Predigt im Gottesdienst zur Einführung in das Amt des Leitenden Bischofs der VELKD
07. November 2011
Liebe Festgemeinde, Liebe Schwestern und Brüder! Die Tatsache, dass die Lutherischen Kirchen das Reformationsfest seit Jahrhunderten (genauer: seit 1667) jedes Jahr am 31. Oktober, also an dem Tag der Veröffentlichung von Martin Luthers 95 Thesen feiern, ist schon ein wichtiges Signal: Es geht uns nicht um den Kult um eine Person, sondern es geht um die befreiende Wahrheit der reformatorischen Lehre für alle Christenmenschen: Es geht um die befreiende Wahrheit der Heiligen Schrift, die wir nie hinter uns – sondern immer vor uns haben.
Ich lese aus dem Evangelium nach Matthäus im 10. Kapitel einen der Predigttexte für das Reformationsfest. (Matthäus 10, 26 – 33):
„Fürchtet euch nicht … Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird.
Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.
Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.
Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt.
Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge.
Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.
Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“
I
Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Reformationstag – ich kann nicht anders … als denken an den alljährlich zwangsweise zu begehenden Reformationstag damals in meiner Schule Mitte der 60iger Jahre in Rahlstedt, einem Stadtteil von Hamburg: Alle Klassen hatten anzutreten in Zweierreihen. In Zaum gehalten von eher mürrischen Lehrern ging´s zur alten Rahlstedter Kirche; wer absolut nicht mit wollte, musste in der Schule bleiben und Unterricht machen – und das wollte freiwillig keiner. Also: Ab in die Kirche, hinein in die Bänke gequetscht. Ein Pastor, der sich ganz offensichtlich der Herausforderung stellen wollte, vor die er sich gestellt sah – wie hatte Jesus doch gesagt: „Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Zumindest für den Pastor stand also einiges auf dem Spiel. Ich kann mir nicht helfen – in meiner Erinnerung sprach er zu uns zwangsweise rekrutierten jungen Menschen nach der Devise: Viel Feind – viel Ehr´… Ein Prediger, dessen Predigt nicht tot langweilig war, sondern schlimmer noch: Die Predigt war tot krank, weil deutlich spürbar war, dass der Mann seine Zuhörer nicht mochte: Wir waren ja die furchtbaren Schüler und Schülerinnen, die irgendwie gebändigt werden mussten, die Widerstand leisteten den Worten des Pastors, die sogar nachfragen wollten – ja, wer weiß, die möglicherweise an´s Licht wollten mit ihren Ängsten und Hoffnungen, von denen sie umgetrieben wurden in dieser Phase ihres Lebens.
Dazu, liebe Schwestern und Brüder, selbstverständlich „Ein feste Burg ist unser Gott…“ – intoniert als ein Stakkato der Ängstlichen. War es vielleicht vor allem die Angst vor uns – dem Schülerhaufen? Nun, im Rückblick jedenfalls wird man sagen müssen: Es ereignete sich alle Jahre wieder ein homiletischer GAU.
Ach ja, ich muss am Reformationstag immer denken an solche Veranstaltungen in einer zwar überfüllten, aber eben doch leeren Kirche: Da war keine Liebe Gottes spürbar, keine Wolke der Herrlichkeit, kein Raum für die befreiende Macht des Evangeliums. Ich jedenfalls kann für mich nur sagen, dass ich zu meinem großen Glück Jahre später noch ganz andere Erfahrungen machen durfte mit ganz anderen Menschen, die tatsächlich für mich geradezu lebensrettend redeten und handelten mit den Worten, die Jesus von den Dächern gerufen haben wollte.
Dass alles offenbar werden musste – das war doch auch in mir als jungem Menschen eingewurzelt. Diese Sehnsucht nach Klarheit, Entrümpelung der verlogenen Gesellschaft, nach Gerechtigkeit. In meiner Zeit am Theater in Hamburg waren mir darum jene am liebsten, die das in Dramaturgie gegossen hatten: Bert Brecht, der uns Schauspieler gelehrt hatte, dass man über diese Welt nur reden könne als über eine der Erlösung bedürftigen Welt; das politische Theater um Peter Weiss mit seinem „Vietnam-Diskurs“ und Rolf Hochhuth mit seinem „Stellvertreter“. Und auf die Spitze getrieben von Peter Handke mit seiner „Publikumsbeschimpfung“ - das haben wir gemacht, gerufen von der Rampe des Theaters in die Gesichter der Gesättigten, furchtbar Furchtlosen - die nach der Pause nicht wieder auf ihren Plätzen erschienen.
