm:
„Wo bist du?“ Und der Mensch antwortete ihm:
„Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich;
denn ich bin nackt, darum verstecke ich mich.“

Welch ein Szenenwechsel! Gerade noch die schamlose Freude von Mann und Frau aneinander – nun die sich vor Scham verzehrende Furcht voreinander und vor Gott. So kann die Schuld die Verhältnisse ändern!

Und Gott sprach: „Wer hat dir gesagt,
dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen,
von dem du nicht essen solltest?“
Da sprach Adam: „Die Frau, die du mir gegeben hast,
die gab mir von dem Baum, und ich aß.“
Da sprach Gott, der Herr, zur Frau:
„Warum hast du das getan?“
Die Frau sprach:
„Die Schlange betrog mich, so dass ich aß!“

Jeder kennt solche Dialoge. „Ich bin nicht schuld, du bist schuld!“

„Ich bin nicht schuld, sie ist schuld – oder auch nicht eigentlich sie, sondern du. Du hast sie mir gegeben, also bist du Schuld! – Also: Wie konntest du mir überhaupt die Frau geben? Du hättest dir doch denken können, dass das schief geht!“

Die zwei Möglichkeiten, wie Menschen versuchen, ihre Schuld loszuwerden, sind bis heute die gleichen geblieben. Entweder: Gott ist schuld! Nicht ich, nicht wir, nein, Gott ist schuld, wenn Kriege ausbrechen und grausam Menschenleben fordern. Gott hat Schuld an Auschwitz, nicht wir. – Die Frage heißt dann: „Wie kann Gott das zulassen? Wie kann Gott zulassen, dass gerade in meiner Familie so viele schreckliche Krankheiten auftauchen?“

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Es gibt eine erlaubte Frage der Verzweiflung, die man nur Gott stellen kann: „Wie konntest du das zulassen, dass der kleine Junge unter das Auto kam? Wie konntest du das zulassen, dass dieses Schreckliche passierte … dass diese Krankheit mich traf?“

Liebe Freunde, für Auschwitz, für die Kriege auf dieser Welt, auch für die aktuell tobenden im Irak, in Tschetschenien, für das Morden im Kosovo oder in Ruanda, für all den Unfrieden auf dieser Welt, da sind wir, wir Menschen verantwortlich. Und auch bei mancher Krankheit, die uns befällt, sollten wir uns erst einmal fragen: Haben wir sie nicht selbst verschuldet mit unseren Lebensgewohnheiten, mit unserem Essen und Trinken, mit dem Rauchen, mit der Angewohnheit, eine Unmenge von Tabletten in uns hineinzustopfen?
Trotzdem gibt es viel Tragik, die sich nicht erklären lässt.
Aber es kommt zuerst darauf an, zu seiner eigenen Schuld zu stehen, sie einzugestehen, und sie nicht abzuschieben auf Gott oder – und das ist ein zweiter beliebter Weg – auf die Verhältnisse. Während der Mann die Schuld auf Gott abschiebt: („Die Frau, die du mir gegeben hast ...“), bezichtigt die Frau die Verhältnisse: „Die Schlange betrog mich, so dass ich aß! – Was kann ich dazu, dass es im Paradies Schlangen gibt? Die Verhältnisse sind eben so! Die Gesellschaftsstruktur des Paradieses bringt mit einer regelmäßigen Gesetzmäßigkeit Übertretungen des Gebotes Gottes hervor. Nun können wir uns höchstens darüber unterhalten, wie wir die Strukturen ändern, wie wir die Schlange aus dem Paradies herausbekommen. Aber nun die Schuldfrage zu stellen, ist geradezu unanständig, denn nicht ich bin schuld, sondern die Verhältnisse!“

Natürlich gibt es Gesellschaftsstrukturen, auch unter uns, die Übertretungen der Gebote Gottes hervorrufen. Ja, es gibt Verhältnisse, die geradezu schuldig werden lassen. Gerade das will unsere Geschichte ja auch sagen: Dass die Versuchung von außen an den Menschen herantritt. Aber das ist keine Entschuldigung: Die Sünde ist unsere freie Tat, nicht die Folge äußerer Zwänge. Wir haben die Sünde gewollt, sie ist nicht über uns hereingebrochen: „Gut zu essen… Eine Lust für die Augen … Verlockend, weil sie klug macht…“ Wir haben die Sünde gewollt! Darum sollten wir endlich aufhören, so zu tun, als sei es Zufall, dass wir Sünder sind! Nicht die anderen, nicht Gott, nicht die Verhältnisse sind schuld, sondern wir. Diese „Haltet den Dieb“ - Methode mit der eigenen Schuld fertig zu werden, ist doch lächerlich und eines erwachsenen Menschen unwürdig!
Dabei wäre das Eingeständnis unserer eigenen Schäbigkeit der erste Schritt in die Freiheit! Doch wir spielen dieses alte Theaterstück immer weiter. Uns fällt auch nichts Neues ein: „Ich bin nicht schuld, du bist schuld, die Verhältnisse sind Schuld!“ – Und Sie und ich, wir spielen mit.

Nur einer, der hat nicht mitgespielt. Nur der eine Mensch Jesus Christus hat sich verweigert. Er hat das alte Stück umgeschrieben. Weil er für uns gelitten hat, gestorben und auferstanden ist, können wir aus der Geschichte der Schuldverdrängung aussteigen. Er hat unsere Schuld auf sich genommen, damit wir uns zu unserer Schuld bekennen können. Er hat gesagt: Ich stehe zu dir, damit du auch zu dem Dunklen in deinem Leben stehen kannst. Ja, habe den Mut und sage zu deiner Frau, zu deinem Mann, zu deinen Kindern oder wem auch immer: „Ja, ich war es, ich stehe dazu, ich will mich nicht länger verstecken!“

Die Wirkung wird ungeheuerlich sein: Es wird für Sie befreiend sein, Sie finden einen neuen Zugang zu Ihren Mitmenschen. Es wird der erste Schritt, damit Ihre Beziehungen heil werden.

Es beginnt mit dem Eingeständnis unserer Schuld, unserer eigenen Schäbigkeit. Es geht weiter, wenn wir akzeptieren, dass die Strafe, die wir verdient hätten, nun auf Christus liegt, damit wir Frieden hätten. Diesen Frieden können wir dann mit anderen Menschen leben.

Lassen Sie mich am Schluss noch eine Geschichte erzählen, an die ich heute oft denken muss. Sie geschah am Strand von Netanya in Israel. Einige meiner Bekannten wurden Zeugen, wie eine israelische Militärstreife einen Araber misshandelte. Zwei, dreimal traf ihn ein Schlag mit dem Gewehrkolben – ohne ersichtlichen Grund. Ein rumänischer Jude, der viel unter uns Deutschen gelitten hatte, beobachtete das auch. Er musste wohl gemerkt haben, dass die anderen Zeugen dieser Episode Deutsche waren, denn er lief zu ihnen hin und rief vor Scham erregt auf Deutsch: „Das lag damals nicht an den Deutschen, und es liegt heute nicht an den Israelis oder den Arabern, sondern da ist etwas Böses im Menschen und das bricht hervor!“

Nein, es liegt nicht an den Völkern. Es liegt an jedem einzelnen. Er ist verantwortlich für seine Tat! Und das Böse im Menschen, das immer wieder hervorbricht, wird nur überwunden von dem Mann, der sein Leben für andere gegeben hat. Wenn er das Böse und den Bösen nicht besiegt hätte, es gäbe keine Hoffnung mehr. Aber nun hat Jesus das Böse besiegt und darum gibt es Hoffnung, Hoffnung auch für ein liebendes Miteinander.

Das Geheimnis des Menschen liegt darin, dass keiner von uns ohne Schatten ist. Mit diesem Geheimnis zu leben und es mit Jesus Christus zu teilen, befähigt zu einem: „Ich bin schuld – Entschuldigung!“
Amen. So ist es.

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