Und ich weiß seitdem: das Offenbar-Werden, das Offenbar-Machen ist noch kein Wert an sich. Eine Befreiung geschah für mich erst, als ich spürte, dass das Offenbar-Werden immer ein Doppeltes ist: Das wird erst Offenbarung, wenn zugleich offenbar, hörbar, sichtbar und glaubbar wird Gottes Liebe, Gottes Geschichte mit der Welt. Das „Fürchtet euch nicht“ ist nur im Zusammenhang mit der Gottesfurcht eine befreiende Kraft.
Ich bin dankbar für die vielen furchtlosen Gottesfürchter an meinem Lebensweg, die mich gelehrt haben, hinzuschauen, den Mund aufzutun und die Hände. Die mich ermutigt haben, gewiss zu sein, dass wirklich Furcht nicht ist, wo Gott selbst hörbar ist: Es geht die Welt nicht auf in dem, was mir die Stimme verschlägt und den Atem raubt. Da ist einer, der hält seine Hand über mir. Nicht Publikumsbeschimpfer, aber sehr wohl liebevoll Offenbarender.
II
Darum, liebe Schwestern und Brüder, ist und bleibt der Gottesdienst das Zentrum alles kirchlichen Lebens. Das Dach, von dem der Ruf erschallt und hinaus geht in die Welt. Wir Christenmenschen richten uns miteinander aus auf Gottes Wort und Sakrament, damit sich für uns ereigne, was Martin Luther auf die Formel gebracht hat, es sei die Aufgabe der Christenmenschen, jeden Tag neu „den Glauben in´s Leben zu ziehen.“
Ganz sicher nicht zufällig überliefert Matthäus die Worte unseres Predigttextes innerhalb der so genannten „Aussendungsrede“ an die Seinen: Bei allen Nöten und Gefahren, die sicher kommen werden, gilt: von Gottes Wort regierte Herzen regieren die Welt anders: mit Liebe, zur Freiheit, barmherzig. Solche Herzen sind unruhige Herzen, die sich nicht zufrieden geben mit dem, was immer schon so war. Die wissen und glauben: nicht müssen bleiben Hass und Verfolgung; Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich ist nicht gottgewolltes Schicksalsgefüge, sondern von Menschen entfachter Irrsinn; das Recht der Starken gegen die Schwachen ist nicht der Weg des göttlichen Heils, sondern menschlicher Irrweg; der Wert des Menschen und seine Würde hängen nicht ab von Leistung und Reichtum, Schönheit und Klugheit! Das Wort Gottes selbst will frei machen von Zwängen. Frei machen, indem es offenbart beides: die Realität der Welt und die Realität Gottes in ihr.
„Fürchtet euch nicht“ – das heißt ja nicht: es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Den gibt es sehr wohl: ein außer Rand und Band geratener Markt macht Angst;Diktatoren, die auf ihr eigenes Volk losgehen, machen Angst. Nicht wissen, ob der Lohn für die eigene Arbeit zum Leben reicht, macht Angst.
Fürchte dich nicht, heißt: schau hin, ruf es von den Dächern, was Gott will; sieh hin, wie er sich stellt an die Seite der Armen und Schwachen, der Elenden Stimme ist.
Dass offenbar wird, dass nicht verborgen bleibt das Schreckliche, ist eine Befreiung, wenn zugleich gewiss ist, dass offenbar wird der Wille Gottes, sein liebevolles Wort, das zurechtbringt.
III
Liebe Schwestern und Brüder, ihr habt einen Bischof zum Leitenden Bischof der VELKD gewählt, der herkommt und sich weiter bestimmen lassen wird von der mich umstürzenden Erfahrung, die ich immer wieder neu mache:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. – Und: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ So schreibt Martin Luther 1520.
Der Christenmensch lebt in Christus durch den Glauben und im Nächsten durch die Liebe. Weil Gott uns zuerst liebt – nicht weil wir so tolle Leute sind, sondern obwohl wir Leute sind mit Schwächen und Makeln und Fehlern. Das ist der Grund der Freiheit. Und diese Freiheit wächst aus der Bindung an Gottes Wort, aus dem Glauben, dass diese Macht mächtig ist. Darum gehören Freiheit und Verantwortung zusammen. Ein Freiheitsbegriff, der sich löst von der Verantwortung, kehrt sich in sein Gegenteil – unsere Geschichte hat das gezeigt!
Darum, liebe Schwestern und Brüder, ist der Glaube, der sich auf Christus beruft, nicht Privatsache, sondern eine öffentlich Angelegenheit und eine Angelegenheit, die sich um die öffentlichen Dinge, um das Gemeinwohl kümmert: Sie lässt sich nicht einsperren zur Pflege des frommen Ich sozusagen; sie ist nicht etwas, das nichts zu suchen hätte in der Gesellschaft. Gottes Zuspruch und Anspruch führen jene, die glauben, über sich selbst hinaus.
Der Glaube, der die Realität der Welt sieht und die Gottes darin gleichermaßen, führt zu der Tat des Friedens, in den Widerspruch gegen Ungerechtigkeit, in die Konfrontation mit dem wieder aufstehenden Hass gegen alles Fremde. Noch einmal Martin Luther: „Nicht gute Früchte machen den guten Baum, sondern der gute Baum trägt gute Früchte!“
Hier bei uns werden Gott sei Dank Christen nicht verfolgt wegen ihres Glaubens. Aber woanders in dieser Welt gehen Menschen aufeinander los, indem sie sich auf Gottes Wort berufen. Wir sehen in Libyen, in Somalia, an vielen Orten dieser Welt, wohin der Weg der Friedlosigkeit und Unbarmherzigkeit, wohin Gnadenlosigkeit und Fundamentalismus führen: in Verfolgung, Hunger, Flucht und Tod. Und auch in unserer nordelbischen Partnerkirche in Indien, in der kleinen Jeypore-Kirche, habe ich das bei einem Besuch in den letzten Wochen deutlich zu spüren bekommen.
Also wir wissen: Es kann uns nicht egal sein, was mit Schwestern und Brüdern auf der Welt geschieht: was wir hier tun oder lassen, hat Folgen auf der anderen Seite der Welt. Wie wir hier leben, beeinflusst das Klima jenseits des Äquators.
Die gesamte Verkündigung Jesu redet davon, dass die Nähe zu Gott selbst sich auch bestimmt von unserer Antwort auf die Nähe Gottes zu uns! Himmel und Erde kommen zusammen, wo Menschen aufstehen, den Mund auftun und die Hände und die Herzen. Wo sie nicht nur um des eigenen Vorteils willen ihre Entscheidungen treffen, sondern weil sie den Nächsten im Blick haben, den Bruder, die Schwester. Zur Reformation in die Nähe Gottes hinein sind wir gerufen im Gedenken an die Reformatoren.
IV
Liebe Schwestern und Brüder, die Reformation ist, so verstanden, ein doppelter Ruf nach vorwärts: Nämlich Kirche auf dem Weg hinein in die Heilige Schrift – und Kirche auf dem Weg hinein in die Welt. Das ist die Sendung, die uns von der Freiheitsbotschaft infizierte Christenmenschen aufgegeben ist. Und welch eine Freude ist es da, dass wir diesen Weg in der ökumenischen Weite gehen können, die zum Glück schon lange zu unserer Konfessionsfamilie dazu gehört und die sich auch heute in diesem Gottesdienst zeigt: Die Kirche der Zukunft wird eine ökumenische Kirche sein – oder sie wird gar nicht Kirche sein. Diesen prophetischen Ruf von Ernst Lange werden wir nicht wieder los werden, da bin ich gewiss. Denn in der Ökumene, in dieser Weite der Bindung an das Bekenntnis, an das Wort; in der Gemeinschaft der versöhnten Verschiedenheit: Da wird offenbar, bleibt nichts geheim: die Realität der Welt nicht und nicht die Realität Gottes in ihr. Hier wird offenbar, das diese Welt nicht aufgeht in dem, was wir sehen, greifen, begreifen.
Wir in den Gliedkirchen der VELKD mit all´ unseren historisch gewachsenen Partnerschaften zu den lutherischen Kirchen weltweit, werden weiter eine fröhliche, weil unseres Auftrags gewisse Schar bleiben von Christenmenschen in ihrer je eigenen „Provinz der Weltchristenheit“. Was uns in das Ohr gesagt wurde, das werden wir weiter von den Dächern rufen in alle Welt. Und wir werden staunen über die vielen bunten Vögel in unserer Konfessionsfamilie – und hoffentlich auch über so manchen schrägen Vogel in der eigenen Schar. Solange allein das Wort Gottes weiter laut wird von den Dächern und neu findet die Ohren der Leute. Das eine Wort: „Fürchtet euch nicht! Schaut allein auf Christus – den Gekreuzigten und Auferstandenen!“
Amen.